Gesellschaft

Wie begreifen Menschen in Ost und West die "Zeitenwende" in den deutsch-russischen Beziehungen?

Was geschah im Bewusstsein eines Durchschnittsbürgers in Ost und West des vereinten Deutschlands, als plötzlich – fast über Nacht – der mühsam gelungene, jahrzehntelange Aufbau einer Partnerschaft zu Moskau aufgegeben wurde? Das sind Fragen, für deren Beantwortung RT DE auf Spurensuche bei Deutschen ist, die in der früheren Ukraine studiert haben, so auch der Wirtschaftswissenschaftler Klaus-Dieter Föhlinger.
Wie begreifen Menschen in Ost und West die "Zeitenwende" in den deutsch-russischen Beziehungen?Quelle: RT © Marinko Učur

Von Marinko Učur

Die überwiegende Mehrheit der Kenner der Lage wird diese Problem mit Sicherheit mit dem Kabinett Scholz in Verbindung bringen und darin den Schlüssel für zahllose Herausforderungen sehen, nachdem die russisch-deutschen Beziehungen irreparabel beschädigt wurden. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die deutsche Öffentlichkeit vielleicht in der Mehrzahl dem Druck aus den USA und dem Einfluss westlicher Medien nachgegeben hat in dem Konflikt, der keineswegs am 24. Februar 2022 sondern viel früher begann.

Die weiter anhaltende Besessenheit der USA, um jeden Preis ihre hegemoniale und monopolistische Machtposition in der bis vor Kurzem monopolaren Welt aufrechtzuerhalten, hat offensichtlich Früchte getragen. Die transatlantische Aufteilung der Welt in die Guten und die Bösen, wie in einem Film, in dem die Rolle der Bösen immer den Russen zugedacht ist, hat zu einem bestimmten Ergebnis geführt. Aber das ist kein Hollywood-Film, sondern eine bittere Realität, in der in Wahrheit das Volk der Ukraine, auch die Anhänger des Regimes von Präsident Wladimir Selenskij die größten Leidtragenden sind.

Einer jener Menschen, der nach Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine kompetent und ausgewogen über die Ursachen und Folgen des Bruchs"" zwischen Moskau und Berlin spricht, ist ein Bürger der ehemaligen DDR, der in den Jahren von 1972 bis 1976 Wirtschaftswissenschaften an der Universität Charkow studierte ist Klaus-Dieter Föhlinger. Er war später auch als Berater für duale Ausbildung der deutschen Entwicklungsagentur GIZ tätig und beantwortete jetzt für RT DE einige Fragen.

Was geschah im Bewusstsein eines Durchschnittsbürgers in Ost und West des vereinten Deutschlands, als plötzlich – fast über Nacht – der mühsam gelungene, jahrzehntelange Aufbau einer Partnerschaft zu Moskau aufgegeben wurde? Und wie konnten Politiker in Berlin so leicht die Lehren der deutschen Geschichte vergessen und dem Druck aus Washington, D.C. zum Nachteil des eigenen deutschen Volkes nachgeben? 

"Im westdeutschen Bewusstsein wurden viele Verdienste den US-Amerikanern und ihrem Marschallplan zugeschrieben, der letzten Endes den USA diente. Und damit ist natürlich die amerikanische Lebensweise, der amerikanische Traum, wonach die US-Amerikaner analog dazu immer die Guten sind, im Bewusstsein der Bevölkerung dort verankert. In den nachfolgenden Jahren war ich ja zum Teil auch mit den amerikanischen Hollywood-Filmen befangen, wo die Amerikaner immer die Guten sind. Westernfilme und 'Top Gun' waren für viele deutsche Generationen im Westen wie im Osten ein Orientierungspunkt und eine Inspiration. Wirtschaftlich war das mit viel Auf und Ab verbunden, und auch mal Stillstand, aber immer ein Werkzeug in den Händen der USA. Politisch gesehen wurde alles über die US-amerikanischen Thinktanks abgewickelt. Dieser Einfluss, der von dort über lange Jahre ausgeübt wurde – und das ist eine Langzeitstrategie – führte dazu, dass führende Köpfe davon beeinflusst waren. Und letztendlich – für mich so augenscheinlich – dürfen wir den Einfluss der 'Grünen' und der Generation derer in den 1970er/1980er Jahren geborenen jungen Mitglieder nicht vergessen. Sie sind in einem Wohlstand großgeworden, brauchten sich nie anzustrengen. Und man kann von dieser Warte aus sagen, ich könnte dies auch etwas boshaft sagen, man braucht da ja nur mal zu gucken, wer von den Politikern die den Grünen denn tatsächlich einen Berufs- oder Studienabschluss hat."

