Die Bedürfnisse Armer spielen keine Rolle

Hart ins Gericht mit der vergangenen wie der gegenwärtigen Bundesregierung geht der gerade veröffentlichte Armutsbericht des Paritätischen. Die letzte Bundesregierung habe die Armen ignoriert und die jetzige biete vor allem Mogelpackungen.

Die Pandemie hat im vergangenen Jahr zu einem weiteren Anstieg der Armut in Deutschland geführt, so der neu veröffentlichte Armutsbericht des Paritätischen, der auf den Zahlen des Mikrozensus von 2020 beruht. Inzwischen seien 16,1 Prozent der Bundesbürger oder 13,4 Millionen Menschen arm. In den Armutsberichten der Regierung wird üblicherweise von "Armutsgefährdung" geschrieben; diese Sprachregelung weist der Bericht deutlich zurück: "Die häufig synonym verwandte Bezeichnung der 'Armutsgefährdung' übernimmt dieser Bericht nicht, da dieser Begriff angesichts der Einkommen, um die es konkret geht und der sich dahinter verbergenden massiven Armutsprobleme eher als Euphemismus angesehen werden muss."

Zugleich wird darauf hingewiesen, dass diese Zahl das reale Problem eher noch unterschätzt. "Da bei den Armutsanalysen das Haushaltseinkommen herangezogen wird, ein entsprechender Wert für Personen in Gemeinschaftsunterkünften jedoch nicht vorliegt, werden lediglich Menschen gezählt, die einen eigenen Haushalt führen. Das ist insofern von Bedeutung, als damit große relevante Gruppen außen vor bleiben. Sie reichen von wohnungslosen Menschen über Menschen in Pflegeeinrichtungen oder in Wohnheimen der Behindertenhilfe bis hin zu Strafgefangenen oder Geflohenen in Gemeinschaftsunterkünften."

Um sichtbar zu machen, wie groß die Lücke der nicht Erfassten ist, nur zwei Zahlen: In Pflegeheimen leben in Deutschland 731.000 Personen, die Wohnungslosenhilfe schätzt die Zahl der Wohnungslosen auf über eine halbe Million. Zumindest bei Letzteren kann man davon ausgehen, dass sie alle zur Gruppe der Armen gehören; damit läge die reale Zahl bei über 14 Millionen.

Infolge der Pandemie sei die Armut vor allem bei einer Gruppe gestiegen – bei den Selbständigen. Bei den übrigen Beschäftigten hätten Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld ein weiteres Anwachsen der Armut verhindert, obwohl vor allem das untere Fünftel der Bevölkerung Einkommensverluste zu erleiden hatte. Zudem sei die Arbeitslosigkeit zwar vorübergehend gestiegen, aber die Zahl der Arbeitslosen mit Anspruch auf ALG I sei ungewöhnlich hoch gewesen.

Bei jenen, die bereits vor der Pandemie arm waren, habe die Regierung allerdings vollkommen versagt. "Die Belastung am untersten Rand dieser Gesellschaft war ungeheuer. Dennoch konnte sich die Bundesregierung während des ganzen Jahres 2020 nicht dazu durchringen, etwas für die Ärmsten zu tun – trotz eines viele Milliarden Euro schweren Konjunkturprogramms", beklagt Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen.

Die Notwendigkeit entsprechender technischer Ausstattung für digitalen Unterricht wurde beispielsweise erst ignoriert; als dann Mittel dafür bereitgestellt wurden, wurde eine hochbürokratische Abwicklung über die Schulen gewählt, die weitgehend scheiterte. "Unterstützungsleistungen richten sich überwiegend an Erwerbstätige und deren Familien, im günstigen Fall wird diese Unterstützung auch den Ärmsten zusätzlich gewährt. Kleinere Unterstützungsmaßnahmen für diese Gruppe laufen leer, weil das Sachleistungsprinzip offenbar aus Misstrauen gegenüber den Eltern auch in der Krise konsequent durchgesetzt wurde."

