"Liebe zur Heimat und proletarischer Internationalismus" – Interview zum DDR-Bildungssystem (Teil 1)
Prof. Dr. Helmut Bulle studierte in Moskau Physik, war anschließend Hochschuldozent für Reaktionstechnik an der Technischen Hochschule "Carl Schorlemmer" Leuna-Merseburg, danach Verantwortlicher für Wissenschaft im SED-Bezirk Halle. In den letzten Monaten der DDR war er Stellvertreter des Ministers für das Hoch- und Fachschulwesen, zuständig für den Bereich Natur- und Technikwissenschaften. Prof. Dr. Dieter Kreysig machte nach Kriegsende einen Lehrgang für Neulehrer, anschließend qualifizierte er sich am Pädagogischen Institut Mühlhausen in Thüringen zum Fachlehrer für Chemie weiter. Zwischen 1968 und 1992 lehrte er an der Sektion Chemie der Humboldt-Universität zu Berlin und wirkte von 1963 bis 1990 in der Zentralen Fachkommission Chemie im Ministerium für Volksbildung der DDR.
Was waren die Ausgangsbedingungen für das Bildungssystem der DDR (bzw. der früheren sowjetischen Besatzungszone) im Jahr 1945?
Helmut Bulle: Im Mai 1945 ging die dunkelste Periode der deutschen Geschichte zu Ende. Mit dem Sieg der alliierten Streitkräfte wurde der Faschismus zerschlagen. Er hinterließ nicht nur in Deutschland, sondern auch in großen Teilen Europas ein bis dahin nie dagewesenes Trümmerfeld mit 60 Millionen Toten. Und genau so verheerend waren die Verwüstungen in den Köpfen, die der Nazismus vor allem in Deutschland angerichtet hatte. Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus, Antikommunismus und Antisemitismus waren im Denken vieler Menschen noch allgegenwärtig.
Zugleich bot aber die Zerschlagung des Faschismus auch die Chance eines Neuanfangs unter Nutzung der besten Traditionen des bürgerlichen Humanismus und der internationalen Arbeiterbewegung. Dazu brauchte man vor allem Menschen, die willens und in der Lage waren, diese riesige Aufgabe zu übernehmen. Vor allem das Bildungswesen musste dazu einen großen Beitrag leisten. Von Mitte Mai bis Anfang September des Jahres 1945 standen nur wenige Wochen zur Verfügung, um geeignete Lehrerinnen und Lehrer zu finden, neues Lehrmaterial vorzubereiten und zum Teil zerstörte Schulräume für den Unterricht wieder brauchbar zu machen.
Ein spezielles Problem bestand darin, Millionen Menschen jeden Alters, die in den ehemals deutschen Ostgebieten ihre angestammte Heimat verloren hatten, zunächst einmal unterzubringen, notdürftig mit Wohnraum, Kleidung und Nahrung zu versorgen und natürlich den Kindern einen Schulplatz zu geben. Manche Kinder hatten durch die Flucht monatelang keine Schule besucht und durch die Kriegswirren große Versäumnisse in ihrer Schulbildung.
So hatte meine erste Schulklasse in meinem Heimatort Neustadt am Rennsteig, wo ich am 1. September 1945 eingeschult wurde, etwa 70 Kinder. Der Lehrkörper bestand aus zwei Lehrerinnen, die sich für die neuen Aufgaben als brauchbar erwiesen. Diese Lage entspannte sich erst merklich, als die erste Garnitur von Neulehrern im Jahr 1946 für den geregelten Schulbetrieb zur Verfügung stand.
Dieter Kreysig: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden 1945 auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die früheren Länderstrukturen wiederhergestellt. Damit oblag die Aufgabe der Strukturierung, Organisation und inhaltlichen Ausgestaltung des Schulsystems formell den Ländern. Da die Landtagswahlen zu einer gesetzgebenden Institution in den Ländern jedoch erst im Oktober 1946 stattfinden würden, der reguläre erneuerte Schulbetrieb jedoch schon mit dem 1. September vorgesehen war, erfolgte die Gesetzgebung durch die jeweiligen Landesverwaltungen auf der Grundlage von Befehlen der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) nach einheitlichen Vorgaben. Das hieß: Trotz der formell eingerichteten föderalen Struktur des politischen Systems war in allen fünf Ländern eine einheitliche, länderübergreifende Neugestaltung des Schulsystems mit dem "Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule" vom Mai/Juni 1946 geschaffen.
