Gesellschaft

Rechtlos mit "neuer Grundsicherung": Hungerstrafen gehen der Union nicht weit genug

Die Unionsminister Reiche und Dobrindt haben den Beschluss zur "neuen Grundsicherung" im Kabinett blockiert. Ihr Grund dafür ist nicht etwa die Unmenschlichkeit von Hungerstrafen gegen Mittellose. Sie wollen nun sogar das Recht Betroffener auf Anhörung verhindern.
Rechtlos mit "neuer Grundsicherung": Hungerstrafen gehen der Union nicht weit genug© Urheberrechtlich geschützt

Von Susan Bonath

Wer als Erwerbsloser einen Termin verpasst, eine Maßnahme ablehnt oder ein Arbeitsangebot ausschlägt, dem sollen Jobcenter künftig jede Hilfe für Essen, Miete und Krankenversicherung streichen können – egal, ob psychisch krank oder alleinerziehend. Zum Kabinettsbeschluss des Gesetzentwurfs, der noch repressiver als Hartz IV ist, kam es diese Woche aber nicht, weil Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) und Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) sich dagegen stemmten. Dies nicht etwa, weil sie Grund- und Menschenrechte verletzt sahen. Vielmehr störte sie das Recht Betroffener auf vorherige Anhörung.

Anders ausgedrückt: Die ehemalige E.ON-Lobbyistin Reiche und der rechte CSU-Hardliner Dobrindt wollen Sachbearbeiter in Jobcentern dazu ermächtigen, Hilfsbedürftigen wegen vermeintlichen "Ungehorsams" die gesamte Existenzgrundlage zu entziehen, ohne dass die Behörde den tatsächlichen Grund für ihr Verhalten ermitteln müsste. Selbst mit einem Widerspruch kämen dann Betroffene aus dieser Falle nicht mehr schnell heraus. Denn im Sozialrecht hat dieser keine aufschiebende Wirkung.

Härter bestraft als Schwerverbrecher

Über diese "Unstimmigkeit" im Kabinett berichtete zuerst das Handelsblatt. Zuvor hatte das SPD-geführte Arbeitsministerium auf der Bundespressekonferenz eine Stellungnahme zum Hintergrund des geplatzten Beschlusses verweigert.

Demnach hatte Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) einen Passus in den Gesetzentwurf einarbeiten lassen, der eine behördliche Anhörung Betroffener vorsieht, bevor ein Jobcenter sie vollständig auf null setzen kann. Dies widerspreche allerdings der Einigung innerhalb der Regierungskoalition, behaupteten Reiche und Dobrindt. Sie begründeten ihre Haltung demnach damit, dass eine Anhörung "die Gefahr berge, dass Betroffene den Leistungsentzug einseitig verhindern könnten". Ihr Veto hätten sie mit der Unionsfraktion abgesprochen.

Grausame Willkür

Das bedeutet: Während selbst Schwerverbrecher in deutschen Gefängnissen einen Anspruch auf menschenwürdige Behandlung haben, also der Staat ihnen Nahrung, Obdach und sonstige Grundbedürfnisse gewähren muss, gilt das für Arbeitslose nicht. CDU und CSU wollen einfachen Sachbearbeitern ohne medizinische und psychologische Ausbildung also die Entscheidung überlassen, Betroffenen die gesamte Existenzgrundlage zu entziehen, ohne sich mit dem Grund ihres "Ungehorsams" oder des Terminversäumnisses befassen zu müssen. Das öffnet Tor und Tür für grausame Willkür.

Wobei allein die Möglichkeit, Mittellose mit vollständigem Hilfeentzug zu bestrafen, auch mit Anhörung grausam genug und weit entfernt wäre von Artikel 1 des Grundgesetzes. Das darin verankerte Grundrecht auf Menschenwürde ist eben Auslegungssache. Das Hintertürchen dafür öffnete das Bundesverfassungsgericht 2019: Zwar bekräftigten die höchsten Richter in ihrem Urteil, der Staat dürfe das Existenzminimum nicht um mehr als 30 Prozent kürzen. Schlägt aber jemand ein Jobangebot aus oder erscheint nicht zum Termin, dürfe die Behörde annehmen, er sei gar nicht bedürftig.

Kranke trifft es zuerst

Wen die Grausamkeit zuerst trifft, steht schon jetzt fest: Menschen mit psychischen Problemen wie Depressionen, Suchtkranke, geistig Beeinträchtigte, Alleinerziehende ohne Kita- oder Hortplatz zum Beispiel. Sogar die staatskonforme Bertelsmann-Stiftung, die vor über 20 Jahren Hartz IV mit erdacht und erarbeitet hatte, stützte diese Annahme kürzlich mit einer eigenen Studie: Demnach haben Langzeitarbeitslose fast immer mit solchen "Vermittlungshemmnissen" zu kämpfen.

So plädierte die Stiftung für eine "andere Herangehensweise": Böten chronische und psychische Erkrankungen keine realistische Chance auf eine Integration in den Arbeitsmarkt, solle "ein Wechsel aus der Grundsicherung in ein besser passendes Unterstützungssystem wie die Sozialhilfe oder Erwerbsminderungsrente geprüft werden", sagte Bertelsmann-Sprecher Tobias Ortmann.