Hat Deutschland einen zu hohen Preis für die vasallentreue Befolgung der jenseits des Atlantik erlassenen Anordnungen gezahlt?

"Also aus meiner Sicht ja. Das ist nicht nur der wirtschaftliche Preis, den diese Grünen-Politiker zu verantworten haben – wegen der Einführung von Sanktionen und in Bezug auf den Energiesektor –, sondern auch der politische Preis. Das heißt, sowohl durch diese Politik gegen Russland, aber auch im Zusammenhang mit Corona und allen anderen Sachen, einschließlich der freien Meinungsäußerung, die zunehmend in der deutschen Öffentlichkeit unterdrückt wird. Und das geht aneinander über. Das kann man nicht voneinander trennen, und das bedeutet in der Praxis, dass man, wenn man bestimmte wirtschaftliche Ziele erreichen will, sie ja auch mit Brachialgewalt politisch umsetzen muss, also auch durch Medienselektion und Blockade."

Sind die deutschen Bürger für eine differenzierte Herangehensweise an die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt sensibel? Und wie recht haben diejenigen, die behaupten, dass es einen großen Unterschied zwischen der Haltung der offiziellen Politik in Berlin und derjenigen der Bevölkerung in den ostdeutschen, ehemals DDR-Regionen gebe?

"Wenn man das von oben betrachtet, gibt es tatsächlich einen riesigen Unterschied in der grundsätzlichen Einstellung zwischen Ost und West. Es ist klar, dass der Unterschied zwischen Ost und West in dem Land allmählich schwindet, aber es ist tatsächlich so, dass die häufigen Protesten gegen die Gleichschaltung, den Medien-Blackout und eine Schwarz-Weiß-Betrachtung dieses Krieges überwiegend von Ostdeutschen formuliert werden, tatsächlich ist das so. Historisch betrachtet gab es immer geteilte Meinungen, aber natürlich wurden sie im Osten ganz anders artikuliert als im Westen. Die Bekenntnisse von Politikern aus dem Osten und die Vereinbarkeit ihrer Ansichten mit dem Westen des Landes sind erst nach 1990 erkennbar."

Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass es Jahrzehnte gedauert hat, qualitativ hochwertige russisch-deutsche Beziehungen aufzubauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg von beiden Seiten sorgfältig gepflegt wurden und die eine wichtige Säule des Weltfriedens waren, wir nun aber andererseits eine Situation haben, in der diese Beziehungen in weniger als zwei Jahren ihren Tiefpunkt erreicht haben. Sind diese Beziehungen dauerhaft und irreparabel zerrüttet?

"Es ist kein Geheimnis, dass im Westen schon immer eine latente antirussische Stimmung vorherrschte, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg gepflegt wurde. Natürlich gab es immer auch Probleme, die überhöhte Darstellung des 'großen Bruders'. Das ist natürlich auch vielen Menschen im Osten aufgestoßen, hat manche also zum Widerspruch angeregt. Es war bis in die 1980er Jahre hinein fest verankert, dass die Sowjetunion ein Garant des Friedens ist. Aber als die UdSSR aufhörte zu existieren, hat sich natürlich keiner mehr an der großen Sowjetunion orientieren können, aber auch keine Orientierung mehr gehabt, was ist denn nun tatsächlich gut und richtig und schön sei. Aber tief im Bewusstsein war zumindest bei den Ostdeutschen noch verankert, dass die Sowjetunion tatsächlich ein Garant des Friedens und der Stabilität war. Spätestens nach Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 scheint sich alles in die entgegengesetzte Richtung entwickelt zu haben. Und für mich war das zu diesem Zeitpunkt der deutliche Ausdruck gewesen, dass der Westen überhaupt kein Interesse daran hat – selbst nach dem Zerfall der Sowjetunion –, all das zu akzeptieren, was nachhaltig und möglich gewesen wäre. Und wir sehen, wie die Situation heute ist."

Können Sie im politischen Sinne Parallelen ziehen zwischen Charkow in der ehemaligen Sowjetunion, wo Sie in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts Wirtschaftswissenschaften studierten, und dem heutigen Charkiw in der Ukraine, zumal die Stadt selbst im Namen – Charkiw statt Charkow – ein Symbol der Spaltung und des Missverständnisses geworden ist?

