Gesellschaft

Heiner Flassbeck, Paul Steinhardt: Gescheiterte Globalisierung – Eine Leseempfehlung

"Gescheiterte Globalisierung" ist ein herausragender Beitrag zum ökonomischen Verständnis der aktuellen Krise. Das Buch analysiert die grundlegenden Denkfehler neoliberalen Denkens und zeigt Alternativen zur angeblichen Alternativlosigkeit auf.
Heiner Flassbeck, Paul Steinhardt: Gescheiterte Globalisierung – Eine LeseempfehlungQuelle: Reuters © Ralph Orlowski

von Gert Ewen Ungar

Diskussionen verlaufen in Deutschland aktuell oftmals sehr undifferenziert. Dies wird auch an der Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kapitalismus deutlich. Man will ihn überwinden, schwärmt von bedingungslosem Grundeinkommen, Degrowth und Sharing Economy als angebliche Alternativen zum herrschenden Kapitalismus. Oder man hält auf der anderen Seite des politischen Spektrums jeden Eingriff des Staates gleich für den puren Sozialismus, will daher "mehr Kapitalismus wagen", womit gemeint ist, der Staat soll sich noch weiter zurückbauen, der Kapitalismus soll sich in radikalere Spielarten entfalten dürfen.

Deutlich wird dabei: Kapitalismus ist ein Schlagwort, an das man nahezu alles anbinden kann. Er gilt den einen als das größte Übel, den anderen als paradiesische Verheißung. Dabei bleibt jedoch recht undeutlich, was das eigentlich sein soll – der Kapitalismus –, weshalb der Streit darüber regelmäßig eskaliert.

Historisch sticht der Kapitalismus in seiner recht kurzen, lediglich dreihundertjährigen Geschichte unleugbar mit der Fähigkeit hervor, Wohlstand in großem Ausmaß zu schaffen. Offenkundig ist jedoch auch, wie sich daran unmittelbar die Verteilungsfrage anschließt, weil ein entfesselter Kapitalismus massiven Schaden in den Gesellschaften angerichtet hat, in denen Regeln zurückgebaut wurden oder noch nicht existierten. Krisen wohnen dem System inne, das ist einfach so. Die zentrale Frage muss daher lauten, wie man sie einhegt und begrenzt, nicht, was man an dessen Stelle setzt.

Was nämlich bei all der Verschlagwortung der Diskussion verloren geht, ist der differenzierte Blick auf die unterschiedlichen Spielarten des Kapitalismus. Von völliger Entfesselung bis hin zur engen Regulierung sind alle Varianten historisch erprobt worden, so dass wir über das Wissen und die Möglichkeiten verfügen, eine auf Wachstum basierende Ökonomie zu errichten, die weitgehend krisenfrei funktioniert und den Menschen die Möglichkeit bietet, ihr Leben in Sicherheit zu planen, gesellschaftliche Freiräume unabhängig von ökonomischen Zwängen auszubauen und zu gestalten. In der westlichen Hemisphäre passiert allerdings genau das Gegenteil. Dieses große Paradox ist der Ausgangspunkt des in der Edition Suhrkamp erschienenen Buches "Gescheiterte Globalisierung. Ungleichheit, Geld und die Renaissance des Staates".

Während es die ethisch höchste Aufgabe der Politik sein könnte, Wirtschaft so zu steuern, dass sich Wohlstand und damit die Freiheit des Einzelnen vergrößert, tut sie seit mehreren Dekaden genau das Gegenteil. Politik beschneidet sich in ihrer Souveränität, indem sie Macht an transnationale Institutionen wie die EU überträgt und sich aus der makroökonomischen Steuerung zurückzieht. Sie bringt damit vor allem in westlichen Gesellschaften Menschen zunehmend unter Druck. Im Grunde ist es ein Skandal, der sich völlig im Dunkeln vollzieht.

Wer das Buch "Gescheiterte Globalisierung" der beiden renommierten Ökonomen Flassbeck und Steinhardt liest, versteht, seit Dekaden werden die Bürger systematisch um ihren Anteil am gemeinsam erwirtschafteten Wohlstand gebracht, und die Politik drückt sich um ihre eigentlich noble Aufgabe, den Bürgern ein krisenfreies ökonomisches Umfeld zu garantieren, in dem Leben auskömmlich, sicher und planbar ist.

Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt zeigen in ihrem Buch die der Globalisierung zugrunde liegenden Annahmen auf. Sie nehmen sich den Kernsätzen des Neoliberalismus an, die uns nach Jahrzehnten der Indoktrination als verbürgte Wahrheiten gelten, und legen dar, was an ihnen fundamental falsch ist. Sie zeigen auf, welche Weichenstellungen vorgenommen werden müssen, um die westliche Welt aus dem neoliberalen Niedergang zu befreien.

