"Entweder geimpft oder COVID-19" – Kontroverse zwischen Lauterbach und Prof. für Kinderheilkunde

Wie gefährlich sind neue Varianten des Coronavirus, und was bedeutet dies für die Impfung von Kindern ab zwölf Jahren? Laut dem British Medical Journal ist eine solche Impfung "schwer zu rechtfertigen". Der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sieht das freilich anders.

Aufgrund der Ausbreitung der Delta-Variante fordert auch der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach die Impfung von Kindern ab zwölf Jahren. Zuletzt hatte er die Ständige Impfkommission dazu aufgefordert, ihre Einstellung zur Corona-Impfung für Kinder ab zwölf Jahren zu überdenken.

"Die Durchseuchung der Kinder mit der Delta-Variante ist zu riskant."

Nach Ansicht Lauterbachs berücksichtigt die STIKO nicht das höhere Risiko durch die Delta-Variante. Auch für Kinder und Jugendliche sei die Gefahr gestiegen. In die Debatte schaltete sich nun auch der Fachmann für Kinderheilkunde und Leiter der Abteilung für pädiatrische Infektionskrankheiten an der Universitätsklinik München Prof. Johannes Hübner ein.

Vor wenigen Stunden verwies er auf eine Veröffentlichung des British Medical Journal (BMJ), in der die Impfung von Kindern gegen SARS-CoV-2 thematisiert wird. Hübner forderte Lauterbach auf Twitter dazu auf, sich den entsprechenden Ausführungen zu widmen.

"Nimm das @Karl_Lauterbach"

Schon zu Beginn des Mitte Mai verfassten Fachartikels wird festgehalten, dass diese "schwer zu rechtfertigen" sei. Das sei auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. So seien junge Menschen in Sachen COVID-19 bislang von schweren Krankheitsverläufen weitgehend verschont geblieben. Ohnehin bleibe der Sinn von Impfungen im Kindesalter gegen Atemwegsviren umstritten.

Ein Grund sei, ein "begrenzter Nutzen des Schutzes in Altersgruppen, die nur leicht erkrankten". Zudem sei der Effekt "auf die Übertragung aufgrund des Spektrums an Antigentypen und der nachlassenden impfstoffinduzierten Immunität" ein weiterer zu berücksichtigender Faktor. Hinzu kämen mögliche "unbeabsichtigte Folgen im Zusammenhang mit Unterschieden in der impfstoffinduzierten und infektionsinduzierten Immunität".

Im Allgemeinen seien die Kosten gegen den Nutzen der Impfung in der Zielgruppe abzuwägen, heißt es weiter. So hatte auch die STIKO argumentiert und daraufhin keine generelle Empfehlung für die Corona-Impfung von Kindern ab zwölf Jahren ausgesprochen. Sie empfiehlt Impfungen nur für Zwölf- bis 17-Jährige mit bestimmten Vorerkrankungen wie Adipositas, Diabetes und chronischen Lungenerkrankungen.

Das Gremium begründete seine Empfehlung vor knapp drei Wochen unter anderem damit, dass das Risiko einer schweren COVID-19-Erkrankung für diese Altersgruppe gering sei. Das BMJ hält für Kinder unter zwölf Jahren fest:

"Der Schweregrad von COVID-19 bei Kindern unter zwölf Jahren ähnelt dem der Influenza."

Aufgrund der ohnehin knappen Impfstoff-Ressourcen leiten die Forscher aus diesem Umstand ab, dass die Impfung von Kindern keine Priorität genießen sollte. Doch genau das fordern mit Verweis auf aktuelle Daten nun reichweitenstarke britische Medien wie der Independent. So sollten Kinder über zwölf Jahren nun "so schnell wie möglich" gegen COVID-19 geimpft werden, "um eine Herdenimmunität gegen die sich zunehmend verbreitende Delta-Variante zu erreichen".

Derweil weisen die BMJ-Forscher darauf hin, dass die Impfung von Kindern außerdem "die Häufigkeit großer saisonaler Epidemien erhöhen" könne.

"Abhängig von der relativen Dauer der durch Impfstoffe und Infektion induzierten Immunität und der Geschwindigkeit der viralen Antigenveränderung könnte die Impfung von Kindern außerdem die Häufigkeit großer saisonaler Epidemien erhöhen."

