Dramatisiert und überschätzt? Wachsende Kritik an Datenbasis zu Corona-Krise
Mehr als 2,7 Milliarden Arbeitskräfte weltweit sind von Anti-Corona-Maßnahmen betroffen, meldete am Dienstag die Weltarbeitsorganisation (ILO). Wenn sie aufgehoben werden, droht nach der Pandemie eine jahrelange schwere Rezession, die sicherlich eine unermessliche Anzahl an Hungertoten in den ärmsten und soziale Konflikte in den Industriestaaten zutage fordern kann. Das ist ein sehr hoher Preis.
Auf der anderen Seite hat das Coronavirus innerhalb von wenigen Monaten weltweit bereits mehr als 80.000 Todesfälle gefordert. Corona-Tote. Die Nachrichtenagenturen haben sich auf diese Bezeichnung geeinigt.
Vor allem zwei Zahlkurven haben sich in den Köpfen festgesetzt – die der Neuinfizierten und die der Gestorbenen. Beide Kurven steigen minütlich im Live-Ticker-Modus. Die Menschen bekommen Angst. Das eröffnet für die Politik einen nie da gewesenen Handlungsspielraum. Fast unabhängig davon, ob und wie die Anti-Corona-Maßnahmen wirken, steigen bei den Regierungsparteien in vielen Ländern die Beliebtheitswerte an.
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Denn es gilt: "Lass die das tun", wobei die Betonung auf "tun" liegt. Die Meinungshoheit wird dabei zur Not wie in Dänemark durch hohe Strafen für "Fake News" durchgesetzt. Zahlreiche "Faktenchecks" zu den abweichenden Expertenmeinungen ergänzen das Bild.
Aber Experten können und müssen sich in Virus-Fragen auch nicht einig sein. Zu wenig ist bislang über das Virus trotz intensivster Forschung bekannt. "Da tappen wir noch im Dunkeln", sagen die Virologen. Worüber sich aber mit großer Sicherheit streiten lässt, sind die Erhebungsmethoden, die Datensätze und deren Interpretationen.
"Durch" oder "mit" Corona?
So sprechen Autoren des deutschen Risk Management Networks RiskNET in einer Analyse zu COVID-19 von einem "Blindflug" sowie "mangelhafter Datenkompetenz und Datenethik". Statt immer mehr Tests und Maßnahmen sei eine repräsentative Stichprobe erforderlich. Die "Sinnhaftigkeit und Ratio" der getroffenen Maßnahmen müsse kritisch hinterfragt werden.
Außerdem wird laut vielen Experten die Anzahl der Todesfälle in den offiziellen Statistiken stark relativiert, da die Patienten sehr oft an Vorerkrankungen sterben und nicht am Virus. Der Präsident des deutschen Robert Koch-Instituts (RKI) Prof. Dr. Lothar Wieler bestätigte noch Ende März 2020, dass testpositive Verstorbene unabhängig von der wirklichen Todesursache als "Corona-Todesfälle" gezählt werden:
Bei uns gilt als Corona-Todesfall jemand, bei dem eine Coronavirus-Infektion nachgewiesen wurde", so der RKI-Präsident auf die Frage einer Journalistin.
Damit ist allerdings noch nicht belegt, dass diese auch an Corona tatsächlich gestorben sind. Die Hansestadt Hamburg hat vor diesem Hintergrund ihre Zählweise angepasst und unterscheidet zwischen "mit" und "an" dem Coronavirus Verstorbenen.
Außerdem lässt das Gesundheitsamt von Hamburg testpositive Sterbefälle – entgegen den Empfehlungen des RKI – durch die Rechtsmedizin untersuchen, um nur noch "echte" Corona-Todesfälle zu zählen. Dadurch habe sich die Anzahl der Todesfälle im Vergleich zu den Angaben des Robert Koch-Instituts bereits um bis zu 50 Prozent reduziert. Der Rechtsmediziner Klaus Püschel stellte nach durchgeführten Obduktionen fest:
Alle, die wir bisher untersucht haben, hatten Krebs, eine chronische Lungenerkrankung, waren starke Raucher oder schwer fettleibig, litten an Diabetes oder hatten eine Herz-Kreislauf-Erkrankung.
