Führt die Pandemie in einen Überwachungsstaat? Bemerkenswerte Diskussionsrunde in Kirche
Von Tilo Gräser
Die Grundrechtseinschränkungen in Folge der Corona-Krise wurden von Politik und Medien kleingeredet und -geschrieben. Dieser Meinung ist Klaus-Dieter von der Weiden, Richter am Bundesverwaltungsgericht Leipzig. Er ist außerdem Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofes und des Corona-Beirates der Thüringer Landesregierung. Von der Weiden sieht "Angst als Ziel" in der politischen Kommunikation in der Pandemie und meint, die Medien hätten ihre Rolle als kritische Beobachter der Politik aufgegeben und sich zu deren Sprachrohr gemacht.
Das sagte der Jurist am Donnerstag in einer Veranstaltung der Ökumenischen Akademie Gera/Altenburg in Thüringen im Geraer Gemeindehaus St. Elisabeth. Dorthin waren zu einer Diskussionsrunde zum Thema "Angriff auf die Freiheit? Kommt jetzt der Überwachungsstaat?" neben dem Richter der CDU-Bundestagsabgeordnete Albert Weiler und der Rechtsanwalt Ralf Ludwig aus der "Querdenken"-Bewegung eingeladen. Während vielleicht 20 Menschen im Kirchenraum saßen, verfolgten mehr als 1.000 Interessierte die Veranstaltung online über den Youtube-Kanal der Akademie.
Schon allein die Tatsache, dass eine solche Diskussion zustande kommt, war erstaunlich angesichts der gesellschaftlichen Situation in der Corona-Krise. Diese ist laut Beobachtern mehr von Spaltung und gegensätzlichen Lagern geprägt als von notwendigem Dialog und Austausch, um gemeinsame Lösungen zu finden. Dazu trägt auch bei, dass Kritiker der offiziellen Corona-Politik wie die "Querdenken"-Bewegung diffamiert und verleumdet werden.
Nichts als Meinungsfreiheit?
Richter von der Weiden hatte dagegen am Donnerstag kein Problem, in einer Veranstaltung mit dem "Querdenken"-Anwalt Ludwig zu sitzen und zu sprechen. Er habe auch die Bücher des Epidemiologen und Virologen Sucharit Bhakdi gelesen und Verständnis für die Sichten des Lungenarztes Wolfgang Wodarg, erklärte er dem Publikum. Diese und andere Kritiker müssten in die Debatten und die Suche nach Auswegen aus der Corona-Krise einbezogen werden, was aber nicht geschehe, bedauerte von der Weiden.
Erwartungsgemäß widersprach der hochrangige Richter bei aller eigenen Kritik dem "Querdenken"-Anwalt grundsätzlich und warf ihm vor, "den Diskurs gezielt zu verschieben". Das geschah, nachdem Ludwig das Recht auf Widerstand nach Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes betont hatte, das aktuell wahrgenommen werden dürfe. Dafür seien die Protestversammlungen vom 1. August dieses Jahres in Berlin ein Beispiel. Zudem sprach der Anwalt davon, dass der seit 18 Monate geltende Ausnahmezustand die Definition des Begriffes "Diktatur" erfülle.
Von der Weiden sieht dagegen die Proteste gegen die Corona-Politik als Ausdruck der grundgesetzlichen Meinungsfreiheit. So etwas sei in einer "echten Diktatur" nicht möglich, betonte der Richter, auch eine solche Diskussion wie die in der Geraer Kirche. Er hatte in seinem – leider verspätet online übertragenen – Vortrag zu Beginn der Veranstaltung erklärt: "Wir haben keine Widerstandssituation." Zuvor hatte der Jurist dazu aus dem Grundgesetz-Artikel 20 zitiert, in dessen Absatz 4 zu lesen ist:
"Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."
Das greife dann, "wenn die demokratische Struktur nicht mehr funktioniert, wenn die Gerichte nicht mehr funktionieren, wenn die Gewaltenteilung nicht mehr funktioniert", erklärte von der Weiden. Er fügte hinzu: "Davon kann nicht ansatzweise die Rede sein." Die Rechts- und Verfassungsordnung der Bundesrepublik sei "stark und stabil genug, um Krisensituationen wie Pandemien zu meistern". Es bestehe nicht die Gefahr eines "Überwachungs- oder Gesundheitsstaates", so der Richter.
Rechtsstaat oder Diktatur?
Er betonte, dass es hierzulande unabhängige Gerichte gebe, "die notfalls den anderen beiden Staatsgewalten (Regierung und Parlament – Anm. d. Red.) ihre Grenzen aufzeigen". Diese Aussagen sorgten nicht nur bei "Querdenken"-Anwalt Ludwig, sondern auch beim Publikum für deutlichen Widerspruch.
