Stipendium für jeden und günstige Wohnheime – Interview zum DDR-Bildungssystem (Teil 3)
Prof. Dr. Helmut Bulle studierte in Moskau Physik, war anschließend Hochschuldozent für Reaktionstechnik an der Technischen Hochschule "Carl Schorlemmer" Leuna-Merseburg, danach in der SED-Bezirksleitung verantwortlich für Wissenschaft im Bezirk Halle. In den letzten Monaten der DDR war er Stellvertreter des Ministers für das Hoch- und Fachschulwesen, zuständig für den Bereich Natur- und Technikwissenschaften. Prof. Dr. Dieter Kreysig machte nach Kriegsende einen Lehrgang für Neulehrer, anschließend qualifizierte er sich am Pädagogischen Institut Mühlhausen in Thüringen zum Fachlehrer für Chemie weiter. Zwischen 1968 und 1992 lehrte er an der Sektion Chemie der Humboldt-Universität zu Berlin und wirkte von 1963 bis 1990 in der Zentralen Fachkommission Chemie im Ministerium für Volksbildung der DDR.
Hier die Links zu den ersten und zweiten Teilen des Interviews.
Inwiefern ist die Kritik an den DDR-Universitäten berechtigt, dass sie die akademische Freiheit zu stark eingeschränkt hätten und dass einzelnen Schülern der Zugang zum Hochschulstudium verweigert worden wäre?
Helmut Bulle: Die Frage nach Autonomie und akademischer Freiheit der Hochschulen wurde besonders im Wendejahr 1990 von einigen Rektoren an Universitäten und Hochschulen der DDR gestellt.
Ich kann mich erinnern, dass in einer Beratung mit Rektoren von Ostberliner Hochschulen diese Frage auch an die damalige Senatorin für Wissenschaft und Forschung des Westberliner Senates gerichtet wurde. Die Antwort von Frau Prof. Riedmüller-Seel war kurz und bündig: Autonomie kann beanspruchen, wer kein Geld aus fremden Kassen benötigt. Mit einem Wort: Wer Geld vom Staat braucht, muss sich an staatliche Auflagen halten. Das war ernüchternd und die Diskussion war damit beendet.
Probleme, die das Hochschulwesen der DDR in seiner Gesamtheit betrafen, wurden im Hochschulrat beraten, in dem alle Universitäten und Hochschulen vertreten waren.
Die DDR hatte ein sehr entwickeltes Hoch- und Fachschulwesen. Es gab keine Studiengebühren, und jeder Student erhielt unabhängig vom Einkommen der Eltern ein Grundstipendium und je nach Studienleistungen auch zusätzlich ein Leistungsstipendium. Bei Bedarf stand in der Nähe des Studienortes auch ein Wohnheimplatz zu finanziell günstigen Bedingungen bereit. Nach erfolgreichem Abschluss war ein Arbeitsplatz garantiert.
Die Anzahl der Studienplätze in den unterschiedlichen Fachgebieten war aber aus ökonomischen Gründen begrenzt. So konnten auch nicht alle persönlichen Wünsche erfüllt werden. Das war ein Grund für manche Enttäuschung und persönliche Verärgerung. Wenn die Bedingungen für die Hochschulreife erfüllt waren, wurden jedoch in der Regel andere Möglichkeiten eines Hochschulstudiums angeboten. Inwieweit diese Angebote angenommen wurden, blieb den Bewerbern überlassen.
Mir sind keine Fälle bekannt, wo einzelnen Schülern ein genereller Zugang zum Hochschulstudium verweigert worden wäre.
Margot Honecker, Ehefrau das späteren SED-Generalsekretärs Erich Honecker, prägte durch ihre langjährige Amtszeit als Ministerin für Volksbildung (1963-1989) wesentlich das DDR-Bildungssystem. Wie bewerten Sie ihr bildungspolitisches Erbe?
