Grundlage für weitreichende Entscheidungen: Stichproben sollen Corona-Dunkelziffer aufdecken
von Bernd Murawski
Vor zwei Wochen kündigte der Präsident des Robert Koch-Instituts, Prof. Dr. Lothar Wieler, an, dass bald zuverlässige Antikörpertests verfügbar seien. Dann ließe sich die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Bevölkerung erstmals zuverlässig abschätzen. Im Gegensatz zum PCR-Test, mit dem eine Infizierung während der akuten Phase festgestellt werden kann, gibt ein Antikörpertest Auskunft über bereits erreichte Immunität. Diese entsteht frühestens zehn Tage nach der Infektion, in der Regel nach etwa zwei Wochen.
Als größte Herausforderung bei der Entwicklung von Tests zur Identifizierung von Antikörpern hat sich der Tatbestand erwiesen, dass sie häufig bei anderen Corona-Viren anschlugen. Da seit einigen Tagen erste Massentests vorgenommen werden, besteht offenbar hohe Zuversicht, dass das Problem gelöst wurde und verlässliche Resultate zu erwarten sind.
Die umfangreichste Antikörper-Testaktion in Deutschland wird aktuell durch das Tropeninstitut der Universität München an 3.000 zufällig ausgewählten Probanden durchgeführt. Seit dem 5. April schwärmen bis zu 70 Medizinstudenten aus, um Blutproben zu sammeln und Hintergrundinformationen einzuholen. Bereits nach ein paar Tagen sollen erste Ergebnisse veröffentlicht werden. Aktualisierte Zahlen würden in gewissen Zeitabständen nachgereicht werden. Da sich die Studie insgesamt über etwa ein Jahr hinzieht, werden für die ersten Erhebungswerte gewisse Vorbehalte geltend gemacht.
Primäres Ziel der Antikörperstudien ist es, die Anzahl der bislang Infizierten annähernd zu erfassen. Diese Information ist für die Bestimmung der Letalität von SARS-CoV-2 unabdingbar. Bei regelmäßiger Wiederholung gewähren Tests ferner einen Einblick in die Ausbreitungsweise und -geschwindigkeit des Virus. Dieses Wissen ist für politische Führungen von zentraler Bedeutung, wenn sie Entscheidungen über einen sukzessiven Abbau der Eindämmungsmaßnahmen treffen. Die vom Robert Koch-Institut bislang publizierten Zahlen der positiv Getesteten und der mit COVID-19 Verstorbenen gestatteten keine fundierte Lagebeurteilung.
Ein Nachteil von Antikörpertests liegt in der Nichterfassung von aktuell Infizierten. Für die Ermittlung der Letalität ist dieses Defizit nicht gravierend, da ebenfalls der Tod mit Verzögerung eintritt. Nach chinesischen Untersuchungen vergehen zwischen Krankheitsbeginn und akutem Lungenversagen durchschnittlich acht bis neun Tage. Zwischen der Überführung in eine Intensivstation und dem Ableben eines Patienten dürften mehrere Tage liegen, sodass sich die Gesamtzeit von jener der Immunbildung kaum unterscheidet. Beide Zahlen sind somit vergleichbar und erlauben eine Abschätzung der Sterblichkeitsrate. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der ermittelte Wert auf einen Zeitpunkt der Infektion bezieht, der etwa zwei Wochen zurückliegt.
Breite Datenbasis aus Island
Die gegenwärtig wohl breiteste Stichprobe des isländischen Instituts deCODE Genetics bietet stattdessen aktuelle Zahlen. Bei der Berechnung der Letalität muss jedoch in Betracht gezogen werden, dass die durch das Virus verursachten Todesfälle erst zu einem späteren Zeitpunkt in der Statistik erscheinen. Dennoch lohnt es sich, die Zahlen genauer anzuschauen, zumal mit den 20.767 Probanden (Stand 11. April) eine breite Datenbasis existiert. Von den untersuchten Personen waren 150 mit SARS-CoV-2 infiziert, was einem Anteil von 0,72 Prozent entspricht.
Neben deCODE Genetics führt das National University Hospital of Iceland (NUHI) PCR-Tests durch. Wie in Deutschland konzentriert sich die isländische Universitätsklinik auf Personen, die in Krankenhäusern und in der Altenpflege tätig sind, bei denen ein Infektionsverdacht besteht oder die in Kontakt mit Corona-Infizierten waren. Von den insgesamt 13.298 Getesteten der Universitätsklinik waren 1.551 infiziert, das heißt 11,7 Prozent. Die große Differenz zu den Stichprobeergebnissen von deCODE Genetics dürfte einmal mehr belegen, dass die gegenwärtig durch das Robert Koch-Institut und die Johns-Hopkins-Universität verbreiteten Fallzahlen kaum geeignet sind, Rückschlüsse auf die Verbreitung des Coronavirus zu ziehen.