Die der Globalisierung zugrunde liegende ökonomische Lehre, das wird bei der Lektüre klar, ist in ihrem Kern ein Programm der Gegenaufklärung.

Ihr zentrales Versprechen war, durch weitgehende Flexibilisierung aller Lebensbereiche Wohlstand für alle zu mehren. An diesem selbst gewählten Maßstab muss sie sich messen lassen, und an diesem scheitert sie. Die aktuelle Spielart des Kapitalismus ist von allen möglichen Varianten die allerfalscheste.  

Globalisierung nach dieser Spielart scheitert an ihrem Versprechen aus guten Gründen. Wer das Buch von Flassbeck und Steinhardt gelesen hat, versteht, wie stark das neoliberale Modell Innovationen und Fortschritt verhindert, dabei Gesellschaft spaltet und Nationen gegeneinander in eine absurde Konkurrenz bringt.

Die Autoren verdeutlichen das an zahlreichen Beispielen, eins sei hier nachgezeichnet, weil sich an ihm eine Denkungsart zeigt, die bei uns praktisch nicht diskutiert wird:

Konkurrenz von Unternehmen, man kann das nicht leugnen, ist ein beständiger Motor für Innovation und Fortschritt. Damit dieser Motor jedoch seine Kraft entfalten kann, müssen für miteinander konkurrierende Unternehmen die Beschaffungskosten gleich sein. Rohstoffe und Vorprodukte werden an den Märkten zu einheitlichen Preisen gehandelt. So weit, so gut. Arbeitskraft jedoch, das ist eine zentrale neoliberale Forderung, müsse im Preis flexibel sein. Wenn ein Unternehmen beispielsweise von Bankrott bedroht ist, sollen Arbeitnehmer bereit zu Lohnsenkungen sein, damit das Überleben des Unternehmens sichergestellt wird. Flassbeck und Steinhardt halten dem entgegen, dass genau dies den reinigenden Prozess des Kapitalismus verhindert. Es bedarf ihrer Meinung nach der Rückkehr zum allgemein verbindlichen Flächentarifvertrag, der für alle Betriebe einer Branche den Preis für Arbeit auf gleiche Weise kalkulierbar macht.

Politik hat in diesem Zusammenhang für Vollbeschäftigung zu sorgen, damit Unternehmen, die nicht innovativ sind, bankrott gehen können, ohne dass die Beschäftigten darunter leiden. Vollbeschäftigung bedeutet dabei Arbeitsverhältnisse mit Regelarbeitsvertrag. Prekäre Beschäftigung zählt nicht dazu. In einem Umfeld der Vollbeschäftigung können nicht innovative Unternehmen bankrottgehen, ohne dass sich ein Lohnsenkungsdruck auf die Arbeitnehmer ergibt. Der gesamtgesellschaftliche Standard bleibt erhalten. Aus dem Niedergang einzelner Unternehmen ergibt sich kein gesamtgesellschaftliches Risiko, da der Konsum in seiner Breite als Motor der Entwicklung erhalten bleibt. Das ist dann immer noch Kapitalismus, aber einer, der dem Menschen dient und ihn nicht zum Diener macht.  

Wichtig ist, zu verstehen, dass die einzelnen Individuen einer Volkswirtschaft die finanziellen Möglichkeiten haben müssen, die Produkte zu kaufen, die von ihnen hergestellt werden. Mit breiten Lohnsenkungen ist dies nicht zu bewerkstelligen, wie die jüngste Geschichte zeigt. Die letzten Dekaden mit all ihren Liberalisierungen, Steuersenkungen für Unternehmen und der Agenda 2010 waren daher in den Augen der Autoren eine makroökonomische Katastrophe. Das System wurde in einer Weise entfesselt, dass es sich selbst schädigt. Um es zugespitzt zu sagen: Wenn man durch Betteln um weitere Steuersenkungen die Gewinnmarge genauso halten kann wie durch teure Investitionen in Forschung und Entwicklung, dann geht das Geld eben in den Lobbyismus.

Bei der Lektüre von "Gescheiterte Globalisierung" wird deutlich, die Aufgabe von Politik ist, Unternehmen in die Innovation zu treiben, nicht sie zu entlasten. Dann lässt die Innovationskraft nach; das System als Ganzes erschlafft. Genau dieser Fehler wurde seit Dekaden gemacht, und es wird weiterhin daran festgehalten.

Ein Thema, das großen Raum in der Diskussion der letzten Jahre eingenommen hat, ist das Thema Schulden, insbesondere die Verschuldung des Staates. Zahllose Ökonomen und mit ihnen die sich ihnen als Multiplikatoren verpflichteten Medien des Mainstreams machen in einem massiven propagandistischen Gewitter auf "ausufernde Staatsschulden" aufmerksam. Während einerseits Schreckensszenarien einer in Schuldenknechtschaft lebenden künftigen Generation an die Wand gemalt werden, werden auf der anderen Seite grundsätzliche, einfach zu verstehende Zusammenhänge außer Acht gelassen. Das ist in tiefer Weise unredlich.

