eine Analyse von Dr. Karin Kneissl
Erdgasvorräte, Pipelines, Lieferverträge, Preisspirale, Blackoutgefahr – gegenwärtig dröhnt eine gewaltige Geräuschkulisse in den Redaktionen, EU-Räten und Staatskanzleien. Alles dreht sich dabei um das hohe Preisniveau und die "Schuldfrage". Waren es in den 1970er Jahren "die Araber", wenn es um den Erdölpreis ging, so zeigen heute westliche Journalisten und Politiker gern auf Russland, wenn es um Erdgas und Politik geht. Der Vorwurf einer geopolitischen Abhängigkeit ist rasch bei der Hand wie auch der einer "Erpressung durch Russland" und andere Kraftausdrücke. So war es in den Jahren 2006 und 2009 infolge der Transitprobleme in der Ukraine und so ist es im Herbst 2021. Vereinzelt melden sich die Stimmen der Vernunft, die die Fakten kennen und darauf hinweisen, dass Russland seine Vertragsverpflichtungen einhält.
Aus vielen Vorträgen und Debatten, ob mit Diplomaten, Fondsmanagern oder Ministern, ist mir bewusst, wie gering das Wissen über Energiepolitik im weitesten Sinne ist. Wenn dann auch noch das Thema Klimawandel alle anderen Aspekte wie Angebot und Nachfrage, Preismechanismen und Infrastruktur überschattet, dann reduziert sich die Debatte ohnehin auf Schlagworte. Dass bei einem so wichtigen Thema das Grundlagenwissen unter Entscheidungsträgern fehlt, irritiert mich regelmäßig.
Brisante Ahnungslosigkeit
So erinnere ich mich an die Diskussion vor rund 15 Jahren, als der teilstaatliche österreichische Konzern OMV das Nabucco-Projekt vorstellte und damit Alternativen zur Abhängigkeit von Erdgas aus Russland schaffen wollte. Über ein Jahrzehnt wurde das Vorhaben teuer politisch vermarktet, aber es fehlten die Einspeisungsverträge. Als ich dazu an Debatten in Teheran teilnahm, war die Ignoranz im Auditorium geradezu greifbar. Vor allem unter den anwesenden EU-Vertretern, die ihre Stehsätze über eine gefährliche Abhängigkeit von Russland wiederholten, aber ansonsten in der Materie völlig verloren waren. Nabucco sollte ein Projekt mit vielen Spesen bleiben, wie ich dies in meinem Buch "Der Energiepoker" im Jahr 2006 bereits beschrieb. Was damals alles schief lief, ist aber minimal im Vergleich zu den aktuellen Fehlentscheidungen der zuständigen Abteilungen in der Europäischen Kommission abwärts bis zu den nationalen Gesetzesplänen im Namen des Klimawandels.
Der Druck auf fossile Energieträger
Die aktuelle Erdgaskrise ist hausgemacht. Der Schwarze Peter ist weder Russland noch den anderen wichtigen Erdgaslieferanten wie Norwegen, wo Leitungen seit Monaten infolge von Wartungsarbeiten stillstehen, oder Katar und Algerien in die Schuhe zu schieben. Die Ursachen sind vielfältig. Wesentlich sind die fehlenden Investitionen in neue Erdgasprojekte, also ein "underinvestment", das in der Branche schon seit langem mit Sorge beobachtet wird. Dahinter steht der starke Druck auf die Konzerne, denen teils durch ihre Gesetzgeber, die Brüsseler Institutionen und nun auch durch Gerichte die Investition in fossile Energieträger untersagt wird. Galt Erdgas lange als eine Art Übergangsenergie vom fossilen Zeitalter in eine Ära der erneuerbaren Energien, so ist auch das Erdgas mittlerweile zum Feindbild erklärt worden. Die Europäische Investitionsbank machte vor einigen Jahren den Anfang, danach folgte die Europäische Zentralbank: Investitionen in die Erdgasindustrie wurden genauso stigmatisiert wie zuvor bereits Kohle und Erdöl.
Der globale Erdgashandel
Dabei hatte sich die Erdgaswirtschaft nach Jahrzehnten des Daseins als Mauerblümchen im Schatten des Erdöl-Weltmarkts den Ruf einer sauberen und zuverlässigen und vor allem günstigeren Energie erarbeitet. Hinzu kam eine solide Preisstabilität dank langfristiger Lieferverträge – vor allem aus der Sowjetunion und nach dem Jahr 1991 allen Umbrüchen zum Trotz aus der Russischen Föderation.
Seit den 1970er Jahren entwickelte sich der Erdgasmarkt stetig weiter. Technische Innovationen machten aus dem einst regional gehandelten Erdgas ein globales Gut. Dominierten langfristige Lieferverträge früher den Markt, so erleben Produzenten und Kunden nunmehr auch hier heftige Preisschwankungen, wie wir sie vom Erdölmarkt her kennen. Anstelle der langfristigen Lieferverträge per Pipeline trat der von Brüssel eingeforderte "Spot Market", der mit kurzen Zahlungszielen arbeitet. Die LNG-Technik, die den Aggregatzustand von Gas ändert und es in flüssiger Form per Tanker transportabel macht, versetzt Erdgasproduzenten in die Lage, aus einer erweiterten Kundenpalette auszuwählen.
