Gesellschaft

Unattraktiv für Hedgefonds: Mit Genossenschaften durch die Wirtschaftskrise

Der Wirtschaftswissenschaftler und Autor Dr. Burghard Flieger berät seit über 30 Jahren Genossenschaften und Genossenschaftsgründer in Deutschland. Im Interview mit RT DE spricht er über die wirtschaftlichen Vorteile einer Genossenschaft in Krisenzeiten.
Unattraktiv für Hedgefonds: Mit Genossenschaften durch die WirtschaftskriseQuelle: www.globallookpress.com © Jens Büttner/dpa

Herr Flieger, im Gegensatz zu vielen mittelständischen Unternehmen erlitten die meisten Genossenschaften durch Lockdowns und geschäftliche Einschränkungen in Deutschland insgesamt keinen stärkeren Einkommens- und Umsatzverlust. Es wurden 2020 im Jahresschnitt sogar mehr neue Genossenschaften gegründet als im Jahr zuvor, konkret mehr als 110 Gründungen im Jahr 2020 gegenüber ca. 90 im Jahr 2019. Wie viele Genossenschaften gibt es hierzulande und wie erklären Sie ihre relative Stabilität in Krisenzeiten?

Flieger: Aktuell existieren in Deutschland rund 7.200 Genossenschaften. Sie werden mehrheitlich in ihren traditionellen Bereichen betrieben: Es gibt jeweils ca. 820 Volks- und Raiffeisenbanken, 2.000 Wohnungsbaugenossenschaften, 2.500 landwirtschaftliche und 1.800 gewerbliche Genossenschaften. Durchschnittlich haben diese Unternehmen im letzten Jahr ein Wachstum von 2 Prozent erwirtschaftet.

Aus mehreren Gründen sind Genossenschaften in Krisenzeiten stabiler als andere Unternehmensformen. Grundsätzlich gibt es bei ihnen einen stabileren und leichter vorhersehbaren Absatz, weil Eigentümer und Nutzer identisch sind. In genossenschaftlich organisierten Konsumentenunternehmen wollen die Mitglieder gemeinschaftlich einen bestimmten Bedarf für sich organisieren: In Solawi-Genossenschaften (Solidarische Landwirtschaftsgenossenschaft) organisieren sie ihren Bedarf an Biolebensmitteln, in Wohnungsbaugenossenschaften organisieren sie ihren Wohnraum, in Energiegenossenschaften organisieren sie ihren Strombedarf etc.

Dabei handelt es sich um das "Bedarfsdeckungsprinzip". Der Bedarf an den genossenschaftlich produzierten Gütern ist bei den Mitgliedern sicherer und stabiler und damit auch die Abnahme der produzierten Güter. Deshalb müssen Genossenschaften beim so genannten Mitgliedergeschäft nicht auf einem offenen Markt mit beliebigen Anbietern um die Abnahme der Produkte konkurrieren – sie haben ihren klareren Mitgliederkundenstamm. Sie benötigen auch kein aggressives Marktverhalten, um ihren Absatz zu "erkämpfen".

Welche Genossenschaften sind in Lockdown-Zeiten sogar gewachsen?

Während der Coronakrise haben die Solawi-Genossenschaften verstärkten Zulauf erlebt. In den vergangenen zwei Jahren hat sich ihre Anzahl der verdoppelt. Aktuell gibt es über 250 Solawi-Initiativen in Deutschland, mehrheitlich als Vereine organisiert mit begrenzten Mitgliederzahlen. Diese Solawi-Vereine verpflichten sich, bei einem regionalen Bauern eine festgesetzte Menge an Gemüse abzunehmen. Durchschnittlich werden damit jeweils 200 Haushalte mit Lebensmitteln versorgt. 

Dagegen kaufen oder pachten die eingetragenen Solawi-Genossenschaften das Land. Ihre Mitglieder bearbeiten das Land, oder stellen dafür Gärtner ein. Die Genossenschaft ist hier selbst der Betreiber der Landwirtschaft und kann sich je nach Bedarfslage flexibel vergrößern oder verkleinern. Auf diese Weise versorgt das genossenschaftlich organisierte Kartoffelkombinat in München zurzeit 2.000 Haushalte mit ökologisch erzeugten Lebensmitteln. 

Aus welchen Gründen sind auch wirtschaftlich erfolgreiche Genossenschaften vor der Übernahme und dem Aufkauf von privaten Investoren geschützt? 

Die Krisenfestigkeit der Genossenschaften resultiert auch aus ihrem Wirtschaftzweck. Dieser besteht in der Versorgung der Mitglieder und nicht in der Profitmaximierung. Für die optimale Versorgung der Mitglieder gibt es das Strukturmerkmal "Demokratieprinzip" bei den Genossenschaften: Jedes Mitglied hat bei Abstimmungen und Entscheidungen unabhängig von der Höhe der finanziellen Einlage eine gleichberechtige Stimme. Profitorientierte Investoren oder Hedgefondsmanager, die in Krisenzeiten Betriebe vergünstigt übernehmen, können eine Genossenschaft nicht einfach kaufen. Selbst wenn sich ein Investor mit einer anteilig hohen Summe beteiligen würde, dürfte er nicht mehr bestimmen, wie jedes andere Mitglied. Er könnte auch keine höhere Dividende durchsetzen, denn die Mitgliederversammlung entscheidet gleichberechtigt, wie mit erwirtschafteten Gewinnen verfahren wird.

