Deutschland

Ökonomen warnen vor Lindner als Finanzminister: "Vorsintflutliche haushaltspolitische Agenda"

Mit Christian Lindner hätte Berlin eine schwache Regierung, die den Herausforderungen der Zeit nicht gewachsen ist, weil der FDP-Chef auf eine überholte Finanzpolitik setze, analysieren zwei prominente Wirtschaftswissenschaftler. Lindner sei besser als Minister für Digitales geeignet.
Ökonomen warnen vor Lindner als Finanzminister: "Vorsintflutliche haushaltspolitische Agenda"Quelle: www.globallookpress.com © Jens Schicke / imago-images/ globallookpress

Liberale Parteikollegen wie der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki und der Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann hatten Parteichef Christian Lindner jüngst als idealen Kandidaten für das Amt des Finanzministers angepriesen, noch bevor die Verhandlungen mit den Grünen und der SPD bis zur Ressortverteilung vorgedrungen waren.

Als zweitstärkste Partei könnten in einem SPD-geführten Ampelbündnis auch die Grünen das Finanzministerium für sich beanspruchen. Doch bekundete Lindner selbst öffentlich sein Interesse an dem Schlüsselressort und erklärte bei Bild TV, dass nicht die Fraktionsstärke von Grünen und Liberalen darüber entscheide, wer den nächsten Bundesfinanzminister stellt.

Doch dass Lindner, abgesehen von der geringeren Fraktionsstärke, überhaupt ein geeigneter Kandidat wäre, bezweifeln zwei prominente Wirtschaftswissenschaftler, die sich in ihrem Berufsleben insbesondere mit Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftskrisen auseinandergesetzt haben. Der Brite Adam Tooze und der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz von der Columbia University in New York warnen davor, dass der FDP-Chef als Finanzminister sowohl für Deutschland als auch für Europa fatal sein könnte.

"Um seiner selbst willen sollte Lindner die unmögliche Aufgabe erspart werden, seine vorsintflutliche haushaltspolitische Agenda auf die finanzielle Situation von heute übertragen zu müssen", schreiben die Professoren in einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung Die Zeit. "Diese Art Crashtest kann sich weder Deutschland noch Europa erlauben."

Anhäufung konservativer Klischees einer vergangenen Ära

Die finanzpolitische Agenda der FDP habe sich in der Praxis längst als Fehltritt erwiesen. "Das Problem besteht nicht nur darin, dass Lindners Wirtschaftspolitik – sei es bei der Schuldenbremse oder den Haushaltsregeln für Europa – eine Anhäufung konservativer Klischees ist", so Stiglitz und Tooze.

"Viel wichtiger ist, dass es sich um Klischees einer vergangenen Ära handelt, nämlich um die der Neunzigerjahre. Wir leben nicht länger in der Welt, die sie hervorgebracht hat."

Die Debatte über die Ausrichtung von Wirtschafts- und Finanzpolitik, die durch die Euro-Krise 2011 noch verstärkt wurde, geht auf die Erfahrungen mit einer auf Sparmaßnahmen basierenden Krisenreaktion zurück, die davon ausgeht, dass sozialstaatliche Politik zum Verlust von Wettbewerbsfähigkeit führt. Die infolge der Finanzkrise von der EU unter deutscher Hegemonie eingeführte Haushaltsdisziplin, die von Ländern wie Griechenland und Spanien gefordert wurde, wurde sogar von Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) kritisiert.

Auch viele internationale Experten halten den von deutschen Regierungen in den vergangenen Jahren vertretenen harten Sparkurs für falsch und überholt. In Zeiten mit hohem öffentlichem Investitionsbedarf seien stattdessen neue Schulden vertretbar und sogar notwendig.

Stiglitz, ein studierter Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler, war selbst einige Jahre Chefökonom der Weltbank. Er kritisiert diese sowie weitere Institutionen jedoch scharf für ihre Verordnung von Austeritätspolitik, die zum Ende des vergangenen Jahrhunderts als ökonomisches Allheilmittel verschrieben wurde und vielerorts scheiterte. In Großbritannien haben Einschnitte in den meisten Bereichen der relevanten öffentlichen Ausgaben sogar zu einem Rückgang der Lebenserwartung geführt. Vor allem im Süden der EU führte die maßgeblich von Berlin vertretene Politik zu Einkommenseinbußen und einem Anstieg der Arbeitslosenraten, ganz zu schweigen von massiven Einschnitten in den sozialen Sicherungssystemen und einer dadurch selbst unter Rentnern ausgeprägte Abneigung gegen Deutschland.

Laut Stiglitz und Tooze benötige Europa jetzt einen deutschen Finanzminister, der "erkennt, dass es bei der finanziellen Nachhaltigkeit nicht nur auf die Schulden in der oberen Zeile, sondern auf das BIP in der unteren Zeile ankommt. Ein Finanzminister, der erkennt, dass Respekt nicht nur eine Angelegenheit der heimischen Wähler ist", sondern auch in europäischen Finanzverhandlungen gelten müsse.

"Die größte Bedrohung für die europäische Demokratie ist nicht der russische Einfluss oder irgendein anderer Einfluss von außen, sondern eine unangemessene und zeitlich unpassende Finanzdisziplin, die einer Mehrheit der europäischen Wähler von einer Minderheitskoalition 'nördlicher' Staaten aufgezwungen wird."

In seinem Buch "Die Schatten der Globalisierung" aus dem Jahr 2002 führte Stiglitz unter anderem die für viele Bürger desaströse Entwicklung der russischen Wirtschaft nach dem Ende der Sowjetunion auf die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderte marktradikale Schocktherapie zurück. Auch an der Politik der Weltbank und des US-Finanzministeriums übte Stiglitz starke Kritik.

Sowohl Lindner als auch Habeck haben bereits Interesse an dem Posten an der Spitze des Finanzministeriums signalisiert. Allerdings betonen die möglichen Ampelkoalitionäre regelmäßig, dass Personalentscheidungen erst ganz am Schluss der laufenden Koalitionsverhandlungen geklärt werden sollten. Die Gespräche sollen bis Ende November abgeschlossen sein. Tooze und Stiglitz befürworten einen Finanzminister der Grünen und empfehlen den Liberalen, in einer neuen Regierung mit SPD und Grünen lieber ein "Superministerium für Digitaltechnologie" zu übernehmen.

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