Gesellschaft

Der 8. Mai: Unüberbrückbare Narrative

Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa vor 75 Jahren brachte zwar den Untergang des Nazi-Reiches, beendete jedoch nicht die Jahrhunderte alte Bedrohung aus dem Westen für Russland beziehungsweise die Sowjetunion. Dies gilt bis heute. Ein illustratives Gespräch.
Der 8. Mai: Unüberbrückbare NarrativeQuelle: www.globallookpress.com © Andreas Franke

Folgendes Gespräch hat sich soeben in einer Laube (Datscha) zugetragen.

Iwan: Der 8./9. Mai ist für uns Russen der größte Feiertag. Das wird ewig so bleiben, auch in den nächsten Generationen. An dem Tag besiegte die Sowjetunion den größten Feind, der Russland jemals angegriffen hatte. Der Sieg über Hitler legitimierte Russland, von nun an Weltmacht zu sein. Russland hat die größten menschlichen Opfer im Kampf gegen den Faschismus erbracht, und dies muss von der internationalen Gemeinschaft stets mitbedacht werden.

Hans: Die Sowjetunion wurde am 8. Mai einer der beiden Träger einer neuen (Jalta-)Weltordnung, die heute als tief ungerecht gilt. Der Zweite Weltkrieg wurde dadurch ausgelöst, dass Hitler und Stalin sich untereinander Osteuropa aufteilten. Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 gab Hitler die Möglichkeit, Frankreich zu überrennen. Und er ermöglichte es Stalin, sich die nach der Oktoberrevolution verlorenen zaristischen Territorien militärisch zurückzuholen. Kommunismus und Nationalsozialismus sind gleichwertige Tyranneien. Durch Jalta 1945 wurde Stalin in seinem Vorgehen legitimiert, was aus heutiger Sicht ein Fehler war.

Mascha: Der Westen, vor allem Großbritannien, wollte zusehen, wie sich Bolschewismus und Faschismus selbst zerfleischten, um am Ende als Gewinner dazustehen. Ein Anti-Hitler-Pakt zwischen Großbritannien, Frankreich und der UdSSR hätte Hitler 1939 abgeschreckt, kam aber nicht zustande. So gesehen drehte Stalin den Spieß um und sah zu, wie sich Hitler und der Westen zerfleischen. Er selbst gewann wertvolle Zeit. Und es war ja nicht Hitler alleine, der 1941 die Sowjetunion angriff. Bis auf die Polen und Tschechen waren die meisten heutigen EU/NATO-Länder mit von der Partie.

Hildegard: Der 8. Mai ist ein Datum, an dem in Europa eine menschenverachtende Diktatur von einer anderen abgelöst wurde. Osteuropa wurde von Stalin nicht befreit, sondern erobert und in einem kommunistischen System eingesperrt. Osteuropa wurde erst 45 Jahre später durch den Fall der Berliner Mauer befreit. Wären die USA nicht gewesen, hätten die Sowjets sich nach 1945  auch den Rest Europas einverleibt.

Iwan: Wenn sich die UdSSR 1945 aus Osteuropa zurückgezogen hätte, wären die US-Amerikaner damals so nach Osten vorgerückt wie heute. Und man solle nicht vergessen, dass es in den Staaten Osteuropas genug Menschen gab, die sich dem Sozialismus verschrieben hatten. Es standen doch keine Sowjetpanzer in jedem osteuropäischen Land. Diese Länder hatten ihre eigenen kommunistischen Führungseliten, Bürokratien, Armeen und Geheimdienste. Als Gorbatschow mit dem Reformieren des Systems in der UdSSR begann, leistetet die Eliten der osteuropäischen Länder erbitterten Widerstand.

Hans: Dafür kam es 1989/90 überall zu Volksaufständen gegen die verhassten Kommunisten. Alle Menschen wollen Freiheit. Zu Beginn des Hitler-Feldzuges gegen die Sowjetunion ergaben sich Rotarmisten zu Hunderttausenden den Deutschen, aus Hass auf das eigene stalinistische System. In der Ukraine und im Kaukasus wurden die Deutschen als Befreier jubelnd empfangen. Viele sowjetische Überläufer waren bereit, mit der Wehrmacht zu kooperieren, um ihr Land vom Bolschewismus zu befreien.

