Röttgens Logik: USA wollen Nord Stream 2 nicht, also sollte ihnen Europa zuvorkommen
von Kani Tuyala
Norbert Röttgen, der wohl umtriebigste Transatlantiker der deutschen Politszene, demonstrierte in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erneut seine geradezu verblüffende Fähigkeit zur eindimensionalen Betrachtung geopolitischer Gegebenheiten.
Das ist umso bemerkenswerter, weil der CDU-Politiker als Kanzlerkandidat für sich in Anspruch nimmt, auf dem Gebiet der Experte zu sein:
Die großen Treiber (der Zukunft) sind Technologie und Geopolitik", weiß Röttgen.
Zudem sei China "nicht mehr nur ein großer Markt, sondern ein geostrategischer Akteur" und "das Verhältnis zu Russland wird komplizierter", fährt der CDU-Politiker fort.
Damit sind gleich zu Beginn die von Röttgen ausgemachten strategischen Kontrahenten vorgestellt. China als Weltmacht ein "geostrategischer Akteur"? Jetzt muss für "Freiheit" und "Demokratie" eingestanden werden! Bei anderen drückt man gerne beide Augen zu. Und dass das Verhältnis zu Russland "komplizierter" werde, kann in der Gedankenwelt von Röttgen natürlich nur an "Russland" selbst liegen. Doch noch läuft er sich nur warm.
Dass der russische Außenminister Sergei Lawrow Deutschland im Fall des mutmaßlich mit einer hochtoxischen Substanz aus der Nowitschok-Gruppe vergifteten Nawalny zur Kooperation aufrief, sind für den Dauergast in der bundesdeutschen Talkshowlandschaft reine "Vernebelung und Zynismus". Für den studierten Juristen ist es längst selbstverständlich, dass es hier der Angeklagte ist, der seine Unschuld zu beweisen hat.
Dass russische Ermittler sich anmaßen, auch zu Substanzen und Umständen in Deutschland ermitteln oder gar mit Nawalny sprechen zu wollen, um zur ja offiziell von der Bundesregierung gewollten "Aufklärung" beizutragen, kann deshalb nur eine besonders perfide Kreml-Strategie sein.
Der Fall Nawalny ist ein weiterer Fall in einer Serie und ist Ausdruck eines menschenverachtenden politischen Systems", schließt Ermittler Röttgen den Fall für sich ab.
Die Frage "Cui bono?" räumt der Kandidat für den CDU-Vorsitz natürlich gleich mit vom Tisch, schließlich haben wir es mit dem "Machtmenschen Putin" zu tun, dem Röttgen offensichtlich obendrein jegliche Rationalität und geostrategische Klugheit abspricht.
Mit der Vergiftung, die auch noch bewusst öffentlich dargeboten wurde, ist das Maß voll", wettert der gerne hemdsärmelig argumentierende Röttgen.
Eine "bewusst öffentlich dargebotene" Vergiftung – obwohl der Herr im Kreml gewusst haben muss, dass damit eine Debatte um das kurz vor Fertigstellung stehende Pipelineprojekt Nord Stream 2 losbrechen würde. Mal ist "Putin" kühl-berechnend, mal liebt er offensichtlich das absolut unkalkulierbare und hochriskante politische Spiel mit dem Feuer. Je nach Anlass sind diese verwegenen Zuschreibungen eben beliebig austauschbar.
Diesmal zog es "Russland" – also Putin – vor, einen politisch unbedeutenden und nur in der westlichen Hemisphäre hochgeschätzten "Regimekritiker", Politblogger und "Oppositionellen" mit ultranationalistischer Vergangenheit (Stichwort: "Migranten sind Kakerlaken") aus dem Weg zu räumen, anstatt die Vollendung des transeuropäischen Pipelineprojekts zu verfolgen.
Aber sei's drum: "Es muss eine Reaktion erfolgen", fordert Röttgen. Und wie diese aussieht, lag für ihn seit Stunde eins nach Bekanntwerden der Nawalny-Vergiftung auf der Hand.
Durch das allgemeine Gefühl, dass dieses Mal einmal zu viel war, ist ein europäisches Momentum entstanden. Jetzt kann nicht mehr mit diplomatischen Standardformeln reagiert werden, sondern Europa muss eine politische Antwort geben, die Russlands Präsident Wladimir Putin auch versteht. Dabei hat die Pipeline Nord Stream 2 eine zentrale Bedeutung. Wenn wir dieses Projekt in einem Jahr einweihen, nimmt Moskau uns nicht mehr ernst", weiß Russland-Experte Röttgen.
Und dann sind sie auch schon wieder da, die "machtpolitischen Ziele" Putins, denn natürlich möchte der russische Präsident durch Nord Stream 2 erstens: "die gesamte Ukraine – nicht mehr nur den Osten – destabilisieren. Das wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum machtpolitischen Ziel Putins". Und zweitens:
Er will die Staaten entlang der russischen Westgrenze von Georgien über die Moldau und die Ukraine bis Weißrussland zu einer russischen Einflusszone machen. Moskau verweigert diesen Ländern das volle Selbstbestimmungsrecht und möchte erreichen, dass Europa das toleriert.
Anschließend wird es zumindest auf groteske Weise interessant, denn nun verlässt die NZZ die von Röttgen bevorzugte Eindimensionalität.
Kommt Nord Stream 2 nicht, hätte Präsident Trump sein Ziel erreicht. Er hatte Europa unter Druck gesetzt, das Projekt zu stoppen", heißt es nun seitens der NZZ.
Geschenkt, dass sich bereits Trumps Vorgänger Barack Obama, wenn auch diplomatisch, so doch unmissverständlich gegen die Erdgaspipeline aussprach.
Geradezu bizarr ist Röttgens Einspruch gegen diese Feststellung.
Da muss ich widersprechen. Wenn die Europäer keine Entscheidung treffen, aber amerikanische Sanktionen das Aus von Nord Stream 2 bewirken, hätten die Amerikaner eine europäische Entscheidung getroffen. Wenn aber wir Europäer einem Unrechtssystem entgegentreten, ist es unsere Entscheidung. Darum spreche ich von einem europäischen Moment.
Man weiß nicht, ob er sich gerade um Kopf und Kragen redet oder diese Einlassung schlicht seiner eigenen und speziellen Logik als "Außenexperte" der Christdemokraten entspringt. Mit der Demonstration außenpolitischer Souveränität hat dieser Widerspruch jedoch gewiss nichts zu tun.
Für einen Röttgen besteht "das europäische Moment" also darin, einer von der US-Administration ohnehin bereits lange gefällten "machtpolitischen" Entscheidung nun auf EU-Ebene durch eine "eigene" – mit gleichem Ergebnis, aber nun gegen ein "Unrechtssystem" gerichtete – "zuvorzukommen". Und dabei soll der US-Druck dann keinerlei Rolle gespielt haben? Zumal es wohl eben nicht die "amerikanischen Sanktionen" sein würden, die Nord Stream 2 den Garaus machen.
So also sehen dann "europäische Entscheidungen" für den Kanzlerkandidaten Röttgen aus.
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