Helmut Bulle: Es sei vorausgeschickt, dass Margot Honecker wie jeder Mensch charakterliche Stärken und Schwächen hatte und auch sicher nicht frei von Fehlern war. Hinzu kommt, dass Personen mit Leitungsverantwortung – vor allem in Spitzenpositionen – mitunter Entscheidungen treffen müssen, die dem einen oder anderen nicht gefallen oder sogar weh tun.
Die erfolgreiche Entwicklung des Bildungswesens in der DDR ist aber zweifellos mit dem Namen von Margot Honecker untrennbar verbunden. Es muss dabei natürlich auch immer in Betracht gezogen werden, dass im Ministerium für Volksbildung, in der Akademie für pädagogische Wissenschaften, in den Räten der Bezirke und auf der Ebene der Kreise ein Stab hochqualifizierter Fachleute zur Verfügung stand. Nur so sind die unbestreitbar positiven Ergebnisse im Bildungswesen der DDR zu erklären.
Zu den materiellen Bedingungen und sozialpolitische Maßnahmen im Bildungswesen der DDR schreibt Hugo Jensch:
"Mit dem Wachstum der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft der DDR wuchs auch der Anteil der Ausgaben für das Bildungswesen in den Volkswirtschaftsplänen besonders seit den 60er Jahren kontinuierlich. Dazu nur eine Angabe: Betrugen im Staatshaushalt die Ausgaben für die Volksbildung im Jahre 1980 7,3 Milliarden Mark, so wuchsen sie 1989 auf 11,2 Milliarden Mark.
Aufrecht erhalten wurden kleine wohnortnahe Schulen. Dem Wohnungsneubauprogramm folgte der Bau zahlreicher neuer Schulen. Im Kreis Pirna entstanden Schulneubauten, in den beiden letzten Jahrzehnten der DDR auf dem Pirnaer Sonnenstein vier voll ausgebaute Zehnklassige Oberschulen samt dazugehörigen Schulturnhallen, in Pirna-Copitz weitere drei, ferner je eine in Heidenau, Mühlbach, Rosenthal, Prossen, während in anderen Orten in Erweiterungsbauten investiert wurde.
Zwischen 1971 und 1989 konnten 2612 Schulsporthallen errichtet werden.
Für Ersatzbeschaffung und Neuausstattung von Unterrichtsmitteln standen jährlich für jede Schule planmäßig Mittel zur Verfügung, die oft noch durch Zuwendungen seitens der Patenbetriebe erweitert werden konnten.
Von den mehr als 25 Millionen Schulbüchern wurde (1989) die Hälfte kostenlos zur Verfügung gestellt. Die durchschnittlichen Kosten je Schulbuch bis zur 10. Klasse betrugen 2,13 Mark, ein Preis, der natürlich aus dem Staatshaushalt subventioniert war, aber die Bücher waren auch im Papierverbrauch sparsamer und erheblich leichter als heute.
Subventioniert waren auch Schreibgeräte, Hefte, Schultaschen, Sportbekleidung.
Seit 1985 gab es elektronische Taschenrechner ab 7. Klasse als verbindliches Rechenhilfsmittel.
Alle Schüler hatten die Möglichkeit, ein warmes Mittagessen einzunehmen. Ca. 86% machten davon Gebrauch. Zwei Mark kamen aus der Staatskasse, 55 Pfg. zahlten die Eltern. Kostenlos oder ermäßigt war das Schulessen für Schüler aus kinderreichen Familien."
Schon unter DDR-Pädagogen wurde aber auch kritisch gesehen, dass die Lehrpläne z.T. stofflich überfrachtet waren, vorrangig auf die reine Stoffvermittlung ausgerichtet waren und Diskussionen von Problemen zu kurz kamen. Als einheitliches Unterrichtssystem war es vorrangig ausgerichtet auf das Klassenkollektiv. Dabei wurde der Zuwendung zum einzelnen Schüler nicht immer genügend Aufmerksamkeit geschenkt.