Anfangs waren kaum brauchbare Lehr- und Lernmaterialien vorhanden. Mit viel Eigeninitiative und Ideenreichtum schufen die Neulehrer, teils unterstützt durch noch amtierende sogenannte Altlehrer, diese Materialien in Eigeninitiative, um den inhaltlich zentral vorgegebenen Lehrstoff zu vermitteln.
Sukzessive wurden diese Lücken geschlossen durch Lehr- und Lernhefte, erarbeitet von erfahrenen Pädagogen und Fachleuten unter Leitung der Pädagogischen Zentralverwaltung, herausgegeben durch den 1945 gegründeten Verlag Volk und Wissen.
Spätestens mit Inkrafttreten des Gesetzes mussten alle nationalsozialistisch gesinnten Lehrerinnen und Lehreraus dem Schuldienst entlassen werden. Dafür wurden Neulehrereingestellt. Das waren politisch unbelastete Laien mit und ohne Abitur, vielfach mit gediegener Berufsausbildung und -erfahrung, die in Schnellkursen kurzfristig auf ihre Lehrertätigkeit vorbereitet wurden. Diese Neulehrer repräsentierten durchwegs lernbegierige und verantwortungsbewusste Laien-Pädagogen, die sich, ihren Schülern oft im Wissen um wenige Tage voraus, in organisierten Kursen und Selbststudien auf ihre Lehr- und Erziehungstätigkeit vorbereiteten. Ihr Status wurde verwaltungstechnisch als Lehramtsbewerber deklariert. Das zu leistende Stundensoll betrug 28 Wochenstunden, das Anfangsgehalt 340 Mark brutto im Monat.
Umgehend wurden unter der Federführung der zentralen Administration organisierte Weiterbildungslehrgänge installiert, in deren Rahmen, basierend auf kurzfristig erarbeiteten Lehrbriefen im Selbststudium unter Begleitung monatlicher Konsultationen in Stützpunkten, systematisch allgemein-fachliche und pädagogisch-didaktische Kenntnisse erworben wurden.
Solch ein Kurs gipfelte in einer theoretischen und schulpraktischen Prüfung und führte zur anerkannten Lehrtätigkeit bis zur 4. Klassenstufe und zum Status Lehramtsanwärter. Ein anschließendes in gleicher Weise ablaufendes Fernstudium endete mit der anerkannten Lehrtätigkeit bis zur 8. Klassenstufe. Welche unkonventionellen Wege dabei beschritten wurden, kann man an meiner eigenen Entwicklung erkennen.
Im Juni 1949, nach Abschluss der Handelsschule in Hohenstein-Ernstthal, gab es keine Lehrstellen für männliche Bewerber. Meine Lehrer, unterstützt durch den Kreisschulrat Glauchau-Nord empfahlen mir, mich als Neulehrer zu bewerben. Von einer einschlägigen Prüfungskommission wurde meine Befähigung als Neulehrer ausgesprochen mit dem Hinweis, ich sei mit 17 Jahren noch zu jung und sollte einen einjährigen Vorbereitungskurs für Lehrer in Mathematik/Physik in Chemnitz absolvieren. Diesen Kurs beendete ich mit Prüfungen in den Fächern Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Erdkunde, Körpererziehung, Geschichte, Erziehungswissenschaften, Deutsch und Literatur, Sozialismus und Gegenwartskunde.
Zum 1. September 1950 wurde ich als Lehramtsbewerber an der achtklassigen Dorfschule meines Heimatdorfes im Erzgebirge (2.000 Einwohner, 160 Schüler) eingestellt, die ich drei Jahre vorher als Schüler der 8. Klasse verlassen hatte. Meine ehemaligen Lehrer (zwölf Kolleginnen und Kollegen im Durchschnittsalter von 26 Jahren) waren nun meine Kollegen, meine drei jüngeren Geschwister meine neuen Schüler.