Namhafte Juristen und Rechtsexperten wie der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier oder der FDP-Vize Wolfgang Kubicki sowie das Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiStA) kritisieren, dass in der COVID-19-Pandemie Grundrechte und Gewaltenteilung angegriffen werden. So hatte unter anderem Papier im März dieses Jahres in einem Interview "massive rechtsstaatliche Defizite" bei der Pandemiebekämpfung festgestellt. Der ehemalige Verfassungsrichter beklagte ein falsches Verständnis der Grund- und Freiheitsrechte sowie, dass sich die Parlamente nicht mit den Grundrechtseinschränkungen befassen.
Ähnlich klang manches, was Rechtsanwalt Ludwig am Donnerstag in der Geraer Kirche sagte, wenn auch zugespitzter. Aus seiner Sicht nehmen Bürger, die wie am 1. August in der Hauptstadt trotz Verbotes auf die Straße gehen, ihr Recht in Anspruch, die gefährdete demokratische Ordnung wiederherzustellen. Es gehe um friedlichen Widerstand, der kein Rechtsbruch sei, sagte Ludwig auf eine entsprechende provokante Frage des Moderators, Pfarrer und Akademieleiter Frank Hiddemann. Die Menschen würden angesichts der Fehler der Politik klar zum Ausdruck bringen: "Das machen wir jetzt nicht mehr mit!"
Der Protest auf der Straße gegen die Corona-Politik werde "in der Geschichte der Bundesrepublik noch eine große Rolle spielen". Am 1. August und auch schon zuvor habe sich gezeigt, "dass der Staat repressiv reagiert hat gegen Menschen, die nur ihre verfassungsgemäßen Rechte wahrnehmen wollen". Und:
"Wenn der Staat repressiv überzeichnet, werden die Menschen ihr Recht selbst in die Hand nehmen."
Für Ludwig handelt es sich um eine Diktatur – allerdings "keine à la Nordkorea" –, wenn der im März 2020 mit der COVID-19-Pandemie durchgesetzte Ausnahmezustand bis heute aufrechterhalten wird. Der Anwalt forderte, in der Diskussion zuerst die Begriffe klar zu definieren. Entscheidend sei die Frage: "Wann ist das Ganze zu Ende?" Die Lösungen seien immer wieder verschoben und die Regeln wiederholt verändert worden. Während andere Länder derzeit versuchen würden, zur Normalität zurückzukehren, werde in Deutschland nun diskutiert, die Beschränkungen wieder zu verschärfen.
Funktioniert der Rechtsstaat?
Der "Querdenken"-Anwalt widersprach Verwaltungsrichter von der Weiden, der sagte, der Rechtsstaat funktioniere auch in der Pandemie. Das sei nicht mehr der Fall, wenn unter anderem Menschen an innerdeutschen Ländergrenzen abgewiesen werden, so Ludwig, der das selbst erlebt hatte. Er fügte an den Richter gewandt hinzu:
"Erzählen Sie das mal den Leuten, der Rechtsstaat korrigiert sich, die jetzt in Berlin von der Polizei verprügelt worden sind und blutend auf der Straße lagen, wo jetzt der Sonderbeauftragte der UN ermittelt."
Hinterher werde vielleicht ein Richter feststellen, dass die Polizisten das nicht tun durften – "erzählen Sie das den Leuten mal", fügte Ludwig hinzu. Er beklagte, dass die Gerichte nicht bereits vorher eingriffen und für Korrekturen durch die Politik sorgten. Bis heute gebe es nur mehrere Tausend Eilentscheide, aber kaum ein sogenanntes Hauptsacheverfahren zu Behördenverordnungen und -entscheidungen in der Pandemie.
An dem Punkt stimmte der Verwaltungsrichter dem kritischen Anwalt zu. Die Gerichte würden in der Bundesrepublik nicht so schnell arbeiten, wie es gerade für betroffene Bürger wünschenswert erscheine. Das sei aber seit langem so, was wiederum Ludwig aus eigener Berufserfahrung vor der Pandemie bestätigte. Von der Weiden meinte auch, im Rechtsstaat sei nicht alles "eitel Sonnenschein", weil Behörden "über die Stränge schlagen" oder Gerichtsentscheidungen nicht ausreichend abgewogen seien.
Das seien aber "einzelne Übergriffe" in einer "Ausnahmesituation". Es gebe derzeit keinen Verlust der bürgerlichen Freiheiten durch einen "Überwachungs- oder Gesundheitsstaat", wiederholte der Richter in der Diskussion. Anwalt Ludwig sagte nach einer Moderatoren-Frage dazu, dass hinter dem, was derzeit geschieht und er kritisiert, aber kein System stecke: "Das ist ja auch schon vorher so gewesen."
