Trotz gegenteiliger Weisung: Jobcenter sanktionierten zu Beginn der Pandemie-Maßnahmen weiter
von Susan Bonath
Die Tafeln und Behörden waren geschlossen, günstige Produkte ausverkauft und viele Hilfsangebote lagen auf Eis: Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie trafen die Ärmsten besonders hart. Offiziell hatte die Bundesagentur für Arbeit (BA) ein Einsehen: Sie gab zu Beginn der Pandemie in Deutschland eine Weisung an die Jobcenter heraus, alle Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher ab dem 1. April vorübergehend auszusetzen. Doch nun stellt sich heraus: So, wie es formuliert war, hat sie es offensichtlich nicht gemeint. Viele Jobcenter sanktionierten auch im April munter weiter. Das geht aus der neuen BA-Statistik hervor.
Zehntausende Menschen betroffen
Die Kürzungen wegen Verstößen gegen diverse Auflagen, etwa die Pflicht, eine bestimmte Anzahl von Bewerbungen nachzuweisen oder Maßnahmen zu absolvieren, würden ab sofort vorübergehend ausgesetzt, heißt es in der damaligen Weisung. Denn wegen geschlossener Jobcenter könnten die "Vergehen" nicht ausreichend ermittelt werden. Es sei "nicht auszuschließen, dass eine unzumutbare Härte vorliegt".
Die in dieser Woche veröffentlichte Sanktionsstatistik der BA offenbart nun anderes. Knapp 26.000 Kürzungsstrafen stellten die Jobcenter demnach im Monat April neu fest. Der Bestand an "zum Stichtag wirksamen Sanktionen" lag sogar bei über 65.000. Gemeint sind damit Sanktionen, die in den Vormonaten verhängt wurden und bei einer Dauer von drei Monaten im April noch gültig waren. Davon waren demnach gut 47.000 Menschen betroffen – einige mussten also mehrere Sanktionen gleichzeitig absitzen.
Jedes Jobcenter sanktionierte weiter nach Belieben
Besonders stark erwischt hatte es jene Hartz-IV-Bezieher, die von den Behörden als arbeitslos geführt wurden. Das waren von knapp vier Millionen über 15-jährigen Erwerbsfähigen rund 1,6 Millionen. Hier schlugen die Jobcenter in Sachsen insgesamt am strengsten zu. Von Kürzungen waren dort im April 2,7 Prozent aus dieser Gruppe betroffen. Dem folgt Rheinland-Pfalz mit einer Sanktionsquote von 2,6 Prozent, Brandenburg mit 2,4 Prozent und Thüringen mit 2,3 Prozent.
Zwischen den einzelnen Jobcentern gab es aber große Unterschiede. So war es durchaus möglich, alle Sanktionen komplett zu stoppen. Dies geschah beispielsweise in Delmenhorst und Wilhelmshaven in Niedersachsen, in Essen, Recklinghausen und Wuppertal in Nordrhein-Westfalen (NRW) sowie im bayerischen Freising. Dort wurde im April tatsächlich niemand mehr sanktioniert.
Anderswo schlugen die Jobcenter offenbar noch einmal richtig zu. Spitzenreiter beim Kürzen der mageren Leistungen war die Behörde in der Südwestpfalz, wo 8,5 Prozent der als arbeitslos gezählten Hartz-IV-Bezieher unter einer Kürzung litten. Den zweiten Platz belegte das Jobcenter Passau (7,2 Prozent), gefolgt von den Ämtern in Worms (sieben Prozent) und Hildburghausen (6,4 Prozent).
Besonders hohe Sanktionsquoten verbuchten im April auch die Jobcenter im baden-württembergischen Sigmaringen (5,9 Prozent), in Bayern in Neu-Ulm (5,8 Prozent), Rosenheim (5,6 Prozent), Weißenburg-Gunzenhausen (5,5 Prozent) und Pfaffenhofen (5,4 Prozent). In Rheinland-Pfalz ragten neben den Spitzenreitern Südwestpfalz und Worms auch die Ämter in der Vulkaneifel (5,4 Prozent) und Kusel (5,3 Prozent) besonders mit ihrem Sanktioneifer hervor. In Sachsen-Anhalt schlug vor allem das Jobcenter im Landkreis Harz heftig zu. Es hatte im April 5,4 Prozent der erwerbslosen Hartz-IV-Bezieher die Bezüge gekürzt. Ein alleinstehender erwerbsfähiger Hartz-IV-Bezieher erhält derzeit 432 Euro pro Monat; Partner und Kinder bekommen je nach Alter weniger. Für unter Sechsjährige gibt es noch 250 Euro.
BA: War nicht so gemeint
Auf Nachfrage der Autorin reagierte BA-Sprecher Christian Ludwig ausweichend. Seine Behörde habe mit dieser Weisung keineswegs verfügt, wirklich alle Sanktionen zu stoppen, stellte er klar. So liege den im April ausgewiesenen "neu festgestellten Sanktionen" ein "pflichtwidriges Verhalten vor dem Monat April" zugrunde. Für einen Stopp der daran geknüpften Kürzungen biete die Weisung "keine Rechtsgrundlage".
Doch die Jobcenter, die auf diese Weisung hin dennoch alle Sanktionen rigoros gestoppt und im April keinen Betroffenen mehr ausgewiesen hatten, sahen die Rechtsgrundlage offenbar doch. Dies zeige, "dass es möglich und die Weisung wohl beliebig auslegbar war", resümierte die Ex-Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann im Gespräch mit der Autorin. Das Vorgehen empfinde sie als "Freibrief für Willkür auf Kosten der Erwerbslosen".
Urteil des Bundesverfassungsgerichts ignoriert?
Möglicherweise hätten die Jobcenter mit Zustimmung der BA damit sogar ein Urteil des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom November 2019 ignoriert, mahnte Hannemann darüber hinaus. Die höchsten Richter in Karlsruhe erklärten darin nicht nur Sanktionen von mehr als 30 Prozent für "derzeit unverhältnismäßig".
Das BVerfG verpflichtete den Gesetzgeber auch dazu, Leistungsabhängigen die Möglichkeit einzuräumen, ihre Auflagen nachträglich zu erfüllen, um die Kürzung vor dem Ablauf von drei Monaten zu stoppen. Denn der Entzug eines Teils des soziokulturellen und physischen Existenzminimums sei ein "erheblicher Eingriff". Da aber die Jobcenter für den Kundenverkehr geschlossen waren, erklärte Hannemann, "konnten viele Betroffene dieses Recht überhaupt nicht nutzen".
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