Maskenpflicht im Unterricht: Kalkulierte Kindeswohlgefährdung?
von Susan Bonath
Am Mittwoch startet in Nordrhein-Westfalen (NRW) das neue Schuljahr. Doch die einschneidenden Corona-Auflagen für die Kinder und Jugendlichen, die das Schulministerium verfügt hat, gehen vielen Medizinern, Schülern, Pädagogen und Gewerkschaftern zu weit. Vor allem die geforderte Maskenpflicht im gesamten Unterricht schon für zehnjährige Fünftklässler treibt sie auf die Barrikaden. Unverhältnismäßig sei dies, eine Gefahr für die Entwicklung, die Gesundheit und die Psyche der Kinder, kritisieren zum Beispiel mehr als 100 Ärzte, Lehrer und Sozialarbeiter in einem offenen Brief an das Ministerium. Dieses ignoriert bisher alle Bedenken. Auf Nachfrage der Autorin berief es sich stur auf allgemeine Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (RKI). Weder hat es mögliche Folgen geprüft noch jemals Kinder als "Infektionsquelle" identifiziert.
Schulministerin droht Kindern ohne Maske mit Rauswurf
Am Montag hatte das Schulministerium in NRW seine neuen "Hygiene- und Infektionsschutzvorgaben" veröffentlicht. Um "den Schulen einen Regelbetrieb zu ermöglichen", gelten zunächst bis zum 31. August verschärfte Bedingungen. "Insbesondere wird die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in den Schulen deutlich ausgeweitet", teilte es mit. Danach müssen alle Kinder und Jugendlichen ab Klassenstufe 5 aufwärts die ganze Zeit über eine Maske tragen – im gesamten Schulgelände und auch im Unterricht.
Sollten Schüler dagegen verstoßen, droht ihnen in letzter Konsequenz sogar ein Verweis von der Schule, wie Landesschulministerin Yvonne Gebauer (FDP) in einem Interview ankündigte. Ihr sei zwar bewusst, dass Masken ihre Träger gerade bei heißem Wetter "besonders beeinträchtigen". Wegen des Infektionsgeschehens seien sie aber "alternativlos".
Nachdem erste kritische Stimmen, auch von Eltern, laut geworden waren, mischte sich die Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina ein. In einer "Ad-hoc-Stellungnahme" empfahl sie die Maskenpflicht ab Klasse 5, "wenn Abstandsregeln nicht eingehalten werden können" auch im Unterricht. An dem Papier arbeitete der Charité-Virologe Christian Drosten mit. Er und das RKI geben in Sachen Corona weitgehend den Ton an.
Leipziger Forscher: Maske kann zu gesundheitlichen Problemen führen
Die angebliche Wirksamkeit von Stoffmasken im Unterricht als Infektionsschutzmaßnahme scheint indes durch nichts belegt zu sein. Im Gegenteil: Einer im Juli veröffentlichen Studie von Herzspezialisten, Chirurgen und Sportmedizinern des Universitätsklinikums Leipzig zufolge vermindert das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes die körperliche Belastbarkeit sogar von Gesunden erheblich.
In ihren Versuchen mit OP-Masken sowie FFP2-Masken habe sich ergeben, so die Autoren, "dass die kardiopulmonale Leistungsfähigkeit durch beide Masken-Typen signifikant reduziert wird". Das bedeutet: Herz- und Lungenfunktion werden massiv beeinträchtigt. Dies führe besonders bei körperlicher Anstrengung schnell zu einer Ansäuerung des Blutes, heißt es. Zudem fühlten sich die Probanden auch subjektiv enorm beeinträchtigt. Dass dieses Gefühl kein Hirngespinst ist, sei nun wissenschaftlich belegt, so die Autoren. "Übertragen auf die Arbeitswelt stellt sich schon die Frage, ob Menschen, die mit Masken körperlich anstrengende Arbeit leisten, öfter Pause machen müssen als bisher".