Als besonders bizarrer Fall werden die Gutscheine für die allerorts erforderlichen Masken angeführt. "Lieber erstattete der Bund buchstäblich Apothekenpreise für die Bereitstellung einer bestimmten Maskenart als Sachleistung, als den Berechtigten unbürokratisch über die Jobcenter Geld auszahlen zu lassen, damit diese sich Schutzmaske nach Wahl preisgünstiger selbst einkaufen konnten. Die zehn Masken, die Grundsicherungsberechtigte bei Vorlage ihres Ausweises und ihrer Berechtigung erhalten konnten, wurden den Apotheken mit 39 Euro vergütet." Erst im Frühjahr dieses Jahres konnte die Regierung sich durchringen, einmalig 150 Euro direkt an die Betroffenen zu zahlen.

Auch bei Studenten habe sich der höhere finanzielle Druck durch die Lockdowns und damit verbundene Jobverluste bemerkbar gemacht; vor allem beim massiven Anstieg der Anträge auf Studienkredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die zwischen Mai und September beinahe 31.000 solcher Anträge erhielt.

Nicht nur die zusätzlichen Belastungen durch Masken etc. wurden nicht aufgefangen, selbst der deutlich höhere Anstieg der Verbraucherpreise, der im November 5,2 Prozent betragen hatte, werde durch die Erhöhung der Regelsätze in Grundsicherung um ganze 0,7 Prozent bei Weitem nicht aufgefangen.

"Mit diversen Schutzschirmen und insbesondere dem Kurzarbeitergeld konnte dem Anstieg der Armutszahlen durchaus entgegengewirkt werden", zieht der Paritätische Bilanz. "Für diejenigen jedoch, die bereits in Armut lebten, wurde die Not immer größer und die Ausgrenzung immer härter."

An die neue Bundesregierung gerichtet, formuliert der Paritätische eine Reihe politischer Forderungen. Die erste lautet "Armutsfeste Überwindung von Hartz IV". Dabei wird mit Bezug auf ein wissenschaftliches Gutachten eine Regelsatzhöhe für allein lebende Erwachsene von 644 Euro gefordert. Eine Überarbeitung der Regelsätze sei aber im Koalitionsvertrag nicht einmal angedeutet. Schneider meinte dazu: "Solange die Menschen, die Grundsicherung beziehen, in Armut verbleiben, wird auch ein 'Bürgergeld' eine Mogelpackung bleiben. Hartz IV wird erst überwunden sein, wenn die Sanktionen weg sind UND wenn die Regelsätze keine Armutssätze mehr sind."

Die zweite Forderung lautet Beseitigung der Altersarmut. "Hierfür bräuchte es eine Mindestrente, die das soziokulturelle Existenzminimum bedarfsgerecht sichert", so der Bericht. Weitere Punkte sind eine Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld I sowie eine Begrenzung von Mieterhöhungen auf die allgemeine Preissteigerungsrate.

Die Einführung einer Kindergrundsicherung wird begrüßt, allerdings nur, wenn die Höhe tatsächlich für den Lebensbedarf eines Kindes genügt. Auch die erweiterten Möglichkeiten für Weiterbildung in Bezug von SGB II. Allerdings sind 30 Prozent der Armen in Rente und von den 35 Prozent, die erwerbslos sind, steht ein großer Teil "beispielsweise wegen der Betreuung von kleinen Kindern oder alten Menschen oder wegen einer laufenden Ausbildung oder Weiterqualifikation" dem Arbeitsmarkt zumindest kurzfristig nicht zur Verfügung. "Eine Armutspolitik, die wirklich Wirkung entfaltet, wird nicht um eine sehr direkte Verbesserung der finanziellen Situation der Armen umhinkommen", so der Bericht. Und Schneider ergänzte dazu: "Wenn die einzige Verbesserung, die der Koalitionsvertrag beispielsweise für altersarme Renterinnen und Rentner vorsieht, die ist, dass ihre Möglichkeiten verbessert werden sollen, neben der Sozialhilfe einer Erwerbsarbeit nachzugehen, so wirkt das bestenfalls wie ein makabrer Scherz. Wir appellieren dringend an die Bundesregierung, hier nicht weitere vier Jahre tatenlos zu bleiben."

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