Viele europäische Vertreter haben auch nach fast zwei Jahrzehnten nicht begriffen, dass asiatische Kunden vielleicht höhere Preise als europäische Kunden zahlen. Bereits im Jahr 2002 sagte Gazprom-Chef Alexei Miller: "Es ist kein Naturgesetz, dass russisches Erdgas nach Westen fließt." Von China über Indien bis Vietnam sind neue Kunden entstanden. Dies gilt gleichermaßen für nordamerikanische LNG-Produzenten, die ihre auch schon verknappte Exportmenge eher in Asien als in Europa verkaufen. Und dennoch ist das Staunen groß, sitzt so manchem Staatschef die Sorge in den Knochen, ob diese Preisspirale noch zu Protesten führen könnte. In Frankreich hat man gewissermaßen aus der Revolte der Gelbwesten die Lektion gelernt: Energiearmut ist kein Phänomen des Südens und kann schwere Unruhen lostreten. In Deutschland war die Energiekrise weder Thema im Bundestagswahlkampf noch scheint sie derzeit bei den Koalitionsverhandlungen entscheidend zu sein.
Wer kennt sich aus?
In Seminaren über Erdöl und Erdgas, die ich an Universitäten von Frankfurt bis Beirut abhielt, simulierte ich mit den Studenten gerne Konferenzen zu einem aktuellen Thema, wobei die jungen Kollegen diverse Delegationen spielten. Wir sahen uns damals vor 2014 Videos zu den Treffen zwischen Russland und der EU an, wo klar ersichtlich war, wer sich konkret zum Thema äußerte und wer sich in allgemeinen Floskeln verlor. Bei den Pressekonferenzen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin meisterte Letzterer sein Thema mit fachlicher Leichtigkeit, da er sich damit auseinandergesetzt hatte. Kaum ein EU-Regierungschef sollte es sich leisten, das Energiedossier nicht aufmerksam zu studieren. Aber für eine echte Reflexion fehlt es an Interesse. Zeit nimmt man sich, Zeit hat man nicht. Das Ergebnis ist, dass in den vergangenen 20 Jahren das Wissen zum Thema vor allem in vielen EU-Hauptstädten eher ab- denn zugenommen hat. Wenn es um Energie geht, dann eben nur noch im Windschatten einer alles überlagernden Klimapolitik.
Die Bedeutung einer infolge von Emissionen mitverursachten Erderwärmung ist bekannt und bis auf wenige Kritiker unumstritten. Ich selbst besuchte im Jahr 1980 zum ersten Mal einen Vortrag über das Abschmelzen der Polkappen und habe seither das Thema stets genau verfolgt. Allerdings ohne ideologischen Eifer, sondern aus der Warte eines Menschen, dem die Natur einfach am Herzen liegt. Was wir gegenwärtig erleben, ist die absolute Dominanz dieses einen Themas zulasten aller anderen Aspekte einer ernsten Umweltpolitik. Nichts war je in der Geschichte monokausal, die Welt – vor allem jene der Energieversorgung – ist komplex. Doch mit solchen Aussagen riskiere ich im Jahr 2021 den Vorwurf der Häresie, also des Abfalls vom wahren Glauben. Gewisse Konstanten tauchen in der Menschheitsgeschichte immer wieder auf. Glaubensfragen gehören dazu.
Die Ruhe vor dem Sturm
Noch erleben wir einen sonnigen Herbst, einen "Indian Summer", in der nordwestlichen Hemisphäre. Doch angesichts des saisonal außergewöhnlich niedrigen Stands in den Erdgaslagern, den sogenannten Stocks, befürchten viele im Falle besonders kalter Wintertemperaturen eine Unterversorgung. Das Thema Blackout, also eines großflächigen Stromausfalls, beschäftigt stets Behörden und Menschen gleichermaßen. Mehrfach ist Deutschland an einem solchen vorbeigeschrammt, denn der Ausstieg aus Kohlestrom, Atomenergie und dann noch den Erdgasverträgen bringt das Netz an die Belastungsgrenze. Zuletzt fiel die Netzfrequenz am 8. Januar auf ein brisantes Niveau. Die Netzbetreiber reagierten prompt und konnten Schlimmeres verhindern. Doch ihre Warnrufe will die Politik nicht hören, jedenfalls bislang nicht in Deutschland.
Es geht bei der aktuellen Krise also nicht nur um hohe Preise und deren soziale Folgen, es geht sehr wohl auch um das Risiko einer Versorgungsunterbrechung bis hin zum großen Netzausfall. All diese Gefahren sind bekannt. Die Risiken sind nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Ein Stromausfall, der nicht länger als 24 Stunden dauert, könnte ein Weckruf sein. Doch alles darüber hinaus würde unsere zivilisatorischen Errungenschaften wohl zerstören. Marc Elsberg schrieb mit "Blackout" einen gut recherchierten Thriller. Robert Harris beschreibt ebenfalls eine nach einem Blackout völlig auf sich zurückgeworfene Gesellschaft. Beide Bücher sollten in Kurzversion den wesentlichen Protagonisten des Green Deals zur Lektüre empfohlen werden. Es geht um Fakten und Risiken. Wir sind in einer sehr kritischen Phase angelangt, deren Probleme die Stromversorgung zum Kippen bringen könnte.
Der Libanon kennt Blackouts schon seit Jahren, ob infolge militärischer Angriffe oder politischer Misswirtschaft. Momentan erfährt das gepeinigte Land einen permanenten Stromausfall. Erdgas ist gefragt, die vorhandenen Solarpaneele lösen die Energiekrise nicht. Ein Blick in den Libanon genügt, um eine Vorahnung zu erlangen, was auch andere Gesellschaften ereilen könnte.
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Dr. Karin Kneissl, ehemalige parteilose Außenministerin Österreichs, gab im Juni 2020 ihr Buch "Diplomatie Macht Geschichte – Die Kunst des Dialogs in schwierigen Zeiten" (Olms Verlag, Hildesheim) heraus. Die wesentliche Aussage lautet: Diplomatie ist Dialog unter allen Umständen.
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