Wirtschaftskrise mit Corona: Die "Kleinen" verlieren
von Susan Bonath
Das Rüstungsgeschäft boomt, der Versandhandel brummt, Digitalunternehmen sahnen ab, und die Pharmaindustrie macht Reibach. Für viele Kleinunternehmer und Lohnabhängige wird es in Zeiten von Wirtschaftskrise und Anti-Corona-Maßnahmen hingegen eng. Die Zahl der Arbeitslosen im Industriestaat Deutschland wächst. Unternehmen schickten fünfmal so viele Beschäftigte in die Kurzarbeit wie zur Zeit der Finanzkrise vor elf Jahren. Mehr als eine halbe Million Soloselbstständige stehen vor dem Nichts, fast dreimal so viele kämpfen mit drastischen Einkommenseinbußen. Das geht aus ersten Daten für den Monat Mai hervor, die in den vergangenen Tagen vorgelegt wurden.
Hunderttausende entlassen
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hatte Mitte Mai bereits 2,81 Millionen Arbeitslose registriert. Das geht aus ihren neuen Daten hervor, die sie am Mittwoch veröffentlicht hat. Demnach verloren seit Beginn der Pandemiemaßnahmen eine halbe Million Menschen ihren Job. Nur die Hälfte von ihnen hatte Anspruch auf die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld 1 (ALG I), wie aus einer Behördenstatistik hervorgeht. Dieser zufolge bezogen Mitte Mai mit rund 1,17 Millionen knapp 250.000 mehr Menschen ALG I als im März.
Der andere Teil rutschte offensichtlich sofort in das Hartz-IV-System. Hier registrierte die BA für den Monat Mai mit 5,92 Millionen rund 300.000 mehr Menschen als im März, die in einem Haushalt im Hartz-IV-Bezug lebten. Darunter waren fast zwei Millionen mitbetroffene Kinder. Ihre Zahl wuchs binnen zwei Monaten um etwa 800.000 betroffene Minderjährige an. Die Zahl der erwerbsfähigen Hartz-IV-Berechtigten kletterte in diesem Zeitraum von 3,8 auf über vier Millionen.
Versteckte Arbeitslose
Allerdings erfasst die Nürnberger Behörde nicht alle tatsächlich Arbeitslosen. Wer sein 58. Lebensjahr vollendet hat, von der Arbeitsagentur oder dem Jobcenter in eine Maßnahme geschickt wurde, kleine Kinder unter drei Jahren erzieht oder kurzfristig krank geschrieben ist, fällt nicht in dieses Zahlenwerk, sondern findet sich in einer gesonderten Statistik für "Unterbeschäftigung" wieder. Wie das Portal "O-Ton Arbeitsmarkt" jetzt ermittelt hat, betrifft dies rund eine Dreiviertelmillion Menschen. Demnach waren im Mai tatsächlich fast 3,6 Millionen erwerbsfähige Menschen ohne Job.
Fast jeder Vierte in Kurzarbeit
Tausende Unternehmen sind derweil im Modus des Krisenmanagements. Insgesamt gingen den Daten zufolge zwischen dem 1. März und dem 27. Mai mehr als 850.000 Anzeigen von Firmen bei den Arbeitsagenturen ein, um 11,7 Millionen Beschäftigte vorsorglich für potentielle Kurzarbeit anzumelden.
Nicht alle davon waren bisher tatsächlich betroffen. Aber bereits im März bezogen laut BA zwei Millionen Menschen Kurzarbeitergeld, was bereits "weit über den Werten der Rezession 2008/ 2009 lag", erklärte die Behörde. Damals hatte es zur Hochzeit vor genau elf Jahren 1,44 Millionen Beschäftigte betroffen.
Inzwischen hat sich die Zahl der Kurzarbeiter noch potenziert. Laut einer zu Beginn dieser Woche veröffentlichten Analyse des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung der Universität München befanden sich im Mai bereits 7,3 Millionen abhängig Beschäftigte in Deutschland in Kurzarbeit. Das ist fast jeder vierte Arbeiter oder Angestellte mit einem sozialversicherungspflichtigen Job.
"Große Verunsicherung" in vielen Branchen
Der Ifo-Studie zufolge saß im produzierenden Gewerbe jeder Dritte bei weniger Geld ganz oder teilweise zu Hause. Das sind insgesamt 2,2 Millionen Arbeiter. In der Dienstleistungsbranche, die für produzierende Firmen tätig ist, traf es sogar zweieinhalb Millionen Beschäftigte – und damit jeden Vierten. Der Handel schickte demnach 1,3 von 4,5 Millionen Angestellten in die Kurzarbeit, in den anderen Branchen waren ebenfalls mehr als eine Million Menschen betroffen. Die geringste Kurzarbeiterquote verzeichnete demnach das Baugewerbe mit 22.000 betroffenen Arbeitern.