Ist die Existenz des Staates bedroht?
Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der gegenwärtigen Situation beschäftigten in der Runde den CDU-Abgeordneten Weiler stärker als der rechtliche Hintergrund. Er warf der regierenden Politik vor, oft nur zu reagieren anstatt vorher zu handeln. Für ihn gibt es "keine juristische Lösung" für eine Rückkehr in ein normales Leben – ohne Maske und Beschränkungen. Entscheidend sei die Frage nach der Lage im Gesundheitssystem, ob Erkrankte behandelt werden können. Seine Antwort: "Wenn wir es uns leisten können, in Deutschland letztes Jahr 20 Krankenhäuser zu schließen, ist das nicht die Frage."
Weiler hatte im März dieses Jahres in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Länderchefs seinem Unmut Luft gemacht und geschrieben, "das Leben ist mehr als die Angst vor einem Virus". Er warf den Regierenden, darunter CDU-Parteikollegen, Politikversagen vor und forderte gegen Corona "Maßnahmen mit Sinn und Verstand".
In der Runde am Donnerstag warnte er davor, dass der zunehmende Vertrauensverlust in die Politik die Demokratie gefährde. Auf die Frage des Moderators nach seiner Sicht auf das Widerstandsrecht sagte Weiler: "Eine Demokratie lebt vom Widerstand." Das bedeute für ihn nicht Gewalt, sondern seine Meinung offen zu äußern, "sachlich, fachlich und öffentlich".
Der CDU-Politiker wandte sich klar gegen eine Kontrolle und Überwachung der Bürger durch die Politik. Deshalb benutze er auch keine der Corona- und Gesundheit-Apps, gestand er ein. Ob solche Angebote angenommen werden, müsse den Menschen freigestellt sein. Weiler betonte:
"Corona darf den Staat nicht in eine solche Situation bringen, dass er dem Bürger sagt: Du musst das jetzt tun, ansonsten geht der Staat zugrunde!"
Es habe sich gezeigt, dass der Staat nicht zugrunde gehe: "Wir haben das beste Gesundheitssystem auf der ganzen Welt", das auch die COVID-19-Erkrankten ausreichend behandeln könne. Weiler sprach sich mit Blick auf die Impfkampagne für die Entscheidungsfreiheit der Bürger aus – "es sei denn, der Staat wäre so bedroht, dass die Hälfte der Menschen in drei Wochen sterben würde wie zum Beispiel durch Ebola". "Das sehe ich bei Corona an der Stelle nicht", fügte der CDU-Bundestagsabgeordnete hinzu.
Per Impfzwang in den Überwachungsstaat?
An ihn gerichtet bedauerte Verwaltungsrichter von der Weiden, dass die Runde das eigentliche Thema des Abends verfehlt habe. In der Diskussion mit dem Publikum erklärte er, Studien hätten gezeigt, dass eine hohe Impfquote helfe, die COVID-19-Infektionen und Krankheitsquoten zu verringern. "Dann heißt das Freiheit für alle, zumindest Freiheit für Geimpfte", schlussfolgerte der Richter als "logische Konsequenz". Das bedeute auch keinen indirekten Impfzwang meinte er, "sondern das ist die grundrechtliche Normalität der Freiheitsausübung – entweder für alle oder je nach Pandemielage dann für Geimpfte".
Diese Aussagen riefen bei "Querdenken"-Anwalt Ludwig zum Ende der Diskussion noch einmal klaren Widerspruch hervor. Jeder Mensch müsse frei entscheiden können, ob er sich impfen lässt, stimmte er dem CDU-Politiker Weiler zu. Der vom Richter nicht in Frage gestellte Entzug von Rechten für Ungeimpfte bedeute real einen Impfzwang.
Das gebe die Antwort auf die Frage des Abends: "Jawoll, es wird dann einen Überwachungsstaat geben." Es handele sich um einen solchen, wenn der Gesundheitsstatus mit Dokumenten und Apps nachgewiesen werden muss, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. "Der Weg zum Überwachungsstaat ist vorgezeichnet worden", warnte der kritische Anwalt.
Die Veranstaltung am Donnerstag gehört zur Veranstaltungsreihe der Ökumenischen Akademie Gera/Altenburg "Nach Corona", die am 7. Juni startete. Sie widmet sich in Diskussionsrunden umstrittenen Themen wie Impfen, Bürgerrechte, Überwachung und der Rolle der Wirtschaft. Die Veranstaltungen sind im Youtube-Kanal der Akademie nachsehbar.
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