Beim Ausscheiden erhält jedes Mitglied ausschließlich seine ursprünglich getätigte Einlage zurück. An dem Vermögen der Genossenschaft wird er nicht beteiligt. Darin besteht ein entscheidender Unterschied gegenüber anderen Unternehmensformen. Dieses so genannte Solidaritätsprinzip sorgt dafür, dass bei einer Genossenschaft nicht jede Generation das eingesetzte Vermögen oder den Kaufpreis neu erwirtschaften muss. Die Aufbauleistung jeder Generation steht der nachfolgenden Generation zum weiteren Wirtschaften zur Verfügung. Das ist auch ein Grund für die im Durchschnitt geringeren Mieten bei Genossenschaftswohnungen.

Was waren die Motive der Genossenschaftsgründer zu Beginn des letzten Jahrhunderts? Gab es über den Versorgungsgedanken hinaus auch politische Ziele?

Tatsächlich hatten die Gründer der Konsumgenossenschaften schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutsame wirtschaftspolitische Motive. Die Lebensmittelversorgung war in Deutschland während der Weimarer Republik die größte Genossenschaftsbewegung. Ein erheblicher Anteil des Lebensmittelumsatzes lag bei den Konsumgenossenschaften.

Mit den Konsumläden wollten sie nicht nur die Versorgung der Bürger sichern. Es ging ihnen grundsätzlich um alternative Wirtschaftsstrukturen von unten. Ihr Ziel war eine Konsumentendemokratie, in der die Verbraucher bestimmen konnten, welche Produkte sie konsumieren, unter welchen Bedingungen diese Lebensmittel produziert werden und wie die Gewinne ausgegeben werden. Sie sahen im Genossenschaftsmodell, dem so genannten Kooperatismus, die Basis für eine regionale und gerechte Wirtschaftsweise, die sich an der Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse orientiert und nicht am Profit. 

Nach der Entmachtung durch den Nationalsozialismus konnte der politische Elan auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder erreicht werden. Als die meisten Konsumgenossenschaften in den 1970er Jahren in der co op AG Aktiengesellschaft zusammengeschlossen wurden, ging der Genossenschaftsgedanke zeitweilig verloren.

Doch ab dem Jahr 2006 kam durch die Energiegenossenschaften erneut ein Aufschwung in die Genossenschaftsbewegung. Im Jahr 2012 lagen rund 50 Prozent der Ökostromanlagen in Deutschland in Bürgerhand. Dieser Anteil wäre noch weiter gewachsen, wenn nicht Wirtschaftsminister Peter Altmaier eine Verordnung zur Reduzierung der EEG-Vergütung durchgesetzt hätte. Bürgerenergiegenossenschaften, die gemeinschaftlich Strom produzieren, werden seitdem mit hohen bürokratischen Hürden ausgebremst, bei gleichzeitig oft nicht mehr kostendeckenden Einspeisevergütungen. Dies hat für viele Jahre fast zu einem Stillstand dieser für den Klimaschutz sehr wichtigen Bewegung geführt. 

Aktuell könnte die neue EU-Richtlinie für erneuerbare Energien – RED II – allerdings große Chancen für Energiegemeinschaften bieten. Danach sollen Bürgerinnen und Bürger Strom nicht nur gemeinsam erzeugen, sondern ihn künftig auch teilen können. In den meisten EU-Mitgliedsländern ist sie bereits umgesetzt, während die Bundesrepublik noch zögert. Bei Umsetzung birgt dies hierzulande eine große Chance für demokratische Mitstimmung in der Energieversorgung.

Herr Flieger, seit vielen Jahren beraten Sie Genossenschaftsgründungen. Können Sie uns über aktuelle Beispiele aus Ihrer Praxis berichten?

Gerade berate ich die Inhaber der Zimmerei "Holzverbindung" in Rottenburg bei Tübingen bei der Umwandlung ihres Betriebes in eine Genossenschaft. Sie möchten die langfristige Sicherung des Betriebs sowie die Nachfolge regeln, indem die Mitarbeiter zu gleichberechtigten Mitgliedern werden. 

Dagegen will der Alteigentümer des arteFakt-Versandhandels in Wilstedt sein Unternehmen mit dem Schwerpunkt Olivenöl an seine Kunden übergeben. Sie werden zukünftig den Versandhandel als Mitglieder einer Genossenschaft betreiben. Es gibt also über die Gründung von Genossenschaften auch die unterschiedlichsten Möglichkeiten, die Unternehmensnachfolge langfristig zu sichern. 

Als Mitglied der innova-eG, einer eingetragenen Genossenschaft zur Beratung von Genossenschaften, bin ich selbst mit den damit verbundenen Aufgaben alltäglich konfrontiert.  Auch unsere Mitglieder entscheiden gemeinschaftlich über alle Anliegen und Bedarfe unseres Unternehmens wie zum Beispiel darüber, welche Beratungs- und Qualifizierungsleistungen wir für neue Genossenschaften anbieten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Felicitas Rabe.

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