UNICEF: Jeder Zweite in Deutschland befürwortet körperliche Gewalt gegen Kinder

UNICEF alarmiert: Eine von zwei Personen in Deutschland sieht körperliche Gewalt als adäquate Erziehungsmethode. Jede sechste Person ohrfeigt ihre Kinder. Körperliche und emotionale Gewalt pflanzen sich generationsübergreifend fort – ein "Teufelskreis der Gewalt".

Eine von zwei Personen in Deutschland hält körperliche Gewalt für eine angemessene Methode bei der Kindererziehung. Zu dem Ergebnis kommt eine am 19. November veröffentlichte Studie des Universitätsklinikums Ulm im Auftrag von UNICEF und dem Deutschen Kinderschutzbund. Die Zustimmung zur körperlicher Gewalt ist demnach bei Männern höher als bei Frauen und höher bei Älteren als bei Jüngeren.

Die Studie nimmt den 20. Jahrestag des Inkrafttretens des Rechts jedes Kindes auf gewaltfreie Erziehung im November 2000 zum Anlass, die Akzeptanz von Gewalt in der Kindererziehung zu untersuchen. Das Gesetz besagt:

Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. (§1631 Abs. 2 BGB)

Die Befragung von über 2.500 Teilnehmern ergab, dass 52,4 Prozent der Befragten einen Klaps auf den Hintern für eine adäquate Erziehungsmethode ansehen. 23,1 Prozent befürworteten eine Ohrfeige, 7,2 Prozent eine Tracht Prügel. Selbst eingesetzt haben 42,7 Prozent einen Klaps auf den Hintern, 17,6 Prozent eine Ohrfeige, 0,3 Prozent eine Tracht Prügel.

Die Zahlen der ausgeübten Gewalt sind im Vergleich zu einer Studie aus dem Jahr 2005 deutlich niedriger: 76 Prozent halten einen Klaps auf den Hintern und 53,7 Prozent eine Ohrfeige für angebracht. Im Vergleich zu 2016 stagnieren die Zahlen bzw. steigen an: 44,7 Prozent: Klaps auf den Hintern, 17 Prozent: Ohrfeige.

Christian Schneider, der UNICEF-Geschäftsführer äußerte sich in der Pressekonferenz am 19. November besorgt über das stabil bleibende Niveau der Akzeptanz von körperlicher Gewalt in der Kindererziehung:

Gleichzeitig findet ein beachtlicher Teil unserer Bevölkerung zum Beispiel eine Ohrfeige noch immer in Ordnung. Stellen wir uns das für einen Moment unter uns Erwachsenen vor: Jede oder jeder sechste von uns wäre bereit, ihr oder sein Gegenüber zu ohrfeigen, wenn es die Situation nun einmal hergibt. Jede oder jeder zweite von uns würde es für angemessen halten, dem Anderen auf den Hintern zu schlagen. Unvorstellbar, nicht wahr? Ausgerechnet im Umgang mit Kindern sieht das offenbar weiter genau so aus, im Jahr 2020.

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Beeinflussende Faktoren – Alter und Geschlecht

Die Zustimmung zu körperlicher Gewalt ist stark vom Geschlecht beeinflusst. Signifikant mehr Männer befürworteten die Anwendung körperlicher Gewalt an Kindern.

Deutlich zeigt sich auch eine Abhängigkeit vom Alter. Durch die Aufteilung der Befragten in drei Altersgruppen – 14 bis 30, 31 bis 60 und 61 bis 95 – wird sichtbar, dass die Zustimmung zu körperlicher Gewalt gegen Kinder besonders bei der ältesten Gruppe signifikant höher liegt.

Selbsterlebte Gewalt führt zur Akzeptanz von Gewalt in der Kindererziehung

Eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit haben einen besonders großen Einfluss auf die Akzeptanz und Anwendung von körperlicher Gewalt bei den eigenen Kindern. Angewandt auf die Einstellung zu bestimmten Körperstrafen zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang. Zustimmend beantworteten:

Die Studie kommt zu dem Schluss:

Gewalt kann für das Leben von Kindern langanhaltende Folgen haben und setzt sich in der nächsten Generation häufig fort. Dieses Phänomen wird oft als Teufelskreis der Gewalt beschrieben. […] So stimmen Teilnehmende, die selbst als Kind Körperstrafen erlebt haben, Körperstrafen in der Erziehung eher zu als Menschen, die ohne Gewalt groß geworden sind. Dies bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, der Aussage 'ein Klaps auf dem Hintern hat noch keinem Kind geschadet' zuzustimmen, in der Gruppe, welche selbst Körperstrafen in der Kindheit erlebt hat, fast 16-mal so hoch ist wie in der Gruppe, welche keine Körperstrafen in der Kindheit erlebt hat.