Mascha: In der westlichen Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus steht der Holocaust an erster Stelle der Hitler-Verbrechen. An die 27 Millionen Opfer, die die Sowjetunion zu beklagen hatte, wird kaum erinnert. Außerdem führte Hitler einen totalen Vernichtungskrieg gegen die slawischen Völker. Dies wurde jedermann in der Leningrader Blockade klar, sowie bei der Schlacht um Stalingrad. Die Sowjetvölker kämpften nicht für Stalin, sondern für ihr Land. Russland war nie Aggressor. Es wurde immer vom Westen angegriffen. Im XVII. Jahrhundert von Polen, im XVIII. von Schweden, im XIX. von Frankreich, im XX. von Deutschland. Im XXI. wurde es von der NATO eingekreist. In der Zwischenkriegszeit 1919 bis 1939 machte der Westen die neuen unabhängigen Staaten Osteuropas zu einem Cordon sanitaire gegen die Sowjetunion. Die Sowjetunion wollte keine Wiederholung dessen nach 1945. Die UdSSR wollte auch keinen Dritten Weltkrieg. Stalin bot 1952 die Wiedervereinigung Deutschlands an – dafür musste Deutschland aber neutral werden. Wie zuvor Österreich und Jugoslawien. NATO und Warschauer Pakt wären obsolet geworden. 1990 wurde Deutschland wiedervereinigt, aber die NATO, widerrechtlich bis an die Grenzen Russlands erweitert. Jetzt ist der Cordon Sanitaire gegen Russland zurück. Russlands Sicherheitsinteressen müssen vom Westen immer berücksichtigt werden.

Hildegard: Wie viele unzählige Opfer mussten nicht nur die sowjetischen, sondern auch die osteuropäischen Völker durch die Verbrechen Stalins erleiden! Russland hatte nach dem Fall des Kommunismus die historische Chance, des Totalitarismus zu entsagen wie Deutschland 1945. Die postkommunistische russische Führung hätte sich vor allen leidenden Völkern und der eigenen Gesellschaft für den Stalinismus verantworten, Henker zur Verantwortung ziehen müssen. Eine erfolgreiche Vergangenheitsbewältigung hätte den Westen und Russland heute im gleichen demokratischen Werte-Kanon verankert. In Russland würde es heute keinen Stalin-Kult mehr geben. Russland hätte einfach erklären sollen: Ja, wir haben uns durch Gorbatschows Perestroika und Jelzins Sieg über die Putschisten 1991 aus der Unfreiheit in die Freiheit gerettet und werden jetzt ein demokratisches Land.

Iwan: Die Sowjetunion hat 1991 nicht wie Deutschland 1945 kapituliert. Die Nazis wurden als Kriegsverbrecher von den Siegermächten gerichtet. Russland ist von niemandem besiegt und die Kommunisten sind folglich auch nicht juristisch belangt worden. In den Ländern Osteuropas kamen nach 1991 frühere Dissidenten oder ehemalige Emigranten, die aus den USA zurückkamen, an die Macht. In Russland hatten ehemalige Dissidenten und Emigranten kein Ansehen und keine Autorität. Deshalb kam es auch nicht zu diesem historischen Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit wie in den ehemaligen osteuropäischen Satellitenstaaten. Russland wollte keine Kolonie des Westens werden, deshalb vertraute die Bevölkerung auf die eigene Elite, die sich aus der alten Elite rekrutierte.

Hans: Russland kann sich nicht mit seiner Erinnerungskultur gegen die Erinnerungskultur der übrigen Welt stellen. Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen, seine Ideen und Weltanschauung haben gesiegt. Das liberale westliche Modell bleibt auch weiterhin ein Magnet für andere Länder und Gesellschaften, denn die Corona-Krise hat gezeigt, dass das westliche System – das für Humanismus und Menschenrechte geschaffen ist – autoritären Systemen überlegen ist.

Mascha: Der Triumphalismus und das sture Festhalten nur am eigenen Wahrheitsmonopol sind der Totengräber der westlichen politischen Kultur. Im heutigen Russland leben Millionen Menschen, die positive Erinnerungen an die Sowjetunion haben und mit dem sozialistischen Ideal sympathisieren. Soll man diesen Millionen erklären, ihre Verwandten hätten das gesamte 20. Jahrhundert immer nur falsch gelebt? Für Deutschland war die Entnazifizierung alternativlos. Russland hat die Entstalinisierung 1956 und in der Perestroika in den 80er-Jahren durchgeführt. Damit soll es gut sein. Der Sozialismus ist nicht schlechter als der Kapitalismus. Die Corona-Krise wird zu neuen Weltanschauungen führen. Und der Westen soll aufhören, sich ständig als Moralapostel aufspielen. Noch vor 20 Jahren haben wir nach einem gemeinsamen europäischen Haus getrachtet. Heute verschärfen sich die alten Konflikte wieder, und die neue Gegnerschaft kommt auf gefährliche Weise zurück.

(Hildegard öffnet eine Wodka-Flasche. Die Widersacher stoßen gemeinsam auf den 8. Mai an.)

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Webportal Russlandkontrovers. RT Deutsch bedankt sich für das Recht auf Zweitveröffentlichung.

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