Dieter Kreysig: Aus den Erfahrungen der langjährigen Arbeit im Rahmen der Zentralen Fachkommission Chemie auf dem Gebiet der Lehrerbildung und den daraus resultierenden, teilweise sehr engen Kontakten in das Ministerium für Volksbildung kann ich einschätzen: Margot Honecker war eine außergewöhnlich fleißige, gründliche, streng wissenschaftsorientierte und weit über das Ministerium hinausreichend geschätzte und anerkannte Chefin des von ihr mit Vorbildwirkung, Disziplin und Konsequenz geführten Hauses.
Hervorstechend ist, dass es ihr immer möglich war, bei aller Beachtung aktueller gesellschaftlicher und politischer Prämissen, im Zweifelsfall für die wissenschaftlich fundierte Lösung eines Problems zu entscheiden und zu handeln. Es ist ein großes Verdienst dieser Ministerin, dass sich in der DDR ein so modernes und weltweit als vorbildlich erkanntes Bildungssystem im Bereich der Schul- und Lehrerausbildung entwickeln konnte.
Wenn Sie auf die Geschichte des universitären Bildungssystems der DDR zurückblicken, was würden Sie als die größten Leistungen bewerten und was würden Sie anders machen, wenn Sie die Gelegenheit dazu bekommen bekämen?
Helmut Bulle: Größte Leistung des Bildungswesens der DDR: Das Bildungswesen war zum ersten Mal in der deutschen Geschichte offen für alle Schichten des Volkes, unabhängig von der sozialen Herkunft. Alle Bereiche der Volkswirtschaft und Gesellschaft wurden mit gut ausgebildeten Fachleuten versorgt.
Was würde ich anders machen? Es gibt da einen spaßigen Werbespot vom Brillenhersteller Fielmann, wo der Sohn seinen Vater fragt, was er anders machen würde, wenn er noch einmal jung wäre. Der Vater antwortet darauf sinngemäß: "Ich würde von Anfang an meine Brillen bei Fielmann kaufen". Anders ausgedrückt: Er würde alles Wesentliche genauso machen wie bisher.
Im Falle des Bildungswesens gibt es natürlich immer Reformbedarf in Übereinstimmung mit den neuen Anforderungen, die die gesellschaftliche Entwicklung stellt.
Auf dem Weg zur entwickelten sozialistischen Gesellschaft hätte bei der Zulassung zu Bildungsstufen mit begrenzter Aufnahmekapazität das Leistungsprinzip stärkeres Gewicht erhalten müssen, unabhängig von der sozialen Herkunft der Bewerber. Bei der inhaltlichen Ausgestaltung von Lehre und Forschung hätten neue Wissenschaftsgebiete wie Mikroelektronik, Biochemie und Gentechnik geschaffen werden müssen.
Generell halte ich aber den eingeschlagenen Weg mit dem einheitlichen Bildungssystem der DDR für richtig. Das wird auch durch die Entwicklung im Bildungswesen nach der Vereinigung in den neuen Bundesländern bestätigt. Dort, wo wesentliche Elemente des Bildungswesens der DDR auch nach der Vereinigung erhalten wurden, hat sich das positiv ausgewirkt. Beispiele sind die Ergebnisse der letzten PISA-Studie aus dem Jahre 2018, wo Sachsen und Thüringen besonders gut abgeschnitten haben.
So gesehen ist der derzeitige Reformstau des Bildungswesens der BRD enorm hoch und eigentlich besorgniserregend.
Dieter Kreysig: Ich wünsche mir unter anderem, dass das geeinte Deutschland seine unsägliche, überalterte und ineffiziente föderale Bildungspolitik überwinden würde und zum Wohle der heranwachsenden Generation und des gesamten Volkes zu einer Bildungsstruktur und Bildungspolitik nach dem Vorbild der ehemaligen DDR in Weiterentwicklung ihrer erfolgreich praktizierten Zentralisierung übergehen würde.
Vielen Dank!
Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow.
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