Laut Püschel sei das Virus in diesen Fällen der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe.
Kurz darauf hat die schwedische Regierung als erste weltweit angekündigt, künftig offiziell zwischen Todesfällen "durch" und Todesfällen "mit" dem Coronavirus zu unterscheiden. Das könnte die Antwort der Schweden auf den zunehmenden Druck vonseiten der Staaten mit restriktiveren Maßnahmen auf ihre liberale Strategie in der Corona-Bekämpfung sein.
Die genauere Zählung könnte die Statistik zu sogenannten Corona-Toten auch in anderen Ländern viel weniger dramatisch aussehen lassen. Bislang bleibt das RKI bei seiner unspezifischen Bezeichnung, wonach die Sterbefälle "im Zusammenhang mit einer COVID-19-Erkrankung" zustandekommen, mit einem Durchschnittsalter von 82 Jahren.
Eine weitere Zahl, die medial am wirkungsvollsten ist, ist die der Infizierten, die oft auch als "erkrankt" genannt werden. Das Zustandekommen dieser Zahlen sollte jedoch nicht weniger aussagekräftig sein. Der deutsche Statistiker Gerd Bosbach hatte im Hinblick darauf im Onlinemagazin NachDenkSeiten "Schluss mit Irreführung" seitens der Bundespolitik gefordert:
Mit der Verdreifachung der Tests (in der Kalenderwoche 13 im Vergleich zur Kalenderwoche 11) ergab sich auch etwas mehr als eine Verdreifachung der positiv Getesteten. Diese Verdreifachung wurde den Bürgerinnen und Bürgern als Verdreifachung der Infizierten vorgeführt. Dabei ist nur der etwas überproportionale Anstieg als Tempo der Übertragung interpretierbar. Und der wirkt weit weniger erschreckend. Wie viele aller Menschen in Deutschland an COVID-19 erkrankt oder vom Erreger befallen sind, das ist aus diesen Zahlen leider überhaupt nicht ableitbar.
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Derzeit vermelden die USA die höchsten Steigerungsraten bei den Infizierten. Ein Schweizer Biophysiker hat den Umstand visualisiert, dass in den USA (wie auch im Rest der Welt) nicht die Anzahl der "Infizierten" exponentiell zunimmt, sondern die Anzahl der Tests. Die Anzahl der Testpositiven in Relation zur Anzahl an Tests bleibt konstant oder steigt nur langsam, was im Prinzip gegen eine exponentielle virale Epidemie spricht.
Update (8 April 2020)#SARSCoV2#COVID19pic.twitter.com/fntTxppKk3
— Felix Scholkmann (@FScholkmann) April 8, 2020
Bundesregierung und Robert Koch-Institut: Weitere Unstimmigkeiten
Nach den jüngsten Einschätzungen bei den einzelnen kritischen Medien verwickeln sich sowohl Mediziner des RKI als auch die Bundespolitik in weitere Widersprüche. So weist der Autor Tilo Gläser von Sputnik darauf hin, dass im Epidemiologischen Bulletin 16/2020 des regierungsfinanzierten RKI von einem "abrupten Rückgang der Raten an Atemwegserkrankungen in der deutschen Bevölkerung" zu lesen ist.
Das klingt erstaunlich, da die von Sars-Cov 2 laut WHO ausgelöste COVID-19-Krankheit eben dazu gezählt wird und angeblich immer mehr Menschen davon betroffen sind", schreibt Gläser.
Dagegen hätten die RKI-Wissenschaftler festgestellt, dass die Raten für "Akute respiratorische Erkrankungen" (ARE), zu der auch COVID-19 zählt, seit der 10. Kalenderwoche (2.3. – 8.3.2020) "stark gesunken sind". Das widerspricht jedoch den Aussagen der Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem Podcast am 3. April: "Das Coronavirus breitet sich immer noch mit hoher Geschwindigkeit in Deutschland aus." Deshalb sei es noch zu früh, die Regeln zu den Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens zu lockern. Ähnlich äußerte sie sich auf einer Pressekonferenz am Montag.
