Gesellschaft

Warum die Weißrussen den offiziellen Statistiken nicht trauen – Reportage

Wie lässt sich mit weniger als 200 Euro im Monat leben? Die hart arbeitenden Menschen in Weißrussland haben es schwer. Wie sie als Überlebenskünstler ihr Leben trotzdem meistern können, erzählt unsere RT-Reportage aus Witebsk, der fünftgrößten Stadt im Land.
Warum die Weißrussen den offiziellen Statistiken nicht trauen – Reportage Quelle: RT © Wladislaw Sankin

von Wladislaw Sankin 

Der Mann mit der Motorsense unterbrach seine Arbeit, kippte die Schutzmaske über seine Stirn und ging zur schmalen Sitzbank, wo ein kleines Beutelchen mit seinen Sachen lag. Ich wusste schon – es ist die Zeit für eine Zigarettenpause. Ich, der Besucher eines Stadtstrandes am östlichen Ufer des Westdwina im weißrussischen Witebsk, nutzte die Gelegenheit und ging wenige Meter zu ihm rüber. Ich ging neben ihm in die Hocke und bat ihn um Feuer. Im Gegenzug bot ich ihm gleich eine Zigarette an. Damit war das vertrauliche Gespräch zwischen Arbeiter und neugierigem Urlauber "in der Raucherecke" eingefädelt.

Vor meinen Augen sah ich aus der Froschperspektive das sonnengegerbte Gesicht eines Mannes in Latzhosen, übersäht mit zerschreddertem Gras. Aus den Wangen und am Kinn stachelte schütterer, grauer Dreitagebart hervor. Nikolai, so hieß der Mann, hat noch vier Jahre bis zur Rente. Ich rechnete: nach der weißrussischen Rentenreform müsste er also 59 Jahre alt sein. Die hellen Augen sind nachdenklich, aber nicht traurig. Wie schwer der Job auch immer ist, er hält noch mit den Jüngeren mit.

Job für gesunde

Im städtischen Betrieb der Grünflächen-Wirtschaft Selenhoz ist Nikolai noch relativ neu. 30 Jahre hat er als Fließbandarbeiter in der Produktion von Fernsehern gearbeitet. Er habe gut verdient. Dann schloss das Werk und er ging zum Schuhhersteller Marko. Irgendwann wurde er "zu alt" und musste gehen. Mit der Bewerbung beim Selenhoz hatte Nikolai seine weitere Deklassierung vorerst gestoppt. Der Straßentrinker wäre wohl sonst die Alternative gewesen, sage ich ihm. Seit Jahrzehnten prägen Männer unbestimmten Alters auf wackeligen Beinen manche Straßen mit älterer Bebauung in Witebsk. Genauso führt das Land seit Jahren die wenig ruhmvolle Liste der Länder mit dem höchsten Alkoholkonsum an. Er nickt. „Muss wohl“ würde man als Deutscher in so einer Situation sagen. Was er und seine Kollegen verdienen, wage ich nicht einmal zu fragen. Aus dem Gespräch wird dennoch klar: Es sind nicht einmal 400 Rubel (umgerechnet 175 Euro). Die Zulage für tägliche Einatmung schädlicher Abgase beträgt dabei 12 Rubel. Die ärztliche Kontrolle sei bei der Jobaufnahme besonders streng gewesen.

Ich weiß: Dieses Geld würde bei den hiesigen Lebensmittelpreisen knapp fürs Essen, billigeren Tabak und monatliche Fahrkarte reichen. Durch Fischerei, Jagd, Beeren- und Pilzesammeln in der waldreichen Umgebung haben Viele ein kleines Zubrot. Aber auch da werden Ressourcen knapper. Ein Mitinsasse in meinem Zugabteil bei der Fahrt nach Moskau - ein nach Russland ausgewanderter Ingenieur - erzählt mir, dass er unweit seiner Heimatstadt im Osten des Landes wieder mal zelten gehen wollte und dort auf einmal statt Wald nur noch abgeholzte Öde vorfand. Und die Seen der Umgebung waren von den staatlichen Fischeireibetrieben komplett leergefischt. "Unserem Staat gleiten die Deviseneinnahmen weg", erklärte dieser Fachmann, der in Russland zum leitenden Konstrukteur in einem Baubetrieb aufstieg, die Art des Wirtschaftens.