Es gilt nämlich für eine Volkswirtschaft nicht, was für Einzelpersonen gilt: Während man von Eltern auf Kinder tatsächlich Schulden vererben kann, geht das in einer Volkswirtschaft nicht. In einer Volkswirtschaft wird immer genau null vererbt, denn mit den Schulden erbt die Volkswirtschaft, also die Gesamtheit aller Marktteilnehmer auch die Forderungen daran. Die frohe Botschaft ist also, wir vererben der nachfolgenden Generation keine Schulden, wir vererben ihnen nichts.

Mit den Staatsschulden erben die Bürger eines Staates auch die Forderungen daran, die in Form von Schatzbriefen oder Staatsanleihen von Anlegern, Banken und Pensionsfonds gehalten werden. Der makroökonomische Akteur, der erbt und vererbt, ist derselbe. Das ist als Fakt unstrittig, wird aber in der Diskussion verschwiegen.

Man kann das aber noch ein bisschen erweitern, denn man kann null mit einer intakten Infrastruktur, mit einem intakten Bildungssystem, kurz mit allgemeinem Wohlstand oder eben ohne vererben. Wir entscheiden uns seit Dekaden dafür, es ohne zu tun. Es ist, als vererbe man ein Haus ohne Dach und eine alte rostige Schrottkarre ohne Räder und hofft dann bei den Erben auf ewige Dankbarkeit, weil man sich die Kosten für Reparatur oder eine Neuanschaffung erspart hat.  

Generell, so die Position von Flassbeck und Steinhardt, sind Staatsschulden überhaupt kein Problem, solange man eine funktionierende Zentralbank hat, was bedeutet, dass sie auch den Staat direkt finanzieren darf. Die EZB macht das inzwischen. Während man insbesondere in Deutschland darin eine Überschreitung ihres Mandats sieht, ist diese Maßnahme das, was den Euro überhaupt noch am Leben hält und sicherstellt, dass die Eurozone nicht in unkontrollierter Weise auseinanderfällt, weil jeder Spekulant durch das Verbot der Finanzierung eingeladen worden ist, gegen einzelne Volkswirtschaften der Eurozone zu spekulieren und sie in den Bankrott zu treiben.

Die Autoren machen noch auf einen weiteren Zusammenhang aufmerksam. Während man in Deutschland davon ausgeht, dass sowohl Staat, private Haushalte und Unternehmen gleichzeitig sparen können, verdeutlicht "Gescheiterte Globalisierung", dass genau das nicht geht. Wo gespart wird, muss es Schulden geben. In Deutschland sparen tatsächlich alle Sektoren, was aber nichts anderes bedeutet, dass sich das Ausland verschulden muss. Und genau das passiert, genau das ist der Motor, der das "Friedensprojekt EU" scheitern lässt, da es zu erheblichen Verwerfungen innerhalb der Eurozone führt. Die ganz offenkundige, unstrittige bilanztechnische Erkenntnis hat sich dennoch nicht in den Parteien durchgesetzt – in denen, die sich für wirtschaftlich besonders kompetent halten schon gleich zweimal nicht.

Flassbeck und Steinhardt weisen darauf hin, dass in einer gesunden Volkswirtschaft es die Unternehmen sind, die sich verschulden. Sie tun das, um Innovationen voranzutreiben und die Produktivität zu erhöhen mit dem Ziel, eine Gewinnmarge oberhalb des Zinssatzes zu erreichen, zu dem sie sich verschulden mussten, um dem Wettbewerb standzuhalten.

Die Wirtschaftspolitik der vergangenen Dekaden hat dies umgekehrt. Das Resultat sind dysfunktionale Unternehmen und eine dysfunktionale nicht innovative Wirtschaft.

Schon diese beiden Beispiele zeigen, wie lohnend die Lektüre des Buches "Gescheiterte Globalisierung" tatsächlich ist. Selbst wenn man sich nicht allem anschließen möchte, was im Text dargelegt wird, weil es stark mit den bisher breit vermittelten "Tatsachen" bricht, so wird dennoch deutlich, wie wenig alternativlos die von deutschen Politikern beschworene Alternativlosigkeit doch ist.

Schließt man sich den Ausführungen der Autoren an, bleibt allerdings nur ein erschreckendes Resümee zu ziehen. Die Bürger Europas, die Bürger Deutschlands werden seit mehreren Dekaden systematisch um ihren Anteil am Erfolg, um ihre Sicherheit, die Planbarkeit ihrer Existenz und damit ihrer grundlegenden Freiheit betrogen. Und das inzwischen in einer Weise, dass die Gesamtwirtschaft sich nun selbst im Niedergang befindet.  

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