Versöhnung zwischen Deutschen und Russen – Hommage an den Schriftsteller Daniil Granin in Berlin
von Wladislaw Sankin
40 Minuten dauerte die Rede des damals 95-jährigen Schriftstellers am 27. Januar 2014 vor den Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Der Saal war still, viele der Anwesenden kämpften mit den Tränen, am Ende zollten die Zuhörer dem Redner stehenden Applaus. Daniil Granin erzählte vom Schrecken der Leningrader Blockade, deren Ende am 27. Januar 1944 sich an diesem Tag zum 70. Mal jährte.
Als Ehrerweisung vor einer Million Verstorbenen in Leningrad hielt der greise Schriftsteller und gebürtiger Leningrader seine Rede im Stehen. Sie ging als Meilenstein in die Geschichte des deutschen Parlaments ein. Auch in der deutschen und russischen Öffentlichkeit fand sie starken Widerhall. Neben dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck und Regierungsvertretern war auch der deutsche Altkanzler Helmut Schmidt bei der Veranstaltung anwesend. Er war nur neun Tagen älter als Granin.
Genau wie Granin kämpfte er bei Leningrad – auf der Seite der Angreifer, genau wie Granin war Schmidt Panzeroffizier. Nach dem Auftritt lernten sich die beiden kennen. Ein Jahr später, als im April Granins letztes autobiographisches Buch "Mein Leutnant" auf Deutsch erschien, schrieb Schmidt das Vorwort. Der in Deutschland als Staatsmann und moralische Autorität gefeierte Schmidt stellte fest:
Granin und ich, wir sind beide heute 96 Jahre alt und haben die schlimmen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges hinter uns. (…) Heute treffen wir uns als Freunde, nicht als Feinde. Das ist ein wunderbares Geschenk der Geschichte.
Granin trat in seinem Leben sehr oft vor der deutschen Öffentlichkeit auf. Der erste Auftritt war im Jahr 1956, als er in der damaligen DDR seine ersten Begegnungen mit den Deutschen erlebt hat. Der damals junge Schriftsteller kam nach Deutschland, um den Menschen, die im Krieg auf ihn schossen und deren Schüsse ihn verfehlten, in die Augen zu schauen.
Begegnungen mit Granin, die Bedeutung seines Erbes für Deutsche und Russen und dessen Zukunft waren am 15. Oktober Thema der ganztägigen Konferenz "Granin und Deutschland: Ein schwieriger Weg der Versöhnung". Sie fand zwei Jahre nach seinem Tod und anlässlich seines 100. Geburtsjahres in jenem Raum des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlhorst statt, in dem am 8. Mai 1945 die Kapitulationserklärung unterzeichnet wurde. Es kamen zahlreiche deutsche und russische Historiker, Schriftsteller und Übersetzer zusammen.
Warum ist ausgerechnet dieser Schriftsteller für die deutsch-russischen Beziehungen so bedeutend? Granin hatte die Gabe, von den schrecklichsten nazistischen Verbrechen direkt und schnörkellos zu erzählen und die Gefühle der Opfer und Hinterbliebenen ehrlich anzusprechen. Er vermied es dabei aber, Vorwürfe zu erheben, und konnte damit die ehemaligen Feinde auf seine Seite ziehen.
Eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür erzählte die Literaturforscherin Franziska Thun-Hohenstein, die den Schriftsteller persönlich gut kannte. So sollte er auf einer Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 in Nürnberg über das Bombardement Kölns durch die Alliierten sprechen. Die Rede fand in Rahmen der "Nürnberger Friedensgespräche" der SPD mit Repräsentanten besonders zerstörter Städte in Ost und West statt, und es waren Tausende Menschen anwesend.
Es war schwer, Granin von der Teilnahme zu überzeugen, denn er musste nicht von der systematischen Bombardierung Leningrads erzählen, sondern vom Leiden der Bevölkerung in Köln. Am Ende der Rede erzählte er auch von seiner Wahrnehmung als Leutnant, der bei Leningrad in Schützengräben saß und die Junkers Richtung Leningrad vorbeifliegen sah. Die deutschen Bomber ließen jedes Mal Rauchwolken über seiner Stadt aufsteigen – und zwar tagtäglich, monatelang.
