Medizinprofessor Matthias Schrappe: "Die Bundesregierung ist beratungsresistent"
Der Medizinprofessor und Gesundheitsökonom Matthias Schrappe ist in einem Interview mit der Bild hart mit der Corona-Politik der Regierung ins Gericht gegangen: Der Erfolg des Lockdowns sei sehr zweifelhaft, außerdem missachten die Verantwortlichen ihren Schutzauftrag für die Risikogruppen. Schrappe zweifelt an der Sinnhaftigkeit der bisherigen Strategie: Die Inzidenz auf einen Wert von unter 50 Testpositiven je 100.000 Einwohnern zu halten, sei vollkommen irreal und keine gute Politik. Wenn man diesen Grenzwert dauerhaft unterschreiten will, bräuchte man einen unendlichen Lockdown.
Hintergrund dessen sei, dass die Zahl der akuten Atemwegserkrankungen auch nach Angaben des Robert Koch-Instituts erst im Januar 2021 tendenziell zunehmen werde. In den Wintermonaten werde man daher dieses Ziel nicht erreichen können:
Die Bevölkerung wird in einen Dauer-Schockzustand versetzt.
Bereits am Sonntag hatte Schrappe – zusammen mit acht weiteren Wissenschaftlern – ein Thesenpapier vorgelegt, in dem die Mediziner die bisherige Corona-Politik scharf kritisieren und sich für einen Strategiewechsel aussprechen, denn der November-Lockdown fordere zu große Opfer, und der Erfolg sei zweifelhaft.
Ein Lockdown sei kein Instrument, mit dem man die Corona-Situation unter Kontrolle bringen könne. In anderen Ländern sei der Lockdown beispielsweise wesentlich härter gewesen als in Deutschland, und dennoch stehen diese Länder schlechter da. Die "Pandemie" sei kein Geschehen, das man mit Beschränkungen ausbremsen könne, die Dynamik bekomme man so aus dem "Infektionsgeschehen" nicht mehr heraus. Auch das Szenario einer "zweiten Welle" hält er für falsch, denn dies sei "keine Welle, die man brechen kann". Der Lockdown bewirke nur ein vorübergehendes Abflachen. Aber sobald gelockert wird, würde sich der Anstieg der mutmaßlichen Neuinfektionen fortsetzen.
Dadurch, dass so viel Arbeit in die Kontaktnachverfolgung gesteckt werde, blieben aber kaum Ressourcen für stark gefährdete Menschen. Bereits im April habe man darauf hingewiesen, dass es Infektionsherde in Krankenhäusern und Pflegeheimen geben wird. Man hätte damals – und heute immer noch – zielgerichteter vorgehen müssen, denn auch derzeit ist die Hälfte der Todesfälle im Zusammenhang mit Corona auf diese Bereiche zurückzuführen. Mittlerweile ist dies bereits das sechste Schreiben, dass die Gruppe der Bundesregierung vorlegt:
Beim Formulieren ist es uns schwergefallen,nicht immer das Gleiche zu wiederholen. Die Bundesregierung ist beratungsresistent.
Die Autoren des Schreibens drängen darauf, die verletzlichen Gruppen im Kampf gegen Corona in den Mittelpunkt zu stellen, um diese auf menschliche und würdevolle Weise zu schützen:
Wenn in Deutschland von Schutz die Rede ist, dann kann man sich darauf verlassen, dass damit wegsperren gemeint ist", erklärte Schrappe.
Dazu könnte es zum Beispiel Hilfsprogramme für die ambulante Pflege geben. Es spräche auch nichts dagegen, dass Studenten, deren Nebenjob weggebrochen ist, für das gleiche Geld vor dem Seniorenheim stehen und Abstriche für Tests machen. Doch dazu müsse die Bundesregierung neue Präventionsideen entwickeln. In einer Politik, in der man jedoch nur das Virus im Blick hat und deshalb auf Virologen hört, käme dies jedoch nicht an. Vor allem aber müsse sich die Regierung ihren "hohen Ton" abgewöhnen und sollte auf permanente Drohungen verzichten.
Laut Schrappe würde es auch helfen, wenn man nicht nur die positiven oder negativen Befunde der Tests auf SARS-CoV-2 angeben würde, sondern auch die Infektiosität. Diese lasse sich relativ einfach aus der Zyklenzahl der verwendeten PCR-Tests ermitteln: Je öfter der Nachweis wiederholt werden müsse, desto weniger vom Virus ist vorhanden. Ein Kind, welches 38 Zyklen benötige, führte Schrappe im Interview an, sei mit Sicherheit nicht infektiös und es sei in dem Fall übertrieben, die ganze Schulklasse in Quarantäne zu schicken. Aber da "dies nicht in den RKI-Anweisungen steht, nehmen die Gesundheitsämter dies nicht zur Kenntnis".
Außerdem vermisst der Mediziner eine langfristige Strategie im Kampf gegen Corona, denn er geht davon aus, dass wir noch Jahre mit dem Virus leben werden. Die Verfügbarkeiten von Impfstoffen seien "erste Millimeter eines langen Wegs". Mit "ein wenig Praxiserfahrung" wisse man, dass eine Impfkampagne Jahre dauern werde. Für das Gesundheitssystem werde COVID-19 in den nächsten Jahren aber normal werden:
Nehmen Sie die klassische Lungenentzündung. Wer damit ins Krankenhaus kommt, hat eine Sterblichkeit von zehn Prozent. Zurzeit hat man mit SARS-CoV-2 im Krankenhaus auch eine Sterblichkeit von zehn Prozent. Es wird für uns normal werden, es wird dazugehören.
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