Ich bezog ein Bruttogehalt in Höhe von 345,- Mark und hatte ein wöchentliches Stundensoll von 28 Stunden in den Fächern Chemie, Physik, Biologie und Singen.
Es gab zwar inzwischen Lehr- und Lernmaterialien in Heft- und Buchform, aber so gut wie keine Lehrmittel, Anschauungsobjekte und Übungsmaterialien, die für den naturwissenschaftlichen Unterricht geeignet gewesen wären. Diese wurden – teilweise unter Einbeziehung von Dorfhandwerkern und gemeinsam mit Schülern – gesammelt, gebastelt oder in Drogerien und Apotheken eingekauft.
Daraus entwickelte sich eine Atmosphäre, in der die dörfliche Schule nicht nur als Bildungsstätte wahrgenommen, sondern als lebendiger Bestandteil dörflichen Lebens empfunden wurde. Ein Schulchor, eine aktive Theatergruppe mit regelmäßigen Auftritten auf Dorffesten, Ausstellungen von in Arbeitsgruppen aus einfachen Materialien gefertigter "Exponate" in Elternversammlungen vertiefte diesen fruchtbaren Kontakt Schule-Eltern-Dorfgemeinschaft. Mit gegenseitigen Hospitationen und regelmäßig gehaltenen "Probestunden" haben wir Neulehrer uns gegenseitig geholfen, unseren Unterricht als Bildungs- und Erziehungsauftrag immer besser zu gestalten. In dieser Atmosphäre reifte mein endgültiger Entschluss, Lehrer zu werden und zu bleiben. Ich habe ihn verwirklicht bis hin zum "Lehrerausbilder".
Natürlich gehörte die persönliche Qualifizierung im Rahmen der offiziellen Formen zum Lehreralltag. Im Rahmen einer "Arbeitsgemeinschaft für Lehramtsbewerber" qualifizierte ich mich Anfang der 1950er Jahre mit einer Prüfung zum "Lehramtsbewerber". In einem weiteren Fernstudienkurs in den Jahren 1952 und 1952 erwarb ich mit einer Prüfung die Lehrbefähigung für die Unterstufe und damit den Status "Lehrer für die Allgemeinbildende Schule mit Lehrbefähigung bis Klasse bis Klasse 4".
Welchen Grundprinzipien bzw. -idealen war das DDR-Bildungssystem verpflichtet?
Helmut Bulle: In Übereinstimmung mit den Stufen bzw. den Zielen der gesellschaftlichen Entwicklung ist auch das Bildungssystem eine dynamische Größe. Das Menschenbild in der DDR wie auch in den anderen sozialistischen Staaten orientierte sich sowohl an den humanistischen Idealen des aufgeklärten Bürgertums als auch an den Zielen der sozialistischen Entwicklung. Die Liebe zur Heimat war verbunden mit den Prinzipien des proletarischen Internationalismus. Bildung und Erziehung waren durchdrungen vom Geist der Solidarität mit allen Völkern der Welt.
Das Bildungswesen lag in der Verantwortung des Staates und wurde schon in der sowjetischen Besatzungszone als Einheitsschule entwickelt. Damit waren Privatschulen ausgeschlossen, mit denen sich die Wohlhabenden im Kapitalismus ihr eigenes privilegiertes Schulsystem unterhalten. Das war zugleich die Grundlage der Chancengleichheit für alle Kinder, unabhängig vom sozialen Status der Eltern. Vor allem bei der Zulassung zu den höheren Bildungsstufen mit begrenzter Zahl der Schul- bzw. Studienplätze kam es dabei mitunter zu Konfliktsituationen, wenn bei gleichem Leistungsstand die Entscheidung für Arbeiter- und Bauernkinder fiel. Das Bildungssystem der DDR bot jedoch für alle sozialen Gruppen ausreichend Möglichkeiten, um auf anderen Wegen ein gewünschtes Bildungsziel zu erreichen.
Es gab die strikte Trennung von Staat und Religion. Der Religionsunterricht war ausschließlich Angelegenheit der Kirche.
