Arme Berliner werden an den Stadtrand verdrängt

Eine Datenerhebung des RBB zeigt, dass die Verdrängung einkommensschwacher Bewohner der Hauptstadt sich immer weiter fortsetzt und dadurch immer mehr arme Berliner am Stadtrand eine neue Bleibe zum Überleben suchen müssen.

Eine exklusive Datenerhebung des Senders rbb24 hat ergeben, dass laut Auskünften der Arbeitsagentur Berlin für die rbb24-Rechercheredaktion immer weniger Hartz IV-Empfänger in der Innenstadt mit ihrem Wohnsitz gemeldet sind, dagegen signifikant mehr in den Außenbezirken – wie etwa in Reinickendorf und Spandau, beide im Westteil der Bundeshauptstadt liegend, und in Marzahn-Hellersdorf am Ostrand. 

Die Statistik auf einer Webseite von rbb24 zeigt die Veränderungen und jüngste Dynamik der "Gentrifizierung", also schlicht der Verdrängung von einkommensschwachen Bürgern aus der Innenstadt:

Verfügbare Daten über Armut, Arbeitslosigkeit, Einkommen und Bildung werden laut Darstellung in dem rbb24-Beitrag regelmäßig von verantwortlichen Politikern ausgewertet. Im Verwaltungsdeutsch werden einige prekäre Stadtbereiche verharmlosend "Gebiete mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf" genannt. Davon existieren laut Statistik aktuell 30 in Berlin. In fünf dieser Gebiete, so der Beitrag, liegt die Kinderarmut seit Jahren deutlich über 60 Prozent, zum Teil über 70 Prozent. Genannt werden der Schulenburgpark (nahe der Sonnenallee in Neukölln), Maulbeerallee (Spandau), Treptower Straße Nord (Rixdorf im heutigen Neukölln), Weiße Stadt (Reinickendorf, nicht Weiße Siedlung in Neukölln) und die Rollbergesiedlung (ebenfalls in Reinickendorf, nicht Rollbergsiedlung in Neukölln) mit fast 6.000 Einwohnern.

In der Theorie des Berliner Senats besitzen diese Gebiete "Grünanlagen zur Aufwertung der Wohnlage, intensive soziale Unterstützung und gute Ausstattung der Schulen". Doch laut rbb24-Recherchen sieht die Realität, zum Beispiel in der Rollbergesiedlung, vollkommen anders aus: "Es gibt kaum Kita-Plätze, zu wenig Sprachkurse für Migranten, keine Mieterberatung, der Jugendclub ist personell unterbesetzt, ebenso die Schule."

Konfrontiert mit neuesten Zahlen reagierte Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) mit der lapidaren Feststellung:

"Wir müssen was tun. Mit unserem Quartiersmanagement wollen wir dafür sorgen, dass wir Angebote in die Kieze bringen, dass Nachbarschaft organsiert wird, dass Grundschulen und Kitas gut zusammenarbeiten, damit Kinder, die nicht gut Deutsch sprechen, die nötige Förderung erfahren. All das muss organisiert werden."

Rbb24 erwähnt in seinem Beitrag, dass im Gebiet der Rollbergesiedlung erst im vergangenen Jahr mit der Arbeit eines Quartiersmanagements begonnen wurde. Der Migrationsanteil in der Rollbergesiedlung liegt bei 48 Prozent, deutlich über dem Berliner Durchschnitt. Etwa 70 Prozent der Kinder haben bei ihrem Schulstart Lern- oder Sprachdefizite. Nur etwa 15 Prozent der Schüler schaffen es bis zu einer Gymnasialempfehlung, 45 Prozent wären dagegen laut dem Beitrag normaler Durchschnitt in Berlin. Lehrer für diese Stadtteile Berlins sind besonders schwer zu finden, viele würden lieber an Schulen in besseren Vierteln unterrichten, so Harald Liegel, Leiter der Grundschule in den Rollbergen. Das örtliche Kirchenzentrum FACE schildert die akuten Probleme vor Ort so:

"Die Menschen hier brauchen zum Beispiel Beratung bei Behördenpapieren, zum Bildungsweg der Kinder, zum Mietvertrag, zur Arbeitssuche. Wenn die Kinder erzählen, mit wie vielen Personen sie in einer Wohnung leben, ist das auch ein Zeichen von Armut."

Früher sei sozialer Wohnungsbau in der Innenstadt die Normalität gewesen, erklärt Soziologie-Professor Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gegenüber rbb24. Viele dieser Wohnungen seien aber inzwischen aus der Mietpreisbindung "gefallen". "Jetzt haben wir eine soziale Spaltung in Berlin und anderen Städten", kritisiert der Soziologe. In Berlin könne man auch längst nicht mehr von einer Durchmischung reden. Das Hauptproblem sei die Verteilungsungerechtigkeit in der Gesellschaft, so Helbig:

"Wir haben immer 'ungleichere' Einkommen und Vermögen: Manche kaufen sich millionenteure Eigentumswohnungen, andere wissen nicht, wie sie über den Tag kommen sollen."

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