
Warum die russische Sprache in der Ukraine wieder populär wird

Von Nikolai Storoschenko
Im vergangenen Sommer wurde in der Ukraine das Amt des Sprachbeauftragten neu besetzt. Der Kern dieses Amtes wird durch seinen inoffiziellen Namen gut erfasst: "Sprechenführer" (eine Verballhornung der deutschen Wörter "sprechen und "Führer" – Anm. d. Red.) Mit anderen Worten, diese Person ist für die Ukrainisierung und die Ausrottung der russischen Sprache und Kultur verantwortlich.
Man möchte meinen, dass Russisch in der Ukraine seit 34 Jahren, also knapp zwei Generationen, bekämpft wird. Doch nach ihrem Amtsantritt begann die neue Sprachbeauftragte, Jelena Iwanowskaja, Alarm zu schlagen – es werde immer mehr Russisch in der Ukraine gesprochen:
"Es gibt einen gewissen Rückschritt, vor allem im Bereich der Bildung. Im Jahr 2022 waren wir alle auf der Hut und achteten auf die Rede eines jeden, denn Russisch wurde mit der Sprache des Aggressors assoziiert. Damals schämten sich die Menschen, öffentlich die Sprache des Angreifers zu sprechen. Heute wirkt dagegen die menschliche Psychologie der Gewöhnung an den Krieg. Und ein Teil der Gesellschaft kehrt allmählich zu alten Sprachpraktiken zurück."
In Wirklichkeit kommt Frau Iwanowskaja mit ihrem Alarm mindestens zwei Jahre zu spät. Bereits im Herbst 2023 berichteten wir von einer bemerkenswerten Situation in der Vorschul- und Schulbildung in der Ukraine, mit der sich lokale Sprachaktivisten konfrontiert sahen. Während die Kinder in den Kindergarten gingen, sprachen etwa 80 Prozent von ihnen Ukrainisch. Nach der Einschulung kehrte sich die Situation binnen zwei bis drei Jahren ins Gegenteil um: Nur 15 Prozent der Kiewer Schüler waren aktiv ukrainischsprachig.
Freilich führen die ukrainischen Bildungsbeamten heute eine weniger apokalyptische Statistik an. Doch selbst dort ist ein klarer Rückgang und sogar eine Wende in der Sprachpraxis zu verzeichnen – und zwar nicht nur bei Schülern, sondern auch bei Lehrern.
Selbst an Frau Iwanowskaja ging dieser Kelch nicht vorbei. Vor wenigen Wochen gestand sie ein, die eigene Tochter der Nutzung der russischen Sprache in den sozialen Netzwerken überführt zu haben:
"Ich sage der Tochter: 'Sophia, wieso? Wozu?' Und sie antwortet: 'Mama, wer wird mich denn lesen, wenn sie alle russischsprachig sind?'"

Das Wichtigste daran ist nicht "russischsprachig", sondern "sie alle" – Mitschüler, Altersgenossen, der Freundeskreis. Wenn es selbst an den Eliteschulen, zu denen ukrainische Beamte ihre Kinder schicken, nicht gelingt, ein mustergültiges ukrainisches Paradies zu erschaffen, was passiert dann erst an normalen Schulen? Und wie wahr ist die Statistik des Staatlichen Dienstes für Bildungsqualität?
Freilich haben Iwanowskajas Äußerungen ihre eigene Logik. Seit ihrem Amtsantritt zog sie Aufmerksamkeit auf sich, als sie forderte, russische Musik zu verbieten (die ohnehin schon überall verboten ist, und zwar mehrfach) und als sie versuchte, YouTube und Spotify unter Druck zu setzen, damit die Dienste den ukrainischen Nutzern keine russischsprachigen Inhalte vorschlagen – doch hier wurde sie abgewiesen. Außerdem stellte sie die übliche Forderung nach einer Änderung der ukrainischen Verfassung und dem Verbot der russischen Sprache. Die Frau musste schließlich beweisen, dass sie als "Sprechenführer" nicht weniger entschlossen ist, als ihr Vorgänger.