"Ich war in den letzten 20 Jahren nicht mehr in Charkow. Deswegen fällt es mir sehr schwer, das zu beurteilen. Aber Charkow ist eine Millionenstadt. Charkow ist eine Industriestadt, eine Universitätsstadt mit 10 Prozent Studenten. Ich würde sagen, dass in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts weitaus mehr als 50 Prozent der Bevölkerung dort Russisch gesprochen haben. Das heißt, Russisch war eine ganz normale Alltagssprache. Ich habe übrigens gelesen, dass selbst in Kiew die Mehrheit, mehr als 50 Prozent, heute noch Russisch spricht. Ich will nicht sagen, das waren alles Russen, das wäre falsch, aber das waren alle Bürger der Sowjetunion. Insoweit gab es dort keinerlei Unterschiede. Wenn ich natürlich jetzt von Bekannten seit 2014 höre, dass es tatsächlich eine Unterdrückung der russischen Kultur und Sprache gibt, dann muss ich sagen, ich kann es nicht nachvollziehen, dass es so etwas gibt."

Können Sie im heutigen Deutschland Personen oder politische Gruppen identifizieren, die Sie als prorussisch bezeichnen könnten? Und ist es heute überhaupt erlaubt, in irgendeiner Weise prorussisch orientiert zu sein, selbst mit einer im Grunde neutralen Haltung?

"Das ist eine übliche, sehr interessante Formulierung, über die die wenigsten nachdenken. Wenn ich heute Sympathien für Russland, für die russische Kultur oder russische Geschichte habe, wird das sofort als 'prorussisch' definiert – also gleich 'Putinversteher'. Die Bezeichnung 'prorussisch' – 'Du bist prorussisch' – muss doch nicht heißen, dass ich alle und alles gut finde, was in Russland existiert. Auch Russland hat seine Mängel. Aber Deutschland hat auch seine Mängel, und Frankreich und die USA auch. Es gibt tatsächlich viele, die ein Verständnis für die aufkommenden Probleme haben, die Antworten bekommen wollen auf die Fragen, wieso, weshalb, warum das alles geschieht. Also die lehnen die Russen nicht ab, aber es besteht die Gefahr, sofort als prorussisch gebrandmarkt und sofort im negativen Sinne betrachtet zu werden. Und ich denke, man muss viel bewusster darüber reden."

Wenn wir schon über Stereotypen und Einstellungen reden, die in der europäischen Gesellschaft heute dominieren, und angesichts der Tatsache, dass Sie häufig die verfügbaren russischen Medien verfolgen: Wie erklären Sie sich das Phänomen, dass fast alle russischen Medien im Westen und in Deutschland selbst, einschließlich RT DE, geschlossen und verboten sind, dass es absolut keine Möglichkeit gibt, einen anderen Standpunkt zu hören, ohne dass der sofort als "russische Propaganda" bezeichnet wird? Ist solch eine Gleichsetzung möglich, und wie bewerten Sie das einerseits als Medienkenner, andererseits als Wirtschaftswissenschaftler, der an verschiedenen GIZ-Projekten in vielen Balkanländern beteiligt war, am Ende unseres Gesprächs?

"Offensichtlich unterliegen wir einer Mediendiktatur. Das möchte ich einfach als zusammenfassende Antwort dazu sagen. Es gibt Menschen, die tatsächlich interessiert sind. Sie wissen oft gar nicht, wo sie gucken können, wie sie an Informationen herankommen könnten, weil die nicht mehr frei zugänglich sind. Viele Bürger möchten einfach zugängliche Antworten auf zahlreiche Fragen haben, statt sich stundenlang vor den Computer setzen, um zu suchen, wo es welche Informationen gibt. Es ist gar nicht so einfach, die vielen medialen Sperren, die es inzwischen auch gegen RT gibt, zu umgehen. Ich muss auch immer wieder mal suchen, wie ich an die Informationen herankomme. Ich bin auch nur Otto Normalverbraucher und kein Spezialist. Manchmal dauert die Suche nach solchen Informationen länger. Ich halte es tatsächlich für mehr als fraglich, problematisch und gefährlich, dass die freie Meinungsäußerung dermaßen unterdrückt wird. Und wenn jemand etwas öffentlich dagegen sagt, dann wird er sofort diffamiert. Das erinnert mich an die schrecklichsten Zeiten in der deutschen Geschichte."

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