Kritiker: Wirksamkeit sei unbelegt, Folgen nicht einkalkuliert
Auch Mediziner überwanden sich und stellten sich dem feindseligen gesellschaftichen und politischen Klima gegenüber sogenannten "Maskenverweigerern". "Ein längeres Maskentragen beeinträchtigt bei Schülern die Leistungsfähigkeit", sagte der Präsident des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Er sieht zudem psychische Auswirkungen auf die Kinder, da der Blickkontakt in der Kommunikation gestört werde. In einer gemeinsamen Stellungnahme empfehlen Kinder- und Jugendmediziner je nach Infektionsgeschehen lediglich das Maskentragen außerhalb der Unterrichtsräume.
Auch die Betroffenen selbst meldeten sich zu Wort. Der Sprecher der Bundesschülerkonferenz, Torben Krauß, sagte, das Tragen einer Maske während des gesamten Unterrichts vor allem bei sommerlichen Temperaturen sei "eine Zumutung".
Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaften (GEW) in NRW hält Masken im Unterricht für "pädagogisch unsinnig" und einen "hilflosen Versuch, den Regelbetrieb durchzusetzen". Seitens der Landeselternschaft der integrierten Schulen in NRW wurde kritisiert, dass Ministerin Gebauer kürzlich zugesichert hatte, keinen Maskenzwang im Unterricht einzuführen. Den Schwenk ins Gegenteil habe ihre Behörde nicht begründet.
Ärzte und Pädagogen fürchten schwerwiegende Kollateralschäden
Nun erklärten zudem mehr als 100 Mediziner und Pädagogen die Maßnahme in einem offenen Brief an das Schulministerium für "unverhältnismäßig". Dieser Erlass bereite ihnen "große Sorgen in Bezug auf die Entwicklung und psychische Gesundheit unserer Kinder und kleinen Patienten", heißt es darin.
So seien Kinder vor der Pubertät sehr abhängig von einer emotionalen Beziehung zu ihren Lehrern. Mobbing im Internet unter Minderjährigen resultiere unter anderem aus dem fehlenden physischen Kontakt von Angesicht zu Angesicht, geben die Unterzeichner zu Bedenken. In der Praxis mehrten sich darüber hinaus bereits jetzt psychische Auswirkungen der Corona-Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen, wie Zwangs-, Angst- und Schlafstörungen sowie Verhaltensauffälligkeiten. Dies schlage sich auch auf das Immunsystem nieder: Kinder mit psychischen Problemen seien anfälliger für Infekte.
Unverhältnismäßig, wissenschaftlich unbegründet und ohne Rechtsgrundlage
Ferner kritisierten die Unterzeichner des offenen Briefs die fehlenden Belege dafür, dass Alltagsmasken irgendeinen wirksamen Schutz vor Infektionen liefern könnten. Unter Berufung auf Forschungsergebnisse des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) betonen sie, die Landesregierung sei den Nachweis eines positiven Effekts der Alltagsmasken bislang schuldig geblieben. Es fehlten damit "jede Verhältnismäßigkeit, wissenschaftliche Begründung und Rechtsgrundlage für ihr Vorgehen". Die Autoren wollen parallel zu ihrem Brief eine "juristische Intervention", also eine Klage prüfen.
Landesregierung hat keinen Beleg für Nutzen und Infektionsgefahr
Eine sachliche Begründung der Maßnahmen blieb das Landesschulministerium auch auf eine Anfrage der Autorin schuldig. Im Gegenteil: Keine einzige Schule in NRW sei bisher als Infektionsherd identifiziert worden, teilte Behördensprecher Ulrich Lensing mit. Lediglich habe es vereinzelt Positivfälle gegeben, die sich auch außerhalb der Schule ereignet haben könnten. Man habe auch "keine gesonderten Erkenntnisse" dazu, ob ein Kind oder Jugendlicher je als Infektionsquelle ausfindig gemacht werden konnte. Man wisse aber, "dass auch Kinder sich anstecken können sowie ansteckend sein können".