Doch all diese Skandale beleuchten eine wirklich wichtige Frage. Immerhin gibt es keinen Rauch ohne Feuer. Selbst die kaum vertrauenswürdige Statistik des ukrainischen Staatlichen Dienstes für Bildungsqualität zeugt davon, dass die russische Sprache in der Ukraine trotz aller Strafmaßnahmen nicht verschwindet, ganz im Gegenteil. Wie aber kommt das? Anscheinend gibt es dafür drei Hauptgründe:
Erstens: Internet und soziale Netzwerke
Soziale Netzwerke sind heute mit wenigen Ausnahmen allgegenwärtig. Die Nutzer suchen dort nach jenen Inhalten, die für sie verständlich sind. Und es stellt sich irgendwann heraus, dass es viel mehr russischsprachige als ukrainischsprachige Inhalte gibt, auch wegen der unnachgiebigen Logik der Algorithmen: die Sprache der Inhalte bestimmt deren Reichweite.
Die Reichweite eines russischsprachigen Videos des Charkower YouTubers Wanderbraun (278.000 Abonnenten auf YouTube, etwa 190 Millionen Aufrufe) erstreckt sich mindestens auf die ganze ehemalige Sowjetunion. Ein ukrainischsprachiges Video erfasst hingegen bestenfalls die Ukraine. Und weil Aufrufe Geld bedeuten, ist die Wahl offensichtlich. Im Jahr 2022, nach dem Beginn der russischen Sonderoperation, versuchte Wanderbraun, der sich vor allem auf Kommentare zu Online-Spielen zum Spiel Warcraft III spezialisiert hat, auf Ukrainisch umzuschalten. Sein Eifer reichte für etwa zwei Monate, wonach seine Selbstukrainisierung ein ruhmloses Ende fand.
Im Grunde ist es das gleiche Problem, wie mit dem Buchdruck: Eine Nachfrage wird benötigt. Ohne diese Nachfrage schieben die harten Marktgesetze eine Kultur und deren Inhalte ins Abseits. Das, was in Hunderten von Exemplaren verlegt wird, wird sich niemals gegenüber dem durchsetzen, was in Tausenden und Zehntausenden Exemplaren publiziert wird.
Im 19. Jahrhundert wurde das ukrainische Verlagswesen als Projekt einer enthusiastischen Intelligenzija geboren. Nach all den Jahren bleibt das Problem bestehen: Das ukrainische Buch und ukrainische Inhalte sind von einem kleinen Prozent begeisterter Idealisten nachgefragt. Der Rest versteht schnell: Die Reichweite ukrainischer Inhalte liegt um ein Vielfaches hinter derjenigen der russischen zurück.
Zweitens: Müdigkeit vom Fanatismus
Im Jahr 2022 wechselten tatsächlich viele Ukrainer zu Ukrainisch. Angst, Konformismus, Ärger – die Gründe konnten unterschiedlich sein. Doch ein solcher Schritt ist eine Selbstbeschränkung, die dem Menschen ein gewisses Unbehagen bringt.
Es geht nicht darum, wie lange sich ein Mensch gedulden wird, sondern wofür er das tun wird. Eine Kompensation ist nötig, und gerade sie fehlt. Im Gegenteil, alles wird schlimmer. Die Friedhöfe weiten sich aus, die Waren und Dienstleistungen werden teurer, ganz im Gegensatz zu den Löhnen.
Letztere haben ohnehin ihre Hauptrolle am Arbeitsmarkt längst verloren. Viel wichtiger ist, ob ein Betrieb eine Freistellung von der Mobilmachung gewährt. Wenn ja, lässt sich der Arbeiter beliebig ausbeuten. Solche Jobs werde nicht gekündigt.