Während in der BRD weiterhin ein mehrgliedriges, stark föderalisiertes Schulsystem bestand, führte die DDR ein "einheitliches sozialistisches Bildungssystem" ein, wie der Titel eines Gesetzes zur Bildungsreform aus dem Jahr 1965 lautete. Welche Hoffnungen verbanden die DDR-Pädagogen mit (für bisherige deutsche Bildungssysteme) neuen Konzepten wie der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule ab den späten 1950er Jahren und inwiefern wurden diese Hoffnungen erfüllt?
Helmut Bulle: In der Präambel zum Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem heißt es, dass dieses Bildungssystem dem Wachsen und Werden allseitig gebildeter, sozialistisch bewusster, hochqualifizierter, gesunder, geistig und körperlich leistungsfähiger, kulturvoller Menschen dient, die fähig und bereit sind, die historischen Aufgaben unserer Zeit zu erfüllen.
Ernstzunehmende Fachleute auf dem Gebiet der Pädagogik (etwa Hugo Jensch in Pirna) bewerten die Schulen der DDR als Vermittler von Bildung und Erziehung durchaus als ein Erfolgsunternehmen. Die Schule und ihre Lehrer waren deshalb von der Mehrzahl der Schüler und Eltern akzeptiert. Das hatte positive Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft.
In den 1970er Jahren war die DDR diplomatisch als souveräner Staat weltweit anerkannt. Sie verfügte über eine gebildete Arbeiterklasse und Bauernschaft, ein leistungsfähiges Handwerk und eine hochqualifizierte sozialistische Intelligenz. Auf vielen Gebieten von Wissenschaft und Technik hatte die DDR beachtliche Ergebnisse. Unter den führenden Industrieländern lag sie auf dem zehnten Platz. Unter den führenden Sportnationen nahm sie nach der UdSSR und den USA den dritten Platz ein.
Das einheitliche Bildungssystem der DDR wurde auch international im westlichen Ausland als modern und leistungsfähig wahrgenommen. So wurden in den 1960er Jahren die Erfahrungen des Bildungswesens der DDR sehr aufmerksam und unvoreingenommen von finnischen Pädagogen studiert. Wie viel vom Bildungssystem der DDR nun wirklich in die Umgestaltung des finnischen Bildungssystems übernommen wurde, mag dahingestellt sein. Aber die finnischen Pädagogen kamen wohl nicht von ungefähr in die DDR und nicht in die damalige BRD.
Mit dem Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR wurde die Bildungshoheit entsprechend der Verfassung der BRD den Bundesländern übertragen. Damit wurde das föderalistische Schulsystem auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wieder eingeführt.
Hugo Jensch schreibt in seinem Beitrag auf www.geschichte-pirna.de:
Übernommen wurde die bundesdeutsche Bildungsbürokratie, in der die Entscheidungsträger die in den einzelnen Bundesländern herrschenden Parteikoalitionen sind. So verfügt nun jedes der 16 Länder über ein von den anderen mehr oder minder abweichendes Bildungssystem, eigene Lehrpläne und Lehrbücher mit unterschiedlichen Zeitabläufen in den Unterrichtsprozessen, abweichenden Wertungsweisen, Standards für die Lehrerausbildung u. a. m.
Inzwischen wird dieses Schulsystem nicht nur unter Experten, sondern auch in der öffentlichen Meinung als bildungspolitischer Flickenteppich, heilloses Durcheinander und unerträgliche Zumutung für die Betroffenen wahrgenommen. Die Kultusministerkonferenz, mit der versucht wird, die schlimmsten Auswirkungen des Föderalismus im Schulsystem zu korrigieren, ist selbst zu einem überdimensionalen Verwaltungsungetüm geworden. Jedenfalls sieht ein modernes und in die Zukunft weisendes Bildungswesen wohl anders aus.
In diesem Sinne hat Robert Rauh sicher recht, wenn er im Tagesspiegel vom 11. 9. 2017 feststellt:
Schluss mit der Kleinstaaterei im Schulwesen!
Vielen Dank!
Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow.
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