Wissenschaftliche Studien oder eigene Prüfungen zur Wirksamkeit von Masken konnte das Ministerium ebenfalls nicht vorweisen. Stattdessen berief es sich auf eine Kurzerklärung des Robert Koch-Instituts (RKI). Dieses empfiehlt darin zwar das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen im öffentlichen Raum "in bestimmten Situationen als weiteren Baustein zum Schutz von Risikogruppen". Bezug auf Schulen und Kinder nimmt es darin allerdings nicht.
Außerdem beruft sich die NRW-Regierung auf eine Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin. Zwar hält diese demnach das Tragen einer Maske in bestimmten Situationen in Schulen vor allem für Lehrer für geboten. Doch auch hier ist nichts über eine Maskenpflicht im Unterricht zu lesen.
Nebenwirkungen wurden nicht geprüft
Mehr noch: Die oben im Artikel erwähnte Studie der Leipziger Uni, die starke Beeinträchtigungen durch Masken belegt, relativierte die Erlassbehörde damit, dass die Versuche mit Operations- und FFP2-Masken durchgeführt worden seien, nicht aber mit den gebotenen einfachen Stoffbedeckungen. Allerdings stellt das Land zugleich FFP2-Masken für den Fall zur Verfügung, falls ein Kind sein Utensil vergessen haben sollte.
Zu den wissenschaftlich belegten gesundheitlichen Problemen durch das Dauertragen von Masken hieß es nur: Diese Ergebnisse seien "erwartbar" gewesen. Es gehe "im Schulunterricht aber weitgehend um geistige, nicht um körperliche Leistungen".
Hinzu kommt: Mögliche Kollateralschäden haben die Verantwortlichen völlig außer Acht gelassen. Medizinische, psychische und soziale Folgen wurden der Antwort zufolge nicht näher geprüft. Der Sprecher berief sich stur auf jene Mitteilungen, worin entweder gar nichts zu Kindern oder aber nichts über das Tragen einer Maske im Unterricht verlautbart wurde. Ebenso gab es keine gesonderten Schulungen für Lehrer in Notfällen, also etwa bei auftretender Atemnot.
Die Konsequenzen bei Zuwiderhandlungen gegen die Maskenpflicht zählt der Sprecher indes breit gefächert auf: Zunächst werde ein Gespräch mit den Eltern geführt. Wirkten diese nicht ausreichend auf ihr Kind ein, damit es künftig ohne Widerwillen seine Maske trägt, griffen "Ordnungsmaßnahmen", wie ein schriftlicher Verweis oder der vorübergehende Ausschluss vom Unterricht.
Bundesregierung hat "keine verlässliche Datengrundlage"
Nicht nur, dass inzwischen weitere Länder wie Bayern und Niedersachsen über eine Maskenpflicht im Unterricht nachdenken. Auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) machte bereits massiv Stimmung für das Tragen dieser Bedeckung auch während des gesamten Unterrichts. Auf Nachfrage verwies jedoch auch ihr Ministerium auf dieselbe allgemeine Stellungnahme des RKI, wie die NRW-Behörde.
Ansonsten schwadronierte es von einer angeblichen "Abwägung der Schutzwirkung gegenüber möglichen Belastungen". Belege für das eine und das andere lieferte das Bundesministerium derweil ebenso wenig wie die NRW-Landesregierung. Und schließlich relativierte die Sprecherin in ähnlicher Weise: In der Leipziger Studie gehe es um körperliche, nicht geistige Belastung. Zugleich räumte sie dann aber doch ein:
"Nach Bewertung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und der gemeinsamen Stellungnahme des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte sowie der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin gibt es aktuell keine verlässliche Datengrundlage zur Auswirkung eines länger andauernden Tragens von Masken bei Kindern."
Trotzdem, so die Bundesbehörde, hätten "Experten" geäußert, dass ein regelmäßiges Tragen einer Maske ab einem Alter von sechs Jahren erwogen werden könne. Zuständig dafür seien aber die Bundesländer.
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