Von der Bundesregierung wird die Verordnung von Lockdowns oft damit begründet, dass die Zahl der positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Personen je 100.000 Einwohnern durch einschneidende Maßnahmen wieder auf einen Wert von unter 50 sinken müsse. Ab einer Inzidenz von 50 können die Gesundheitsbehörden keine Kontaktnachverfolgung von positiven Fällen mehr betreiben.
Doch eine parlamentarische Anfrage der FDP an das Bundesgesundheitsministerium ergab, dass die Bundesregierung keine ausreichenden Belege für diese Kapazitätsgrenze liefern kann, wie das Handelsblatt berichtet. In der Antwort des Gesundheitsministeriums heißt es dazu, dass "die Kontaktverfolgungsrate von Gesundheitsamt zu Gesundheitsamt variiert". Aus den Meldedaten des Robert Koch-Instituts gehe auch nicht hervor, welcher Prozentsatz der mutmaßlichen COVID-19-Fälle nachverfolgt werden könne.
Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte dazu am Donnerstag in der Bundespressekonferenz, dass dieser Wert daher stamme, dass man überlegt habe, wann die Gesundheitsämter die Kontakte wieder nachverfolgen können. Man habe sich Gedanken gemacht, was die "mittlere Leistungsfähigkeit" eines Gesundheitsamtes sei:
"Daraus entsteht die 50, nicht aus irgendeiner wissenschaftlicher Grundlage."
Auch der dafür zuständige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn soll sich "verärgert" gezeigt haben, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Gesundheitsämtern so groß sind und Chaos bei der digitalen Nachverfolgung herrsche.
Aus einer vom WDR veröffentlichten Umfrage unter 29 der 53 Gesundheitsämter Nordrhein-Westfalens geht jedoch hervor, dass einige Behörden durchaus höhere Kapazitäten haben. Selbst in Gebieten mit einer Inzidenz von über 200 schafften es die meisten Ämter, die Kontaktverfolgung zügig aufzunehmen. 90 Prozent der Gesundheitsämter gaben in der Umfrage an, die Kontaktnachverfolgung innerhalb eines Tages oder sogar "ohne Verzug" zu schaffen, sofern die Benachrichtigten die richtigen Kontaktdaten lieferten. Nur drei Ämter gaben an, dass sie dazu teilweise mehrere Tage bräuchten.
Am Mittwoch erklärte der Epidemiologe Klaus Stöhr gegenüber dem Tagesspiegel, dass man mit Inzidenzen zwischen 130 bis 160 umgehen könne.
"Wir können, das haben die letzten Monate gezeigt, einen guten Mittelweg bei Inzidenzen von 130 bis 160, vielleicht sogar 180, ermöglichen. Einen Weg, bei dem wir die gesundheitlichen Schäden so weit wie möglich begrenzen, die freiheitlich-demokratischen Rechte nicht zu stark strapazieren, den Menschen gewisse Spielräume geben und ermöglichen, dass die Wirtschaft noch einigermaßen läuft", so Stöhr.
Das könne ein "ambitioniertes, realistisches und durchhaltbares Ziel für die Eindämmung der Pandemie sein", fuhr der Epidemiologe fort.
Der Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes, Frank Renken, erklärte, dass sein Gesundheitsamt deutlicher schneller reagieren könne als andere:
"Wir gehören zu den Gesundheitsämtern, die sagen können: Bis zu einer Inzidenz von knapp unter 250 können wir tatsächlich tagesaktuell die Kontaktpersonen nachverfolgen", erklärte Renken gegenüber ntv.
Möglich sei dies jedoch nur, da im Rahmen der Corona-Gesundheitskrise deutlich mehr Personal eingestellt wurde. Doch das es in den Gesundheitsämtern normalerweise zu wenig Personal gebe, sei schon seit Jahren ein Problem. Weitere Schwierigkeiten gebe es bei der Digitalisierung, denn viele Gesundheitsämter sind immer noch auf Faxgeräte angewiesen. Nur ein Drittel aller Gesundheitsämter in Deutschland habe die Nachverfolgungssoftware SORMAS installiert. Dieses "Software-Chaos" wollte die Bundesregierung eigentlich bis Ende Januar behoben haben. Wie die Kanzlerin mitteilte, soll nun angeblich "bis Ende Februar jeder SORMAS installiert haben".
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