Nikolai kann sich noch auf sein kleines Haus und den Garten verlassen. Er hält auch noch Hühner. Ich sage ihm, dass das nationale statistische Komitee an diesen Tagen einen jährlichen Zuwachs von 8 Prozent beim Durchschnittlohn verkündete. Nun verdienten die Weißrussen 953 Rubel und seien damit nach Schätzungen mancher Experten teilweise bessergestellt als die Russen – wenn man von Moskau und Gasförderungsregionen absieht. Auch BIP und die Raten beim Wirtschaftswachstum verzeichneten aktuell die Steigerungsraten von 3,5 bis 4 Prozent. Allerdings klingen solche Statistiken für viele Bewohner der weißrussischen fünftgrößten Stadt wie Hohn. „Vielleicht ist es irgendwo in Minsk so“ – versucht Nikolai sich mit solch lebensfernen Daten zu versöhnen.

„Versuchslabor“

Das machen langjährige Bekannte von mir – eine Akademikerfamilie mit einer Tochter – schon aus Prinzip nicht. Sie nehmen die weißrussischen Medien nicht ernst. Auch meinen Job betrachten sie mit Argwohn. „Hast du schon bei deiner Arbeit gelogen?“, fragen sie mich. Ihrer Meinung nach regiert in Russland wie auch Weißrussland die pure Propaganda, die mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun hat. Wobei Weißrussland als Experimentierfeld für verschiedene restriktive Maßnahmen fungiert. Die Rentenreform sei ein Beispiel dafür – die Erhöhung des Rentenalters, die in Russland in diesen Tagen in einem Gesetzentwurf beschlossen ist, wurde in Weißrussland bereits vor zwei Jahren Wirklichkeit. Oder das Verbot, Bier in den dafür nicht zugelassenen Orten wie Cafes zu konsumieren. Selbst, wenn eine Flasche Bier in deinem Rucksack gefunden wird, könntest du von der Polizei abgeführt werden, sagt Alexej (Name geändert).

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Solche Kritik ist mir allerdings seit all den Jahren, die ich Alexej und Natalija (Name geändert) kenne, gut bekannt. Der Absolvent der Tierärztlichen Akademie und Hobby-Musiker hat einen genauen Blick auf die Absurditäten des Lebens in seiner Heimat. Er und seine Frau geben sich unpolitisch und ziehen sich ins Private zurück. Dennoch, sie scheinen gut informiert zu sein und würden sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit an den Protesten nach der Art des Kiewer Maidan, sollten solche in Weißrussland einmal aufflammen, teilnehmen.

Es ist bekannt, dass in der Ukraine sehr viele ehemalige Kleinunternehmen im Alter zwischen 30 und 45 in die Formationen der Maidan-Selbstverteidigung und später der nationalistischen Freiwilligerbatallione gingen. Sie waren enttäuscht von den behördlichen Schikanen. Gesellschaftlich gesehen, dürfte in Weißrussland das Protestpotenzial der Kleinunternehmen ähnlich groß sein. Alexej hat keinen Tag in seinem erlernten Beruf gearbeitet, lange verdiente er sein Geld durch Handel mit Auto- und Kosmetikzubehör, bis ihm die Behörden Steuerhinterziehung und illegale Bargeldbeschaffung vorwarfen. „Ordnungsgemäß kannst du aber keine Steuer zahlen, denn dann würdest du das Mehrfache, was du verdient hast, abgeben müssen“, sagte Alexej. „Das System ist dafür geschaffen, damit die Behörden dich immer in der Hand haben“. Immer mehr Unternehmen – von klein bis groß würden nun direkt oder indirekt von der Lukaschenko-Familie kontrolliert.

Knapp dem „Schmarotzertum“ entkommen

Seine Frau Natalia, als Schülerin und später als Psychologiestudentin mit Bestnoten ausgezeichnet, arbeitete mehrere Jahre als Verkäuferin in einer teuren Boutique. Dabei habe sie ganz gut verdient, das half die Zeiten zu überbrücken, als Alexej seine Einnahmen wegbrachen. Damals fing er an, sich mit handwerklichen Gelegenheitsjobs zu verdingen. Er hat, wie man im Russischen sagt, „goldene Hände“.  

