Gesellschaft

Konflikte der Zukunft – Alexander Dugin umreißt eine künftige Theorie der multipolaren Weltordnung

Alexander Dugin ist ein russischer Philosoph und Soziologe, der an der staatlichen Moskauer Universität lehrte und aktuell als Publizist arbeitet. Im Westen wird er gerne als "Chef-Ideologe", "Vordenker" oder "Zuflüsterer" des russischen Präsidenten tituliert. 
Konflikte der Zukunft – Alexander Dugin umreißt eine künftige Theorie der multipolaren WeltordnungQuelle: Sputnik

von Gert Ewen Ungar

Sucht man im Internet gleichzeitig nach den Namen Dugin und Putin erhält man eine lange Liste von Artikeln über den angeblichen Einfluss Dugins auf die Politik Putins. In den deutschen Qualitätsmedien wie Spiegel, Die Zeit, Süddeutsche und Welt ist von einem modernen Rasputin die Rede, von "Putins Hirn", vom "Einflüsterer Putins", da ist Dugin der "rechtsradikale Guru" Russlands. Dugin wird dargestellt als wirr, als rechts bis offen faschistisch und daher gefährlich. Gleichzeitig ist er laut deutschen Medien mit großem Einfluss auf die russische Politik ausgestattet.

Wer die Unzuverlässigkeit kennt, mit dem der deutsche Mainstream über Russland "informiert", bekommt da natürlich sofort Appetit auf mehr, bekommt Lust auf eine fundiertere Auseinandersetzung, als sie ein überwiegend transatlantisch ausgerichteter Journalismus mit seiner Tendenz zur groben Verschlagwortung bieten kann.

Beim Einstieg in solche Auseinandersetzung erstaunt es dann umso mehr, wie wenig es von Dugin auf Deutsch gibt. Obwohl sein angeblicher Einfluss doch geradezu nach einer dezidierten Auseinandersetzung schreit, zu der die Übertragung seiner Bücher ins Deutsche nunmal gehören würde. Doch Fehlanzeige. Es gibt viel über ihn, aber wenig von ihm. Lediglich zwei Werke wurden ins Deutsche übersetzt: "Die vierte politische Theorie" gibt es als Book on Demand und "Konflikte der Zukunft" ist in einem kleinen Verlag erschienen, der dem rechten Spektrum nahesteht. Ob die deutschen Qualitätsjournalisten bei ihrer Einordnung des russischen Denkers sich im Original mit Dugin auseinandergesetzt haben und ihn auf Russisch gelesen haben, ist die große, sehr berechtigte Frage, die man sich angesichts der dürftigen Quellenlage auf Deutsch einfach stellen muß. Die wesentlich naheliegendere Vermutung ist allerdings, dass sie ihn einfach mal gar nicht gelesen haben. "Man" schreibt in Deutschland gern vom Hörensagen.

Während die Liste der Literatur von Dugin auf Deutsch ganz kurz ist, ist nun aber die Liste der Literatur über ihn umso länger. In den Buchtiteln geht es um neurechte Netzwerke, um den neuen Imperialismus Russlands, um den Einfluss angeblich faschistischer Ideen Dugins auf die Politik Putins, um Anti-Europäer schlechthin.

Was es allerdings nicht gibt, ist eine direkte Auseinandersetzung mit den originalen Texten. Eine einfache Buchbesprechung fehlt. Diese Lücke soll hier wenigstens für einen Titel Dugins geschlossen werden. Es geht im Folgenden um das 2015 im Bonus-Verlag erschienene Buch "Konflikte der Zukunft. Die Rückkehr der Geopolitik".

Das Buch unterteilt sich in zwei Teile. Dem Hauptteil "Konflikte der Zukunft" sind mehrere Interviews angehängt, die ursprünglich im "Deutschen Nachrichtenmagazin ZUERST" erschienen sind. Sie werden hier nicht besprochen, denn sie sind für das Verständnis des Hauptteils nicht maßgebend.

In diesem Hauptteil widmet sich Dugin der Frage, wie eine Theorie der multipolaren Weltordnung begründet werden kann. Er steckt gleichsam das Feld ab, das eine noch zu schreibende Theorie der postmodernen Weltordnung bewältigen muß.

Um es vorweg zu nehmen: "Konflikte der Zukunft" ist einerseits eine Einladung, an einer Theorie der multipolaren Weltordnung mitzudenken, andererseits ist sie schon jetzt ein erster positiver utopischer Entwurf. Sie ist nämlich der Gegenentwurf zum "Clash of Civilisations", dem "Kampf der Kulturen", wie er vom US-amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Huntington postuliert wurde.

