Prof. Klaus Stöhr gilt als einer der Experten, die auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind und sich seit Beginn der Corona-Krise für einen Umgang mit SARS-CoV-2 jenseits eines "Panikmodus" einsetzen. Nicht selten kritisierte er dabei die Maßnahmenpolitik der Bundesregierungen als unverhältnismäßig.
Schon früh wandte sich Stöhr gegen eine zeitweise öffentlichkeitswirksam betriebene und präsentierte Nulltoleranz-Politik gegen COVID-19. "Zero-COVID ist zero realistisch", zeigte sich der renommierte Virologe und Epidemiologe auch vor einem Jahr, gegen Ende Januar 2021, überzeugt. Wesentlich zielführender – als der vollkommen sinnlose Versuch, SARS-CoV-2 zu eliminieren und bei den "Maßnahmen nach dem Gießkannenprinzip" etwa Schulen zu schließen – sei es, sich auf den Schutz vulnerabler Bevölkerungsgruppen zu fokussieren. "(Schul-)Schließungen hier sind das letzte Mittel im absoluten Krisenmodus – den sieht man ja nicht, auch nicht in den Krankenhäusern."
Am Montag berieten nun die Bundesregierung und Länderregierungen miteinander zum weiteren Vorgehen angesichts der sich ausbreitenden Omikron-Variante des Coronavirus. Nach den Gesprächen einigte man sich u.a. darauf, die Corona-Maßnahmen vorerst nicht weiter zu verschärfen. Gleichzeitig wurde man sich offenbar darüber einig, dass es angeblich im Moment aber auch keinen Spielraum für Lockerungen gebe. Man müsse unverändert vorsichtig bleiben, war Bundeskanzler Olaf Scholz überzeugt. Noch, so der SPD-Politiker, sei es unklar, wie sich die Pandemie weiter entwickeln werde. Bei Bedarf werde man die notwendigen Entscheidungen treffen. "Jetzt aber gilt erst mal: Kurs halten!" So brachte der frühere Hamburger Bürgermeister seinen Ansatz auf eine griffig klingende Formel.
Diese mutmaßlich starre Haltung rief bei Fachleuten und Experten wie Stöhr Kritik hervor. So erklärte er als der ehemalige Leiter des Global-Influenza-Programm der WHO nun gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND):
"Was bei den Beschlüssen fehlt, ist eine Lockerung der von Anfang an wenig zielführenden Corona-Regeln 2G und 2G plus."
Vor dem Hintergrund, dass Geimpfte auf den Intensivstationen zahlenmäßig weniger als ein Viertel der Patienten ausmachen, stelle sich die Frage, warum sich der entsprechende Bevölkerungsteil noch zusätzlich testen lassen müsse, "wenn sie einkaufen oder ins Restaurant gehen" wollen. Aufgrund der wesentlich leichter übertragbaren Omikron-Variante werde wiederum für die Ungeimpften gelten, dass sich ein Großteil unter ihnen infizieren und dann später als genesen gelten werde. "Geimpft oder genesen, also 2G, wird schon sehr bald Normalität für alle sein."
Dies hätten die Politiker nach Ansicht Stöhrs in ihren Beratungen und Beschlüssen zu berücksichtigen und zum Anlass für Lockerungen nehmen müssen. Die 2G-plus-Regel sei insbesondere "suspekt – wegen ihres potenziell destruktiven Effekts auf die Impfbereitschaft und der vernachlässigbaren Wirkung auf die Ausbruchs-Häufigkeit im Einzelhandel und Gaststättengewerbe". Auch was die Schulen anbelangt, wartet Stöhr mit einer dezidierten Aussage auf: "Es ist fraglich, ob die Maskenpflicht und das anlasslose Testen in Deutschland noch sinnvoll sind."
Im RND-Gespräch mahnt Stöhr zudem einen aufmerksameren Blick auf die Deutschland umgebenden Länder an. So lockere etwa die französische Regierung, "obwohl die Inzidenz dort viel höher liegt und die Regierung die Situation in den Krankenhäusern als angespannt, aber handhabbar bezeichnet". Laut Stöhr gelte es nun, auch für Deutschland wieder den Gedanken an mehr Normalität zuzulassen:
"Der Umgang mit der Pandemie in den Nachbarländern zeigt uns, dass wir mehr Normalität zulassen können."
Indes ging Großbritannien jüngst den vielleicht größten Schritt in Richtung Normalität – bei einer Impfquote von aktuell knapp 71 Prozent "vollständig Geimpfter". So kündigte Premierminister Boris Johnson am vergangenen Mittwoch das Ende der COVID-19-Maßnahmen an. Die jüngsten Daten deuteten laut Johnsons darauf hin, dass die durch die Omikron-Variante ausgelöste Infektionswelle ihren Höhepunkt überschritten hätte.
Die Aufhebung der "Plan B"-Beschränkungen bedeutet, dass in England bald keine COVID-19-Ausweise mehr verlangt werden. Zudem sollen die Menschen nicht mehr dazu aufgefordert sein, nach Möglichkeit von zu Hause aus zu arbeiten.
Derweil wies Stöhr am Montag im Gespräch mit der Welt auch auf die zum Teil weit geringere Krankenhausbettenkapazität in Ländern wie der Schweiz oder auch Schweden hin. Dennoch würde auch in diesen entsprechenden Ländern "bei weit höheren Inzidenzen" sukzessive gelockert:
"Warum sollte sich das Virus in Deutschland anders verhalten als in den anderen Ländern?"
Angesichts der aktuellen Corona-Welle mit der hochansteckenden Omikron-Variante werde laut Stöhr (als ehemaliger SARS-Forschungskoordinator bei der WHO) die natürliche Immunität mittels Durchseuchung in Kombination mit der Impfung zu einem anhaltenden Immunschutz führen.
Dies mache eine "vierte, fünfte, sechste oder siebte" Booster-Impfung überflüssig, meinte Stöhr Mitte Januar im TV-Sender Bild. Im Herbst müsse man dann sehen, ob man den über 60-Jährigen noch einmal ein Impfangebot machen solle.
Angesichts der Millionen Ungeimpften oder zumindest nicht vollständig Geimpften sei Vorsicht nach der Meinung von Stöhr zwar weiter ganz wichtig. Dennoch gibt er sich überzeugt: "Im Frühjahr, Sommer dann wird es sehr entspannt."
Die Anzahl der "mit COVID-19-Erkrankten belegten Intensivbetten pro 100.000 Einwohner" geht in Deutschland kontinuierlich zurück. Mit dem Stand der Zahlen am Mittwoch lag sie laut DIVI-Intensivregister bei 2,88.
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