Die Ursache dafür ist seit der Einführung von Hartz IV vor über 20 Jahren bekannt: Wem immer Behörden bescheinigen, drei Stunden täglich "arbeitsfähig" zu sein, der gerät in die Mühle des Jobcenters. So finden sich selbst schwer Drogen- oder Alkoholabhängige, sichtbar kranke Obdachlose, Depressive oder Alleinerziehende mit mehreren kleinen Kindern in diesem System wieder. Viele von ihnen dürften nicht einmal imstande sein, sich gegen schon jetzt allgegenwärtige Repressionen zu wehren. Selbst Studierte haben häufig Schwierigkeiten, die bürokratischen Hürden fürs Bürgergeld zu überwinden.

Zwangsarbeit in Nordhausen

Wie sehr der Staat die Repressionen gegen die Ärmsten ausweiten kann, ohne den bürgerlich-demokratischen Anschein zu verlieren, testet er längst aus. Man mag es kaum glauben: Am Mittwoch berichtete die Zeit darüber, wie mit Handschellen und Pfefferspray ausgestattete Ordnungsbeamte im thüringischen Nordhausen junge Erwerbslose morgens zum Arbeitsdienst abholen – in Deutschland, im Jahr 2025.

Die unter 25-jährigen Betroffenen wurden vom dortigen Jobcenter dazu verpflichtet, für einen Euro pro Stunde Parks und Grünanlagen zu pflegen, Wege zu säubern, Weihnachtsbuden auf Märkten aufzubauen oder ähnliche Tätigkeiten zu verrichten, für die die Kommune auf diese Art Lohnkosten sparen kann. Wer nicht spurt, wird mit Gewalt zum Job verschleppt, wer sich versteckt, mit einer Hungersanktion bestraft.

Die Zeit-Reportage offenbart ein Menschenbild, das an dunkle deutsche Zeiten erinnert: Ein ausführender Ordnungsbeamter machte aus seiner Lust am Überwachen und Quälen junger Arbeitsloser keinen Hehl und reihte üble Vorurteile gegen Betroffene aneinander. Der SPD-Landrat Matthias Jendricke stand ihm darin nur wenig nach. Um die Zwangsverpflichteten maximal zu demütigen, hatte Letzterer sogar gleich zu Beginn der "Maßnahme" die Bild eingeweiht und sie im Hetzblatt etwa als "Generation von Faulenzern" betitelt.

Felsenfest bestand der Landrat allerdings darauf: Trotz amtlichen Zwangs zu nicht entlohnter Arbeit (der Euro pro Stunde gilt nur als "Aufwandsentschädigung"), notfalls gewaltsamer Verschleppung oder Hungerstrafe handele es sich weder um Zwangsarbeit noch Arbeitspflicht. Das ist orwellsche Semantik im besten Sinne: Man nenne es einfach anders, schon sei es nicht mehr das, was es offensichtlich ist.

Umverteilung und Disziplinierung

Die erneuten Verschärfungen für Arbeitslose reihen sich ein in eine neoliberale Agenda des Westens, die etwa die USA und Großbritannien schon in den 1980er-Jahren rabiat umsetzten. In Deutschland als "Nachzügler" nahm diese Agenda um die Jahrtausendwende mit dem Rückbau der Sozialsysteme so richtig an Fahrt auf. Denn die neoliberale Idee ist es, auf die zyklischen Wirtschaftskrisen des Kapitalismus genau so zu reagieren: den Sozialstaat einzustampfen und das Kapital maximal zu fördern.

Der dramatische Sozialabbau hat nicht nur die Funktion, mehr Steuergeld für Subventionen, Krieg und Aufrüstung lockerzumachen, um schwächelnde Profitraten großer Konzerne wieder anzukurbeln und global "wettbewerbsfähig" zu bleiben. Es geht auch um die Disziplinierung aller Lohnabhängigen. Wer Angst hat, arbeitslos zu werden und dadurch alles zu verlieren, leistet weniger Widerstand. Der nimmt zur Not auch kläglichste Gehälter und miserable Arbeitsbedingungen schweigend hin, bevor der Staat ihn übel schikaniert.

Massenentlassungen

Eines ist gewiss: Immer mehr Menschen werden sich in Deutschland entscheiden müssen, für Dumpinglohn zu arbeiten, um nicht im staatlichen Repressionsapparat zu landen. Die Massenentlassungswelle rollt seit Monaten durchs Land. Immer mehr Konzerne streichen Tausende Stellen, aktuell zum Beispiel Bosch, der Maschinenbauer Voith und Aldi Süd. Viele der Betroffenen werden wahrscheinlich nicht mehr unbedingt das Glück haben, einen geeigneten, auskömmlichen Arbeitsplatz zu finden.

Man kann vielleicht noch auf das Bundesverfassungsgericht hoffen, das schon einmal nach fast 15 Jahren Praxis die Hartz-IV-Totalsanktionen in den meisten Fällen untersagte. Doch selbst wenn es die geplanten Grausamkeiten irgendwann für zu streng befinden sollte: Bis dahin dürften Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vergehen. Für wahrscheinlich viele Opfer könnte das zu spät werden. Und hat sich soziales Elend auf Deutschlands Straßen erst immer weiter ausgebreitet, ist es schwer, das wieder einzudämmen.

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