Neben der körperlichen Gewalt umfasst die Studie auch Aspekte der emotionalen Gewalt. Dabei zeigt sich ebenfalls ein signifikanter Einfluss der selbst erlebten emotionalen Gewalt und der eigenen Ausübung emotionaler und körperlicher Gewalt. UNICEF stellt klar heraus: Auch psychische Gewalt ist klar als Gewalt zu werten. Aussagen wie "Du schaffst das nie", "Du Versager" oder "Du bist eine Schande" sind als Akt der Gewalt gegen Kindern zu bewerten.

Die Langzeitfolgen nach psychischer Misshandlung und Vernachlässigung sind hierbei nicht geringer einzuschätzen als nach dem Erleben körperlicher Gewalt in der Kindheit oder Jugend. Vielmehr können jegliche Formen der Kindesmisshandlung das spätere Leben der Betroffenen auf vielfältige Weise beeinflussen. Die Folgen umfassen psychosoziale Beeinträchtigungen und wirtschaftliche Auswirkungen, eine signifikante Verringerung der Lebensqualität und eine deutlich erhöhte Morbidität. […] Je mehr Formen von Kindesmisshandlung erlebt werden, desto schwerwiegender sind die körperlichen, psychischen und sozialen Langzeitfolgen für die Betroffenen.

Insgesamt wurden in der Studie 2.503 Personen befragt – 1.256 Frauen und 1.247 Männer, 444 Personen zwischen 14 und 30 Jahren, 1.358 zwischen 31 und 60 Jahren und 700 über 61 Jahre alt. Darüber hinaus wurde auf eine ausgeglichene demographische Aufteilung geachtet etwa nach Einkommen und Bildungsabschluss.

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Verschärfung der Situation für die Kinder durch Corona-Maßnahmen

Nicht berücksichtigt wurden aktuelle Entwicklungen durch Corona-Maßnahmen wie Kontakteinschränkungen, Homeoffice oder Schließungen von Kitas und Schulen im Frühjahr. Diese nehmen einen signifikanten Einfluss auf das Wohlergehen der Kinder, stellt UNICEF-Geschäftsführer Christian Schneider fest.

Gerade in diesem Jahr, angesichts der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, hat sich das Risiko von Gewalt in der Erziehung noch einmal deutlich verschärft. Das beobachtet UNICEF überall auf der Welt – und auch hierzulande. Noch ist schwer zu sagen, in welchem Ausmaß die Gewalt gegen Kinder während der Pandemie zugenommen hat – es fehlen umfassende, belastbare Zahlen. Es gibt jedoch erste Hinweise: So gab die Berliner Gewaltschutzambulanz im Sommer bekannt, dass dort die Fälle von Kindesmisshandlungen 2020 im ersten Halbjahr um 23 Prozent gestiegen sind im Vergleich zu 2019.

Besorgt äußert sich die UN-Sonderbeauftragte zu Gewalt gegen Kinder, Dr. Najat Maalla M'jid:

Die COVID-19-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung haben für Kinder das Risiko erhöht, dass sie Gewalt in ihrem Zuhause, online und in ihrem Umfeld erfahren. Insbesondere für Kinder, die bereits zuvor gefährdet waren, haben sich die Risiken verschärft. Außerdem waren und sind grundlegende Unterstützungsangebote, um Gewalt zu verhindern und darauf zu reagieren, genau zu dem Zeitpunkt eingeschränkt, an dem Kinder sie am dringendsten benötigen.

Ekin Deligöz, Vizepräsidentin des Deutschen Kinderschutzbundes – Mitherausgeber der aktuellen Studie – zieht den Schluss, dass die Einführung des Rechts jedes Kindes auf gewaltfreie Erziehung im November 2000 ein notwendiger Schritt war. Aber damit sei das Problem noch lange nicht gelöst:

Denn das Recht jedes Kindes auf gewaltfreie Erziehung geht weit über den Verzicht auf körperliche Bestrafungen hinaus. Es ist eine Frage der gesellschaftlichen Haltung. Die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz ist ein längst überfälliger Schritt, um die Rechte der Kinder auf Schutz, Förderung und Beteiligung zu stärken.

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