Ausgangspunkt ist für Dugin das Jahr 1991. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verbleibt ein MachtMONOpol. Das Ende der Geschichte scheint gekommen. Das geographische Zentrum des einen verbleibenden Machtpols sind die USA, das ideologische Zentrum ist der Liberalismus. Ausgestattet mit seinem Universalitätsanspruch ist der Liberalismus aggressiv expansiv: Es ist die Zeit der Globalisierung. Ein grenzenloser Kapitalismus macht sich auf, die Welt "endgültig" zu strukturieren und sich unterzuordnen. Dabei spaltet der dem Liberalismus als Ideologie hilfreich beigeordnete Individualismus die Gesellschaft in immer kleinere Gruppen und Untergruppen auf, die sich willfährig gegeneinander in Opposition stellen lassen. Zudem verteilt der Liberalismus als ökonomische Ideologie das Vermögen weiter von unten nach oben. In seinem Bemühen, die eigenen Ideologie weltweit durchzusetzen, stößt der Liberalismus jedoch zunehmend an Grenzen und Widerstände, die er mit unverhohlener Gewalt zu durchbrechen versucht. Der Traum der 90er Jahre, die Welt würde künftig ein von gemeinsamen Werten getragenes, friedliches globales Dorf werden, hat sich in einen Albtraum verkehrt. Der "Werteexport" des Westens ist an eine Grenze geraten, der Westen selbst wird zunehmend unglaubwürdig, da er wie keine andere Region der Welt an ebensolchen "Werten" scheitert, die er zuvor für alle Welt als maßgeblich und wegweisend postuliert hatte und weiter postuliert.

Der nach 1990 etablierte Anspruch, diese "liberale" Weltordnung sei eine universale Ordnung, die global von allen Kulturen adaptiert und gelebt werden könnte, ja müsste,  entpuppt sich als große Illusion. Denn dieser "Liberalismus" ist keineswegs friedfertig. Er muss als Ideologie mit Gewalt umgesetzt werden, ist daher also eine schnöde Spielart des westlichen Imperialismus.

Die liberale Ordnung ist historisch entstanden, ist ebenso wie alle anderen Ordnungen keine universelle, allzeit und an allen Orten gültige Theorie, sondern eine relative Ideologie mit einer historischen und geographischen Begrenzung. Kein Ende der Geschichte. Es geht weiter. Das ist die Grundannahme, so das Axiom Dugins.   

Ihm zufolge ist die liberale Weltordnung nichts anderes als eine Variante des intellektuellen, geographischen und ökonomischen Anspruchs des Westens auf Hegemonie – eine Variante des Kolonialismus und Imperialismus. Sie ist damit nichts anderes als eine Variante der Moderne mit ihrem Anspruch auf Universalität ihrer und nur ihrer Werte. Dem stellt Dugin einen postmodernen geopolitischen Entwurf gegenüber: Die Multipolarität der Welt.

Spätestens hier wird auch deutlich, warum die Vertreter des Liberalismus derart schäumen, wenn sie den Namen Dugin hören. Dugin weist ihrem Imperialismus all die damit verbundenen Diskriminierungen und die damit verbundene Brutalität nach, zeigt obendrein dessen Relativität, die historische Beschränktheit ihrer angeblich universalen Ideologie auf. So wundert es nicht mehr, wenn transatlantisch ausgerichtete Think-Tanks – wie beispielsweise das Zentrum liberale Moderne – sowie die entsprechend vernetzten Qualitätsmedien gegen Dugin polemisieren, entlarvt er doch den dort vertretenen Liberalismus als Totalitarismus.

Leider wird diese "Auseinandersetzung" mit Dugin nicht redlich geführt, denn es werden zwar kübelweise unfreundliche Attribute über Dugin ausgegossen, ein inhaltlicher intellektueller Streit findet jedoch nicht statt.

Man überlässt die Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen einer post-liberalen Weltordnung kampflos den Rechten. Das wirft kein gutes Licht auf den Zustand der westlichen Diskussionskultur.

Dabei ist der Prozess der Umgestaltung der Welt ganz offensichtlich in vollem Gange. Es lässt sich nicht leugnen, dass mit dem ökonomischen Erstarken der Schwellenländer die zunächst bipolare Nachkriegsordnung, die mit dem Niedergang der Sowjetunion monopolar wurde, in ihren Grundfesten erschüttert wird. Es bedarf daher dringend einer umfassenden Theorie der multipolaren Weltordnung, die Dugin hier begründen möchte. Es gibt bisher schlicht keine.

Dugin schlägt die Ablösung des Denkens in den Kategorien von mehr oder weniger souveränen Nationalstaaten vor. Ersetzen soll das der Begriff der Zivilisationen.