"Als ich nach Ende des Kriegs von den Bombardements deutscher Städte erfuhr, empfand ich große Freude", sagte Granin. Nach anfänglichem Zögern folgte diesen Worten dann Applaus, erzählte er später in einer russischen Zeitung.
In Deutschland ist Granin vor allem als Co-Autor des "Blockadenbuches" bekannt – einer auf Tagebüchern und Interviews mit Zeitzeugen basierenden ergreifenden Erzählung über das Leid und den Überlebenskampf der eingeschlossenen Einwohner Leningrads.
Das Buch erschien im Jahr 1977 in der UdSSR zum ersten Mal – nicht ohne Widerstand der Behörden, die das Blockadebild des Buches für damalige Verhältnisse zu verstörend fanden. Die erste deutsche DDR-Ausgabe ist aus dem Jahr 1981. Die neue, unzensierte Fassung brachte Ende 2018 der Aufbau-Verlag heraus. In der Deutschen Akademie der Künste, deren Mitglied Granin war, wurde dieses Ereignis mit der Lesung des Buches durch sechs deutsche Akademiemitglieder am Pariser Platz gefeiert.
Jörg Feßmann von der Akademie der Künste sagte auf der Konferenz, es sei "schwer begreiflich", dass ein derartiges Verbrechen biblischen Ausmaßes wie die Hungerblockade Leningrads, die zweieinhalb Jahre andauerte, im Kriegsgedenken hierzulande eine Nebenrolle spielt. Im Gespräch mit RT sagte er, dass der unmittelbare Bezug zum Krieg in der Gesellschaft mit dem Generationswechsel verloren geht. Dies liege aber in der Natur der Sache.
Aber in seiner Literatursektion könne er reges Interesse an der Kriegsthematik auch bei der jüngeren Generation feststellen. Es sei wichtig, dafür einen "Hallenraum" in der Gesellschaft zu schaffen, der beispielsweise durch Dialog zwischen den Ländern funktionieren könne.
Die Konferenz zeigte: Die Thematisierung des Krieges und des Leidens im Krieg ist auch in Russland keine Selbstverständlichkeit. Schulprojekte speziell zum "Blockadenbuch" finden aber statt, und es sei angedacht, solche auch in Deutschland zu organisieren.
Man stellt sich die Frage: Hätte dieses Gedenken so auch ohne Granin funktionieren können? Seine Persönlichkeit kann man als Glücksfall betrachten – nicht nur, weil er als einer der Wenigen von der freiwilligen Volkswehr der ersten Stunde den Krieg unversehrt überlebt hat. Granin gilt in Deutschland als unabhängiger Geist, der der Macht in jeder Periode seines Lebens kritisch gegenüberstehen konnte.
Er verglich Deutschland und Russland gerne als Länder, in denen die schlimmsten totalitären Regime sich etablieren konnten. "Ich schaue auf Deutschland wie in einen Spiegel", schrieb er einmal. Eine solche Sichtweise, kritisch gegenüber dem Kommunismus, aber auch distanziert genug gegenüber der heutigen russischen Regierung, machte Granin nach der Wende auch im vereinigten Deutschland zur ideologisch vertretbaren Kompromissfigur. "Die Figur Granin ist über alle Zweifel erhaben. (…) Allen war offensichtlich, dass man keine bessere Figur finden könnte", erklärte der Pressedienst des Bundestages die Wahl Granins als Redner für die Rede am 27. Januar 2014.
In Russland ist seine Person jedoch nicht unumstritten. Er dämonisiere die Sowjetunion und stelle Kommunismus mit Nazismus gleich, so der Vorwurf. Aber sein Einsatz für die Sache der Aufklärung über Verbrechen des Nazismus und die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung Europas vom Faschismus war unentbehrlich. Dies verdeutlicht eine seiner Aussagen in einem Interview:
Man klaute uns den Sieg. (...) Und jetzt ist das im Westen alles damit durchzogen, dass die Amerikaner den Krieg gewonnen haben, bis auf die Schulbücher. Aber das ist ungerecht und unanständig. Uns verdankt die Menschheit diesen Sieg, die Zerschlagung des Faschismus. Natürlich wird die Geschichte es wiedergutmachen, aber viel später. Aber mehrere Generationen leben bereits mit dieser Geschichte und werden noch damit leben.
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