In Island sind bislang acht Personen gestorben, die an COVID-19 erkrankt waren. Soll die Mortalitätsrate bestimmt werden, dann muss die Anzahl der Infizierten ermittelt werden. Dies wird dadurch geleistet, dass der auf Grundlage der Stichprobe von deCODE Genetics errechnete Prozentanteil von 0,72 auf die Gesamtbevölkerung von 364.000 Einwohnern übertragen wird. Danach wären 2.630 Isländer durch das Virus infiziert. Mittels Division der Toten durch die Infizierten errechnet sich eine Letalität von 0,3 Prozent. Später zu erwartende Todesfälle betreffen in kritischer Verfassung befindliche Patienten, bei denen es sich um zehn Personen handelt. In der Studie des Imperial College London wird deren Todesrate auf 50 Prozent geschätzt. Die Gesamttotenzahl steigt unter dieser Annahme von acht auf 13, wodurch sich die Infektionssterblichkeitsrate auf 0,49 Prozent erhöht.
Die Werte sind mit Vorsicht zu behandeln, da die Ausbreitungsdynamik nicht berücksichtigt wurde. Bemerkenswerterweise sind die Neuinfektionen im Zuge von Aufklärung und verordneten Restriktionen während der letzten Tage stark zurückgegangen. Betrug die Anzahl der positiv Getesteten in Island zwischen dem 31. März und 5. April noch 425 Personen, so verringerte sie sich in der darauffolgenden sechstägigen Zeitspanne auf 139. (Das Testvolumen sank während dieser Zeit von 9.976 auf 7.373.)
Wird als Stichzeitpunkt der 5. April gewählt, steigt der Prozentanteil der durch deCODE Genetics positiv Getesteten von 0,72 auf 0,87 (16.009 Personen getestet, 140 positiv). Bei diesem Anteil beträgt die Zahl der Infizierten 3.167 (= 0,0087 x 364000), woraus eine geringere Sterblichkeitsrate von 0,39 Prozent resultiert. Nebenbei bemerkt signalisiert der deutliche Rückgang der Infizierten in Island während der letzten Tage, dass der Immunisierungsschub erlahmt. Das von Politikern wiederholt proklamierte Ziel einer breiten Immunität bis zum nächsten Herbst wird dadurch konterkariert.
Wenn auch die täglich aktualisierte Fallsterblichkeit, die global bei etwa sechs Prozent liegt, keine Rückschlüsse auf die Anzahl der Infizierten und die Letalität erlaubt, gibt es gleichwohl bei Stichproben ein gewisses Maß an Ungenauigkeit, das durch dynamische Faktoren verursacht wird. Eine noch größere Relevanz haben regionale Unterschiede: Die für München erwarteten Resultate der Antikörperstudie können kaum als repräsentativ für Deutschland gelten, da Bayern stärker durch die Corona-Epidemie betroffen ist als andere Bundesländer.
Trotz der genannten Vorbehalte liefern die Ergebnisse von Stichproben wichtige Anhaltspunkte, die Rückschlüsse auf die Dunkelziffer der Infizierten erlauben. Wenn das Robert Koch-Institut als Differenz zwischen Fall- und Infektionssterblichkeit einen Faktor von 4,5 – 11,1 nennt, dann lässt sich mittels der isländischen Zahlen schlussfolgern, dass der höhere Wert der Realität näher kommt.
Abschließend sei bemerkt, dass bei den Erhebungen implizit davon ausgegangen wird, dass jeder Corona-Infizierte an dem Virus gestorben ist. Der wissenschaftliche Berater des italienischen Gesundheitsministers, Professor Walter Ricciardi, betonte hingegen, dass nur auf zwölf Prozent der offiziellen Sterbezertifikate COVID-19 als Todesursache vermerkt ist. Dies würde die Letalität bei SARS-CoV-2 auf ein Niveau drücken, das mit jenem der Influenzaviren vergleichbar ist. Sollten vermehrte Stichproben diese Annahme bestätigen, dann dürften politische Entscheidungsträger erheblich unter Erklärungsdruck geraten, ob es sich bei den gegenwärtigen Maßnahmen um eine Überreaktion handelt.
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