Im Gegensatz zur Finanzkrise 2008/2009, als mehr als 80 Prozent der Kurzarbeiter in der Industrie beschäftigt waren, wird das Mittel in der Coronakrise über fast alle Wirtschaftszweige hinweg eingesetzt“, kommentierte der für Arbeitsmarktpolitik zuständige Ifo-Sprecher Sebastian Link die Studie.
Die Ifo-Forscher prognostizieren insgesamt einen "Abbau von bis zu 1,8 Millionen Arbeitsplätzen durch den ab Mitte März verfügten Shutdown" in den kommenden Monaten. Vor allem bei Reiseveranstaltern, im Tourismusgewerbe und in der Gastronomie, aber auch in der Automobilindustrie könnten Arbeitsplätze bröckeln. Dort herrsche "die größte Verunsicherung", so die Ifo-Analysten. Am wenigsten sorgten sich indes die Nahrungsmittel- und Immobilienbranche um ihre Umsätze.
Massenpleiten bei Soloselbstständigen
Auch Hunderttausende Freiberufler und Kleinstunternehmer ohne eigene Angestellte bangen um ihre Existenz. Laut einer Ende Mai veröffentlichten Umfrage des ZEW – Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung rechnet ein Viertel der 2,2 Millionen Soloselbstständigen mit dem totalen Verlust der Arbeitsaufträge und des Einkommens.
Rund 60 Prozent der befragten Kleinstunternehmer gaben sogar an, dass ihr Umsatz seit März um mindestens 75 Prozent eingebrochen sei. Die meisten davon hätten ihre Tätigkeit zeitweise nicht ausüben können. Etwa die Hälfte aller Soloselbstständigen habe die sogenannte Corona-Soforthilfe beantragt. Wer keine eigenen Angestellten hat, bekommt mit diesem Programm maximal 9.000 Euro, um betriebsbedingte Ausgaben stemmen zu können. Ein Großteil rechnet mit massiven Einkommenseinbußen für mehr als ein halbes Jahr.
Elendspandemie und Überproduktion
Weltweit hat die gegenwärtige Wirtschaftskrise dramatische Auswirkungen auf die Ärmsten. Der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Mathias Mogge, warnte Mitte Mai: "Wir müssen damit rechnen, dass die Zahl der Hungernden auf über eine Milliarde steigen wird." Für Hunderte Millionen Tagelöhner falle das Einkommen durch die Corona-Maßnahmen vollständig weg. "Für sie und ihre Familien ist die Gefahr, an Hunger zu sterben, bedrohlicher als das Virus selbst", so Mogge.
David Beasley, Chef des Welternährungsprogramms (WPF) der Vereinten Nationen (UN), mahnte bereits im April vor einer Hungerpandemie. "300.000 Menschen könnten jeden Tag sterben – nicht an einem Virus, sondern an Hunger." Die Maßnahmen, mit denen die Staaten die Pandemie bekämpfen wollen, könnten seiner Ansicht nach die Zahl der akut vom Hungertod Bedrohten verdoppeln. Am schlimmsten betroffen seien Menschen in zahlreichen afrikanischen Staaten, in Afghanistan, Pakistan und im Jemen.
Hunger in Industriestaaten
Auch in Industriestaaten wächst die Not. In den USA mussten Studien zufolge bereits vor der Pandemie etwa 37 Millionen Menschen mindestens zeitweise hungern. Jeder siebte US-Amerikaner nutzte demnach sogenannte Foodbanks, also karitative Zentren, die Essen an Bedürftige verteilen. In einer Befragung Anfang Mai gaben 17,4 Prozent der Mütter mit Kindern unter zwölf Jahren an, derzeit nicht genug Geld zu haben, um den Nachwuchs ausreichend zu ernähren. Insgesamt haben mehr als 40 Millionen US-Amerikaner seit Beginn der Pandemiemaßnahmen mindestens zeitweise ihren Job verloren. Staatliche Unterstützung gibt es im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" kaum.
Ähnliche Zustände drohen sich in Süd- und Osteuropa auszubreiten. Auch dort haben viele keinen Anspruch auf Sozialleistungen vom Staat. Aus Spanien und Italien wurde berichtet, dass selbst versprochene Hilfen für Menschen, die vorübergehend freigestellt wurden, teilweise zurückgehalten würden und Hunderttausende Saisonarbeiter und Tagelöhner gar nichts bekämen.
Produktion für die Mülltonne
Zugleich klagen Unternehmen über eine wachsende Überproduktion. Agrarunternehmen bleiben demnach wegen fehlender Kaufkraft und fehlgeleiteter Verteilung auf Fleisch- und Milchprodukten sitzen. Die Autoindustrie jammert über schwindenden Absatz. Hochrechnungen des Zentralverbands Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe (ZDK) vom 20. Mai zufolge rosten Zehntausende Neuwagen im Wert von 14,8 Milliarden Euro auf riesigen Abstellflächen vor sich hin oder werden in Autohäusern zu Ladenhütern und dürften die Müllberge wachsen lassen. Bisher haben Marktideologen keine Antwort auf diese Probleme.
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