Gesellschaft

Russischsprachiger Pop gegen deutsche Enge

Geht es um Russland, wird dem westlichen Mediennutzer nur ein kleiner, obendrein oftmals verzerrter Ausschnitt der russischen Lebenswirklichkeit präsentiert. Was nicht in die "Erzählung" einer unfreien, korrupten, homophoben Gesellschaft passt, wird ausgeblendet.
Russischsprachiger Pop gegen deutsche Enge© Screenshot/YouTube

von Gert Ewen Ungar

Jedes Zeugnis von Vielfalt, Offenheit und gesellschaftlichem Wandel in Russland wird in westlichen, insbesondere in den deutschen Medien konsequent totgeschwiegen. Wenn es sich nicht totschwiegen lässt, werden die Fakten bis hinunter zur Lüge verbogen, damit nur ja nicht der Eindruck einer dynamischen Gesellschaft entsteht, die den Westen in vielerlei Hinsicht gerade überholt.

So ist es nur folgerichtig, wenn der deutsche Medienkonsument von der russischen Pop-Kultur nichts erfährt, denn sie bricht mit all den wohl gepflegten, durchweg negativen Klischees des Westens über Russland.

Russland verfügt, was Pop-Kultur angeht, über eine mediale Infrastruktur, die bei uns längst kaputt gegangen ist.

Während MTV und VIVA in den 80er und vor allem in den 90er Jahren in Deutschland ein die Gesellschaft beeinflussendes Potential entfalten konnten, sind sie heute bedeutungslos.

In Russland ist die Entwicklung gegenläufig. Sender wie MUZ-TV und RU.TV sind nicht nur Verbreitungskanäle, sondern realisieren auch die Produktion von Clips, die so  miteinander in einen Wettbewerb um die größere Kreativität, Originalität und Ausdrucksstärke treten können. Solche Zeiten sind bei uns vorbei.

Der Anteil russischsprachiger Clips liegt bei MUZ-TV bei siebzig, bei RU.TV bei einhundert Prozent. RU.TV steht in Verbindung mit dem nach eigenen Angaben größten Radionetzwerk der Welt, Russkoje Radio, das ebenfalls ausschließlich russischsprachige Musik spielt und in allen Ländern der GUS empfangen werden kann.

Man kann diese Fokussierung auf die russische Sprache natürlich für einen Ausdruck von Nationalismus oder Provinzialismus halten. Es ist zu befürchten, dass der deutsche Mainstream in seiner verkürzenden Darstellung der russischen Lebenswirklichkeit dies genau so einordnen wird. Die bessere - weil schlüssigere - Interpretation ist jedoch, dass für russischsprachige Musik ein Freiraum geschaffen wurde, durch den russischsprachige Künstler eingeladen sind, ihn mit ihrer Kreativität zu füllen.

Es ist nämlich keineswegs so, dass in den russischsprachigen Sendern und Kanälen ausschließlich Künstler aus Russland Platz finden, um ihre Produktionen einem breiten Publikum präsentieren können.

So ist beispielsweise die große Anzahl von Künstlern aus der Ukraine in der russischsprachigen Popkultur gar nicht zu übersehen. Das erscheint zwar auf den ersten Blick paradox, auf den zweiten aber völlig logisch. Zwar versuchten einige Künstler aus der Ukraine über die englische Sprache einen Einstieg in die westliche Popkultur zu finden, doch das gelang in den allermeisten Fällen aus wohlbekannten Gründen dieser Branche nicht. Wir interessieren uns nicht nur für Derartiges nicht, sondern - wie eingangs schon gesagt - wir verfügen auch gar nicht mehr über die dafür notwendige Infrastruktur und Weltoffenheit. Daher bedienen Interpreten aus der Ukraine nun also weiterhin den russischsprachigen Markt und bilden so eine Brücke zwischen den Ländern, die aufrechtzuerhalten oder neu zu schlagen sich insbesondere westliche und westwärts orientierte Politik gerade weigert.

Im August veröffentlichte zum Beispiel die in Kiew lebende Loboda ihren neuen Clip, der auf Youtube schon nach wenigen Tagen die Marke von einer Million Klicks durchbrach und es inzwischen auf über zwanzig Millionen Aufrufe bringt. Dabei sind zentrale Szenen des Videos nach westlichem Verständnis für den russischen Markt vollkommen ungeeignet, denn es wird hier gleichgeschlechtlich geküsst.

Dessen ungeachtet spielen die russischen Stationen das Lied hoch und runter, denn man schert sich in Russland nicht über grassierende Klischees im Westen. Das gilt auch für die neue Produktion von Max Barskich, in der es ganz offenkundig um gleichgeschlechtliche One-Night-Stands geht.