Doch auch diese Zeiten sind vorbei. Jetzt hat sie als Hochschuldozentin einen höheren Status, dafür aber niedrigeres Gehalt. Dem Staat fehle überall das Geld, beklagt sie. Im Büro können nicht einmal amtliche Dokumente ausdruckt werden, weil kein Geld für Druckerpapier da ist.   

Die beiden geben zu, dass es ihnen trotz all der Beschwerden relativ gut geht. Vor einem Jahr bekam Alexej einen Job als Beleuchter im Witebsker akademischen Staatstheater, wo die Stücke in weißrussischer Sprache aufgeführt werden. Nur 2 bis 4 Stunden am Tag muss er zur Arbeit erscheinen. Damit entging er knapp einer jährlichen Abgabe für  "Schmarotzertum". Derzeit beträgt die umgerechnet bis zu 200 € im Jahr und soll von denjenigen entrichtet werden, die in einem Jahr weniger als 183 Tage einer regulären Arbeit nachgehen (mit Wirkung zum 1. Januar 2019 ist die Abgabe inzwischen abgeschafft). Nur 10 Minuten braucht er zu Fuß zur Arbeit, über eine der schönsten Straßen der Stadt. „Wir haben einfach immer Glück“, fasst Natalja zusammen. Es sei aber trotzdem nervig, dass man das Auto ständig nur für 5 Rubel betanken kann, weil mehr Geld gerade nicht da sei.

Kein Glück in der Ferne

Dabei sitzen wir auf einem Balkon ihrer schicken 2,5 Zimmer-Eigentumswohnung und genießen den warmen Sommerabend. Alexej hat die Komplettsanierung der Altbau-Wohnung eigenhändig realisiert. Auch mit der Wohnung hatten sie Glück, denn sie haben sie wegen ihres desolaten Zustands für einen Schnäppchenpreis ergattert. Die Straßenlaternen beleuchten uns. Wenige Meter vom Balkon rauschen Blätter hundertjähriger Bäume eines Naturparks am Ufer der Dwina. In dieser Gegend mit den Häusern aus dem 19. Jahrhundert herrscht absolute Idylle. Natalie und Alexej weihen mich in ihre bescheidenen Urlaubspläne ein – ein viertägiger Autotrip nach Sankt-Petersburg, ihre Lieblingsstadt. Nur 700 Kilometer ist sie entfernt. Seit Jahren, als Alexej in Sankt-Petersburg regelmäßig seine Waren einkaufte, haben sie viele Freunde dort.

Mittlerweile hat sich die Familie in ihrer Heimatstadt sehr bequem eingerichtet und will nicht mehr weg. Noch vor 6 bis 8 Jahren war das nicht der Fall. Damals versuchte Alexej, durch ein Studium in Deutschland Fuß zu fassen, mit Ende Dreißig. Daraus wurde nichts. Das Land Dichter und Denker ist aber für die beiden nach wie vor das Land des hohen Lebensstandards und einer sehr rationalen gesellschaftlichen Ordnung aus ihrer Sicht geblieben: Sie bewundern es immer noch. Natalia fragt mich, was ich von der Flüchtlingskrise halte. Sie nickt, als ich sage, dass das Bild aus den Medien ein übertriebenes sei. Sie könne trotzdem die Motive von Frau Merkel nicht ganz nachvollziehen und sie will, dass ich ihnen das nochmal erkläre.  

Als wir zu Beginn unseres Gesprächs noch über die Medien redeten, bat mich Alexej, doch mal etwas darüber zu schreiben, „wie einfache Menschen in Weißrussland leben“. Das wollte ich mit diesem Bericht an zwei Beispielen anschaulich tun. Ich könnte auch schreiben, wie arbeitende und nicht arbeitende Rentner leben, wie das Gesundheitssystem im Land funktioniert oder wie das offizielle und inoffizielle Verhältnis zu Russland ist. Die Menschen in dem Land haben es nicht leicht. Und auch die Regierung hat viele Schwierigkeiten zu bewältigen. Sozialabbau schreitet zwar langsamer als in anderen postsowjetischen Ländern voran, aber genauso unaufhaltsam. Nichtdestotrotz, nach jedem neuen Besuch in Witebsk und Minsk sehe ich auch Verbesserungen. Nur eben in sehr kleinen Schritten. Auch wenn viele Einwohner mir an diesem Punkt vielleicht widersprechen würden.

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