Zudem führten laut den an der Veröffentlichung beteiligten Forschern die mRNA-Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 zwar zu einer verstärkten Antikörperantwort als eine natürliche Infektion, dies könne jedoch andererseits zu Reaktionen der CD8-T-Zellen führen, die den Schutz vor zukünftigen Varianten verringern könnten.

"Weitere Studien zu den Unterschieden zwischen impfstoff- und infektionsinduzierter Immunität sollten durchgeführt werden."

Das britische Äquivalent zur STIKO, der Gemeinsame Ausschuss für Impfung und Immunisierung (JCVI), konnte sich derweil noch nicht zu einer klaren Position gegenüber der Impfung von Kindern ab zwölf Jahren durchringen. Erst im Verlauf des kommenden Monats soll nun eine Entscheidung fallen.

Mittlerweile gilt die Delta-Variante B.1.617.2 des Coronavirus als besorgniserregende SARS-CoV-2-Virusvariante (VOC). Dazu hält das BMJ fest, dass eine Ansteckung bei Kindern (young children) in den meisten Fällen einen "milden" Verlauf nehme, die Entwicklung in Bezug auf neu aufkommende Varianten jedoch genau beobachtet werden müsse.

Für den Fall, dass nachgewiesen werden könne, dass eine neu aufkommende VOC bei Kindern zu schweren Krankheitsverläufen führe, "würde die Impfung von Kindern zur Priorität". Die Autoren argumentieren zudem:

"Allerdings scheinen Kinder sowohl für die Infektion als auch für die Übertragung von SARS-CoV-2 weniger anfällig zu sein als Erwachsene, und in Ländern wie Norwegen blieben die Übertragungsraten niedrig, obwohl die Grundschulen geöffnet blieben."

Sollte die Infektion im Kindesalter (und die Neuansteckung bei Erwachsenen) weiterhin typischerweise mild verlaufen, heißt es weiter im Artikel, werde "eine Impfung im Kindesalter weiterhin nicht notwendig" sein, um die Pandemie zu bekämpfen.

Bislang gibt es keine wissenschaftlich begründeten Hinweise auf schwere Krankheitsverläufe bei Kindern aufgrund einer Infektion mit der Delta-Variante des Coronavirus. Darauf verweist etwa auch der Bayerische Rundfunk:

"Wie bei den bisherigen Varianten gilt daher weiter: Kinder und Jugendliche ohne Vorerkrankung haben ein äußerst geringes Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19."

Der Business Insider verweist in diesem Zusammenhang u. a. auf Eyal Leshem, einen Spezialisten für Infektionskrankheiten am israelischen Sheba Medical Center. Nach Ansicht des Experten ist das Risiko für Kinder, aufgrund einer Delta-Infektion ins Krankenhaus eingeliefert zu werden, nach wie vor "verschwindend gering" – selbst wenn sich das Risiko einer Infektion gegenüber der Alpha-Variante verdoppeln sollte.

Derweil hält Lauterbach den BMJ-Artikel zwar für "lesenswert". Die Sicht der Forscher auf die behandelte Thematik mag er jedoch nicht teilen - oder einordnen. Den Forschern im BMJ ging es vor allem auch um die Schwere einer Varianten-Infektion bei Kindern, um daraus auf die Notwendigkeit einer Impfung gegen COVID-19 zu schließen. Darauf keinen Bezug nehmend, ist die Grundfrage laut Lauterbach eine vollkommen andere:

"Grundfrage ist doch die: Jedes Kind wird langfristig entweder geimpft oder bekommt COVID."

Der eingangs erwähnte Fachmann Prof. Hübner hält dagegen und fragt Lauterbach zudem, woher dieser wisse, "dass jedes Kind entweder geimpft wird oder COVID bekommt".

"Das stimmt glücklicherweise nach einem Jahr nicht mal für Erwachsene. Wenn die Unbedenklichkeit der Impfung für Kinder an mehr als 1131 Kindern nachgewiesen ist, können wir gerne noch mal überlegen."

Derweil regte Lauterbach nun darüber hinaus an, generell mehr zu tun, um Impfskeptiker zu gewinnen. Dabei verweist er auf die Situation beim "Impfweltmeister" Israel.

"In Israel steigt die Inzidenz trotz hoher Impfquote und Topwetter wieder an. Es zeigt sich: Echte Normalität wird nur mit einer sehr hohen Impfquote kommen."

Er gehe davon aus, dass eine Impfquote von mehr als 80 Prozent nötig sei. 

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