Diese queere Offenheit des russischsprachigen Pop erinnert stark an die Entwicklung in den neunziger Jahren in westlichen Ländern. In Großbritannien wurde mit der Clause 28 ein Gesetz erlassen, das jede positive Äußerung staatlicher Stellen gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensentwürfen unterband, in Deutschland war der berüchtigte Paragraph 175 noch in Kraft, der 1994 nur in der Folge der Wiedervereinigung fiel. In der DDR wurde der Paragraph 175a nach dem zweiten Weltkrieg als ein in der Nazi-Zeit noch drastisch verschärftes Relikt des Reichsstrafgesetzbuches abgeschafft. Die BRD hat ihre "Liebe" zu Diversität und sexueller Selbstbestimmung erst viel später, dafür aber mit umso größerer Heftigkeit entdeckt.

Ob die aktuelle Umarmung der queeren Community durch deutsche und westliche Politiker und Medienvertreter einer tatsächlichen entdeckten Liebe zur Vielfalt und daher dauerhaft und echt ist, muss natürlich jeder für sich selbst entscheiden. Ich habe da allerdings ganz große Zweifel.

Doch während zu Beginn der 1990er alle diese Einschränkungen und Regularien noch in Kraft waren, in einigen Ländern sogar verschärft wurden, und man in Deutschland mit der Verbreitung von AIDS politisch sogar über die Internierung von HIV-Positiven in Lagern nachdachte, sangen Bronski Beat, Marc Almond und mit ihnen viele andere Hymnen auf die gleichgeschlechtliche Liebe, sowie den Variantenreichtum menschlicher Sexualität und Lebensentwürfe, was auch von MTV in die deutschen Wohnzimmer übertragen wurde.

Und wir wissen inzwischen: das lässt sich nicht mehr einfangen, denn in den deutschen Wohnzimmern war man dadurch im Hinblick auf Toleranz deutschen Politikern weit voraus. Nun wiederholt sich Geschichte keineswegs, denn Russland ist von einer solchen menschenverachtenden Diskussion über Lager für Kranke weit entfernt. In Bezug auf die Pop-Kultur jedoch passiert in Russland gerade etwas Vergleichbares zu den 1990ern in Westeuropa. Allerdings erfährt man hier bei uns darüber nichts. Warum auch? Das würde den deutschen Konsumenten hierzulande medial verbreiteter Weltsicht nur irritieren.

Irritieren würde ihn auch, dass diese in der Öffentlichkeit präsenten Stars wie Sergej Lasarew, Anna Pletnowa, Lolita und all die anderen ganz regelmäßig ganz einschlägig auftreten, denn sie alle sind willkommene Gäste in der Moskauer Schwulendisko Central Station. Sie alle geben sich da regelmäßig ein musikalisches Stell-Dich-Ein. Erst vor Kurzem beispielsweise der Publikums-Gewinner des ESC 2016 Sergej Lasarew.

Dadurch wird das Central Station zu mehr als nur einer Diskothek. Das mehrstöckige Gebäude in der Nähe der Metro-Station Autosawodskaja ist eine Institution, ein Bindeglied zwischen offizieller Pop- und queerer Kultur. Und sie ist, man müsste das mal genauer nachmessen, mit ihren unterschiedlichen Floors und Bühnen, dem angeschlossenen Karaokeclub und der Sauna vermutlich die größte Schwulendisko in Europa. Richtig gelesen. Auch das bricht mit einem beliebten russophoben Klischee. Die größte Schwulendiskothek Europas befindet sich in Moskau. Und nicht in Berlin oder London.

Doch ganz unabhängig von diesem für den Westen so wichtigen und gleichzeitig so verzerrt dargestellten Thema, ob Russland "hinreichend offen" gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensweisen sei, ist die russische Popkultur dank der guten medialen Infrastruktur von einer unglaublichen Vielfalt. Da kommt der deutsche Pop mit seinen entpolitisierten, "weichgespülten" Durchhalteschlagern à la Lea, Silbermond und Glasperlenspiel nicht mit.

Es ist daher schade, dass russischsprachiger Pop so gar keinen Eingang in unsere Musikkultur findet. Er ist vielfach frech, aufmüpfig, oppositionell und emanzipatorisch, wäre daher eine Bereicherung und Anregung für die doch recht provinzielle oder in Schablonen erstarrte westliche Musikszene, die sich überwiegend der Nabelschau hingibt und Texte produziert, die hörbar verkrampft versuchen jede Konfrontation, jede noch so kleine Reibung zu vermeiden, weil man genau weiß, was in der deutschen Enge passiert, wenn man sich nicht an die unausgesprochenen Tabus hält: Dann werden großzügigst  Etiketten verteilt: als angeblicher Antisemit, Rassist oder Reichsbürger, und die Karriere ist dann schnell zu Ende. Zwar wird auch in Russland viel diskutiert, auch über über Pop, aber solche deutsche autoritäre Enge gibt es dort eben nicht. Entsprechend breiter und kreativer sind die kreativen Ergebnisse des dortigen Pop und entsprechend bereichernd wären sie deshalb auch für uns. Sie würden uns vorführen, was Pop eigentlich kann, wenn man ihm die Möglichkeit gibt, sich frei zu entfalten: Gesellschaft verändern.

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.