Er grenzt sieben voneinander verschiedenen Zivilisationen ab. Das wirkt recht willkürlich, denn eine genauere Begründung für diese Gruppierung liefert Dugin nicht. Er bespricht zwar das zur Verfügung stehende methodische Instrumentarium, das eine Abgrenzung der Zivilisationen voneinander ermöglichen soll. Die Anwendung dieser Methoden fehlt dann allerdings. Dugin übernimmt einfach die von Samuel Huntington aufgezählten Zivilisationen. Und spätestens hier ist dann auch die Einladung zum weiterführenden Diskurs mehr oder weniger explizit ausgesprochen. Wie lassen sich die zivilisatorischen Großräume voneinander abgrenzen? Welche Unterscheidungen sind sinnvoll, welche nicht? Wo sind kulturelle, identitätsstiftende Kristallisationspunkte?

Zivilisationen sind Großräume kultureller Gemeinsamkeiten. Der Begriff ist absichtlich schwammig, denn an den geographischen Rändern der einzelnen Zivilisationen werden diese mit ihrer eigenen Relativität konfrontiert. Es wird keine festen, starren Grenzen zwischen den Zivilisationen geben. Dennoch sind Zivilisationen andererseits relativ autonom. Sie sind frei, es gibt über ihnen keine Begrifflichkeit, an der sie sich ausrichten müssen. Es gibt auch keine Institution, die über der Souveränität der jeweiligen Zivilisationen stünde. Universelle Menschenrechte beispielsweise sind für Dugin den Zivilisationen eben nicht übergeordnet.

Das eröffnet freilich den Weg für Missverständnisse. Die Aberkennung der Universalität von Werten wie den Menschenrechten bedeutet nicht, dass in den Zivilisationen die große Barbarei herrscht, weil die Gestaltungsmacht der westlichen Hegemonie fehlt. Es bedeutet vielmehr, dass auf der Grundlage der Kultur der jeweiligen Zivilisation ein Wertesystem etabliert wird, das autonom ist und der Dynamik der Diskussion innerhalb der jeweiligen Zivilisation unterliegt, das aber außerhalb von ihr keine Gültigkeit besitzt.

Die Zivilisationen stehen miteinander im Dialog, jedoch ohne den Führungsanspruch einer bestimmten Zivilisation anzuerkennen. Auch hier untersucht Dugin unterschiedliche Methoden auf ihre Tauglichkeit für einen zwischen den Zivilisationen zu führenden Dialog. Dieser Dialog ist nicht anders denkbar als ein beständiger Prozess des gegenseitigen Einfühlens und Auseinandersetzens mit dem Wertesystem der anderen Zivilisationen, denn ein universell gültiger Maßstab fehlt. Es erstaunt daher etwas, dass ausgerechnet die Hermeneutik als Verfahren für Gestaltung des Dialogs in Dugins kritischer Untersuchung der unterschiedlichen Methoden fehlt.

Im Idealfall ist dieser Dialog eine respektvolle Anerkennung der Andersartigkeit der Zivilisationen als Grundlage der inter-zivilisatorischen Beziehung. Der Dialog der Zivilisationen wird ein beständiger interkultureller Dialog sein müssen. Das mag nicht immer glücken. Krieg als Möglichkeit schließt Dugin daher nicht aus. Doch letztlich ist Dugins Grundlegung zu eine Theorie der multipolaren Weltordnung eine positive Utopie. Sie ist die Anerkennung der Vielfalt und der Autonomie von Kulturen. Es ist paradoxerweise das, was Liberale derzeit auf gesellschaftlicher Ebene durchsetzen wollen, ins Geopolitische gewendet. Die Theorie der multipolaren Weltordnung lässt den Nationalstaat hinter sich und erkennt die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Kulturen als autonom an.

Ist das "rechts", was Dugin hier schreibt? Bei allem, was Dugin sonst noch so für Ansichten vertreten mag, mit wem er schon zusammen gesehen worden ist und wer sich auf ihn berufen mag – "rechts" ist das vorliegende Buch erst einmal nicht. Zum Einen hat das Paradigma "rechts-links" lediglich in der westlichen Zivilisation überhaupt Gültigkeit. Eine Theorie der multipolaren Weltordnung in den Umrissen, die Dugin hier zeichnet, kann zum Anderen für sich nicht "rechts" sein, denn sie ist das Gegenteil eines Totalitarismus.

Für den Diskurs ist daher zu wünschen, dass hier tatsächlich ein breiterer Dialog angestoßen wird. Sonst verlieren wir nicht nur im Hinblick auf den Internetausbau und den Ausbau der Infrastruktur sondern auch intellektuell den Anschluss, wenn wir weiterhin auf die Absolutheit unserer Werte und ihrer Begründung pochen. Das ist nämlich irgendwie so ein bisschen wie die "Neunziger".

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