Zudem tätigen die RKI-Mediziner selbst zum Teil widersprüchliche Aussagen. So konnte laut dem Bulletin vom 2. April wegen Zeitverzugs bei der Datenerhebung noch nicht eingeschätzt werden, welchen Einfluss die Einschränkungen für die Bürger seit dem 9. März auf den Verlauf hätten. An einer anderen Stelle schreiben sie jedoch, dass es einen klaren Hinweis darauf gebe, "dass die Distanzierungsmaßnahmen für die Verlangsamung der Ausbreitung von Atemwegserkrankungen wirksam sind".
Ein weiteres Indiz für Widersprüche findet sich im Epidemiologischen Bulletin 15/2020 des RKI vom 2. April. Dieses werde laut dem Onlinemagazin Multipolar von den meisten bundesdeutschen Medien anscheinend ignoriert. Der Multipolar-Autor Paul Schreyer schrieb am Montag:
Die von der Regierung und vielen Medien verbreitete Behauptung, das Virus verbreite sich gefährlich schnell ist falsch bzw. grob irreführend. (…) Die nun vorliegenden Zahlen deuten darauf hin, dass sich die Anzahl der positiv Getesteten nicht, wie behauptet, innerhalb weniger Tage verdoppelt, sondern innerhalb mehrerer Wochen. Auch diese Daten sind jedoch mit Vorsicht zu betrachten, da sie keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung abbilden.
Weitere Unstimmigkeiten, die Schreyer beim RKI ausmacht, sind die Falldefinition und die Testkriterien, die mitten in der Stagnationsphase vom Institut geändert wurden. Dadurch sei der Vergleich der Zahlen vor und nach dem 24. März nahezu unmöglich. Das wertet der Autor als Zeichen einer bedenklichen Intransparenz:
Auf Anfrage von Multipolar, aus welchem sachlichen Grund die Falldefinition geändert wurde und warum gerade zu diesem Zeitpunkt sowie welche Fälle nach der neuen Definition zusätzlich erfasst werden, antwortete die Pressestelle des RKI trotz mehrfacher Nachfrage nicht.
"Unzureichende Datengrundlage" und "Schrotschuss-Taktik"
Am Dienstag hat eine Gruppe von sechs renommierten Ärzten ein "Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/COVID-19" veröffentlicht. Darüber hat die Ärztezeitung berichtet. In ihrem Text setzen sich die Medizin-Wissenschaftler "kritisch-konstruktiv" mit den Maßnahmen der Regierung in der Corona-Krise auseinander.
So habe die Zahl der gemeldeten Infektionen nur eine geringe Aussagekraft. Grund sei unter anderem die hohe Rate asymptomatischer, aber infektiöser Virusträger von bis zu 80 Prozent aller Infizierten. Daher sei es nicht sinnvoll, eine Verdopplungszeit von Infizierten als Maßzahl zu definieren und davon politische Entscheidungen abhängig zu machen.
Wenn die Zahl aller Infizierter nicht bekannt sei, seien auch die Aussagen zur Sterblichkeit überschätzt, formulieren die Autoren. Zunehmend werde COVID-19 zur nosokomialen Infektion in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Betreuungseinrichtungen. Dies sei mittlerweile der "dominierende Verbreitungsmodus". Daher fußen die politischen Entscheidungen zur Pandemie auf einer "unzureichenden Datengrundlage".
Die allgemeinen Präventionsmaßnahmen, zum Beispiel das Social Distancing, sind theoretisch schlecht abgesichert, ihre Wirksamkeit ist beschränkt und zudem paradox (je wirksamer, desto größer ist die Gefahr einer "zweiten Welle"), und sie sind hinsichtlich ihrer Kollateralschäden wie sozialer Konflikte nicht effizient, so die Experten.
Alternativ schlagen die Autoren vor, statt der "Schrotschuss-Taktik" besser vier Risikogruppen in den Blick zu nehmen. Diese sind: hohes Alter, Multimorbidität, Ärzte und Pflegekräfte sowie lokale Cluster.
"Demokratische Grundsätze und Bürgerrechte dürfen nicht gegen die Gesundheit ausgespielt werden", heißt es weiter in dem Papier. Die Einbeziehung von Experten und die Praxis müssen in einer Breite erfolgen, die einer solchen Entwicklung entgegenwirken.
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