Ein bezeichnender Fall ereignete sich vor Kurzem im Gebiet Poltawa. Lokale Beamte zwangen die Betriebe, die Angestellten zum Bau von Befestigungsanlagen zu schicken. Die Arbeit selbst wurde dabei nicht bezahlt, als Entlohnung diente die Gewährung des Status eines "kritischen Betriebs", dessen Mitarbeiter keiner Mobilmachung unterlagen. Es könnte profitabel erscheinen – der Betrieb und die Mitarbeiter erhalten eine Freistellung, die Beamten veruntreuen das Geld. Doch im Grunde ist es ein KZ, wo man nur lebt, solange man arbeitet.
Es gibt viele solcher Beispiele, doch sie alle laufen darauf hinaus, dass der Krieg auf den Schultern der einfachen Ukrainer getragen wird, während sich alle Mächtigen hinter Freistellungen oder dem "kritischen Status" verstecken oder gar aktiv am Krieg verdienen. So wurden nach Angaben des ukrainischen Zolls im Jahr 2022 insgesamt 2.300 Luxusautos (im Wert ab 70.000 US-Dollar) in die Ukraine importiert. Im Jahr 2023 stieg diese Anzahl auf 4.850, und im Jahr 2024 auf 4.940. Im laufenden Jahr gehen die Schätzungen von einer Zunahme des Imports um fünf bis zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr aus.
Das heißt, dass die Eliten ihr bestes Leben leben, während die Leibeigenen für eine Freistellung schuften müssen und sich dabei auch noch nicht in ihrer Muttersprache – meist Russisch – unterhalten dürfen. Kein Wunder, dass in der Gesellschaft der Unmut wächst. Die einfachste und sicherste Art des Widerstands ist in diesem Fall ein Verzicht auf Ukrainisch – natürlich dort, wo es möglich ist, also im Alltag.
Drittens: Ein Fenster ins friedliche Leben
Wenn wir uns wieder der Jugend zuwenden, dann hat deren vielleicht unbewusster Protest seine ganz eigenen Besonderheiten. Der Standard-Lebenslauf eines ukrainischen Jugendlichen heute sieht folgendermaßen aus: die Schule absolvieren und möglichst schnell nach Europa auswandern, solange die Musterungsbehörde die Ausreise nicht einschränkt.
Selbst die jüngsten Zugeständnisse, bei denen Männern im Alter von bis zu 23 Jahren erlaubt wurde im Fall der Existenz von Musterungsdokumenten die Ukraine zu verlassen, brachte keine Wende. Im Gegenteil, ins Ausland zogen jene, die es zuvor nicht legal tun konnten. In nur knapp einem Monat (von 28. August bis 19. September) wanderten etwa 40.000 junge Männer im Alter zwischen 18 und 22 Jahren aus.
Die Ukraine lebt bereits seit 2014 im Kriegszustand. Das bedeutet eine schwere psychische Belastung, vor allem für die Jugend, die als Generation ohne Zukunft aufwächst. Ein heutiger 18-Jähriger war im Jahr 2014 sieben Jahre alt und ging gerade erst zur Schule. Das heißt, dass sein ganzes bewusstes Leben vom Krieg überschattet wurde.
Wie soll man sich also ablenken? Soziale Netzwerke, Reels, Unterhaltung. Und da stellt sich heraus, dass das ukrainische Internet-Segment viel stärker als das russische politisiert und militarisiert ist. Neutrale Inhalte auf Russisch sind leicht zu finden, vor allem wenn man den Content ausländischer Agenten ausschließt. Im Falle des Ukrainischen hingegen ist das gar nicht mal so einfach. Selbst Porno-Darstellerinnen sammeln Spenden für Drohnen, und der Musiker Swjatoslaw Wakartschuk trägt den Rang eines Leutnants der Streitkräfte der Ukraine.
Es stellt sich also heraus, dass das russischsprachige Internet für einen ukrainischen Jugendlichen auch noch die Möglichkeit bietet, zumindest ein bisschen des friedlichen Lebens zu leben – oder es sich zumindest durch ein Fenster anzuschauen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei der Zeitung "Wsgljad" am 30. September.
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