Ehemaliger WHO-Topwissenschaftler: 7-Tage-Inzidenzwert unter 50 im Winter "illusorisch"
Die 7-Tage-Inzidenz gilt als einer der Grundpfeiler zur Bewertung des "Infektionsgeschehens" und zur Begründung der Corona-Maßnahmen der Bundesregierung, inklusive des harten Lockdowns der nun – mindestens – bis zum 10. Januar verhängt wurde.
Kritik an diesem Schwellenwert kam auf, nachdem die Verbreitung des Coronavirus zur "Pandemie nationaler Tragweite" erklärt wurde.
Im Oktober war es dann u. a. der Direktor des Instituts für Epidemiologie an der Berliner Charité, Stefan Willich, der sich im rbb Inforadio gegen den Richtwert als Bemessungsinstrument in der Corona-Krise aussprach:
"Man hat vor mittlerweile fünf Monaten diesen Schwellenwert von 50 sogenannten Neuinfektionen pro Woche pro 100.000 definiert. Das schien damals präzise, war aber immer nur ein grober Anhaltspunkt."
Doch das Argument der Bundesregierung lautet: Da die 7-Tage-Inzidenz von 50 pro 100.000 Einwohner in vielen Landkreisen Deutschlands überschritten werde, könne die Situation nur durch einen Lockdown wieder unter Kontrolle gebracht werden. Ziel sei es, denn Wert bis 50, oder sogar darunter zu drücken.
Nun meldete sich auch der Epidemiologe Klaus Stöhr zu Wort. Eine 7-Tage-Inzidenz von 50 sei in in hiesigen Breitengraden nicht realisierbar, so Stöhr. Aufgrund der "hohen Infektiosität" und der Tatsache, dass "noch mehr als 90 Prozent der Bevölkerung keine Immunität gegen das Virus entwickelt hätten", sei selbst durch "drastische Einschränkungen die dauernde Viruszirkulation nur in einem begrenzten Umfang und dann nur über einen kurzen Zeitraum" reduzierbar, heißt es beim Nachrichtenkanal ntv. Einen Inzidenzwert von unter 50 in den Wintermonaten bezeichnete Stöhr als "illusorisch".
Der ehemalige Direktor des Influenza-Programms der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verweist auf mit dem neuartigen Coronavirus vergleichbare Erreger wie etwa das Influenzavirus. Auch diese zirkulierten in der kalten Jahreszeit auf einem ähnlich hohen Niveau. Dies sei der Fall, "obwohl dagegen viel mehr Menschen immun sind als gegen Corona". Das Instrument einer entsprechenden Kontaktverfolgung hält der Epidemiologe daher ebenfalls für wenig sinnvoll.
Zuletzt ging auch der Medizinprofessor und Gesundheitsökonom Matthias Schrappe mit der Corona-Politik der Bundesregierung hart ins Gericht. Die Inzidenz auf einen Wert von unter 50 Testpositiven je 100.000 Einwohnern zu halten, sei vollkommen irreal und keine gute Politik. Wenn man diesen Grenzwert dauerhaft unterschreiten wolle, bräuchte man einen unendlichen Lockdown, so der ehemalige Berater der Bundesregierung für Gesundheitsfragen. Laut Schrappe sei die Bundesregierung jedoch "beratungsresistent".
Es gelte, so Stöhr gegenüber ntv, im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 stehende und "vermeidbare Erkrankungen und Todesfälle" so stark wie möglich zu reduzieren, und das "bei einem geringstmöglichen Einfluss auf die Wirtschaft durch die Pandemie und durch die Bekämpfungsmaßnahmen – und bei einem tolerierbaren und akzeptablen Niveau der Einschränkung der Freiheit".
So wie Schrappe fordert auch Stöhr, statt einem flächendeckenden Lockdown, den Fokus auf den Schutz von Risikogruppen zu legen. Ein bestimmter Inzidenzwert sei dafür nicht von Nöten:
"Ich habe schon immer gesagt, die 900.000 in den Pflegeheimen sind die eigentlich Betroffenen."
Würde sich die Politik auf die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen fokussieren, "bräuchte man auch den Nebenkriegsschauplatz Schulen und Kindergärten nicht", ist Stöhr überzeugt.
Nach Ansicht des Experten, gäbe es die Möglichkeit, "die Alten zu schützen, ohne, dass man die Pandemieentwicklung – die ja nicht aufzuhalten ist bei so einem Naturereignis – unvernünftig in die falschen Bahnen lenkt.
"Es gibt keine Ergebnisse, inwieweit das Schließen von bestimmten Einrichtungen, beispielsweise Museen, Restaurants oder Bars, eine Rolle spiele. Es gäbe noch nicht mal eine Studie, die belege, dass Quarantäne wirksam ist."
Bereits Mitte Oktober bewertete der Epidemiologe, der von 2007 bis 2011 die Impfstoff-Forschung bei Novartis leitete, die postulierte Pandemie als ein Naturereignis, das nicht zu stoppen sei:
"Es werden sich alle Menschen infizieren."
Doch bereits bei anderen Corona-Viren, die in der Gesellschaft zirkulieren, habe der Mensch gelernt, sich anzupassen.
Es gehe im Gegensatz zur sogenannten "Herdenimmunität" jedoch nicht darum, möglichst viele Menschen zu "infizieren" oder die "Erkrankung einfach durchlaufen zu lassen". Ziel müsse es vielmehr sein, die Risiken für die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen möglichst gering zu halten. Das müsse im Bewusstsein geschehen, dass sich viele Menschen langfristig mit dem Virus infizieren werden.
Der Epidemiologe und Virologe prophezeite:
"Die Pandemie wird nicht verschwinden, wenn der Impfstoff zur Verfügung steht. Sie wird dann zu Ende gehen, wenn das Virus alle Menschen gefunden hat."
Berater der Bundesregierung wie etwa der Leiter der Virologie der Berliner Charité Christian Drosten und RKI-Chef Lothar Wieler vertreten eine Stöhrs Aussagen diametral entgegenstehende Position. Viele andere Wissenschaftler teilen ebenfalls nicht Stöhrs Einschätzungen und die etlicher seiner Kollegen.
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