Europa

Hat die UdSSR sich selbst nach dem Krieg okkupiert? Geschichtsstreit mit Polen setzt sich fort

Eine deutsche Zeitung machte den Brief des polnischen Botschafters "wegen seiner Brisanz" publik. Im Schreiben behauptete er, die westlichen Alliierten hätten den wichtigsten Beitrag zum Kriegsende geleistet, profitiert vom Krieg habe aber die Sowjetunion.
Hat die UdSSR sich selbst nach dem Krieg okkupiert? Geschichtsstreit mit Polen setzt sich fortQuelle: Sputnik

Wie viel Geschichtsfälschung kann heutige Diplomatie überhaupt noch vertragen? Nach den Forderungen Warschaus, Russland müsse Milliarden Reparationsgelder an Polen bezahlen oder der Behauptung des polnischen Premiers, der Krieg sei für Polen erst im Jahr 1989 zu Ende gewesen, ist man schon einiges gewohnt. Nun sorgen aber neue "Fakten" für eine diplomatische Auseinandersetzung Russlands mit Polen.

Die Märkische Oderzeitung (MOZ) veröffentlichte am 31. Januar ein Interview mit dem russischen Botschafter in Berlin, Sergei Netschajew. Zum Gespräch in der russischen Botschaft sind MOZ-Chefredakteur Claus Liesegang und Korrespondent Dietrich Schröder erschienen. Das Thema des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg war mit vier von insgesamt sieben journalistischen Fragen das Hauptthema des Gesprächs.  

Der russische Botschafter kritisierte im Interview die andauernden Versuche vonseiten Polens und "anderer Länder", die Sowjetunion als Aggressor und Mitverursacher des Zweiten Weltkrieges darzustellen:

Im Vorfeld der Jubiläumstage, die in Verbindung mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stehen, bemühen sich einige Länder verstärkt um die Fälschung der Geschichte, verdrehen Ursachen, Fortgang und Bilanzen des Krieges. Auf lange Sicht will man mit der ideologischen Kampagne nicht nur den entscheidenden Anteil der Sowjetunion am Sieg über den Nazismus herunterspielen. Man bezweckt damit, den heuchlerischen Vorwurf in der europäischen Wahrnehmung zu verankern, die UdSSR sei genauso wie das Dritte Reich für den Kriegsausbruch verantwortlich.

Die Sowjetunion sei vor dem Ausbruch des Krieges bis zum Schluss bemüht gewesen, den nahenden Krieg abzuwenden, und den nicht von ihr begonnenen Krieg habe die Sowjetunion beendet, so der Botschafter. Er lobte das Land Brandenburg und die Bundesregierung für die gewissenhafte Pflege von über 4.000 Soldatenfriedhöfen, auf denen ca. 800.000 Sowjetbürger ruhen.

Leider verhält es sich nicht in allen Staaten so. Im Nachbarland Polen zum Beispiel werden sowjetische Denkmäler abgerissen und geschändet", schloss er an.

Trotz 27 Millionen Opfern: UdSSR hat "profitiert"

Die Kritik wollte der polnische Botschafter in Berlin, Andrzej Przyłębski, nicht unbeantwortet lassen und schrieb einen Brief an die Zeitung. Diesen hat die MOZ "leicht redigiert" wegen "seiner Brisanz" in einem Artikel am 8. Februar wiedergegeben.

In Polen spiele niemand – wie von Netschajew behauptet – "den entscheidenden Anteil der Sowjetunion am Sieg über den Nazismus" herunter, erklärte Przyłebski. Er fügte jedoch an: "Auch wenn der Anteil der Alliierten, darunter Zigtausend polnischer Soldaten in allen Formationen (auch in der sowjetischen Roten Armee), riesig war." 

Dies widerlege aber keinesfalls die historische Tatsache, dass die Sowjetunion Polen am 17. September 1939 angegriffen und dadurch die weitere Verteidigung Polens gegen Deutschland unmöglich gemacht habe. Diesem schloss er an:

Nicht die Sowjetunion, sondern die westlichen Alliierten haben entscheidend zum Kriegsende beigetragen (auch wenn es in Brandenburg wegen der geografischen Lage anders aussehen mag).

Die Sowjetunion habe sich auf den Krieg gegen das Dritte Reich vorbereitet und "vom Ausgang des Krieges am meisten profitiert", schrieb Przyłebski weiter. Als Belege führte der Diplomat "die Besetzung der Ukraine, von Belarus und des Baltikums sowie die Unterordnung von Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und anderer Länder" an.

Polens Außenminister: Russland hat den Streit verloren

Der russisch-polnische Geschichtsstreit hat viele Facetten und dauert spätestens seit der Gründung des Polnischen Instituts für Nationales Gedenken Ende der 1990er Jahre an. Seitdem die rechtspopulistische Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) im Jahr 2017 infolge ihres Wahlsieges die Regierung stellen durfte, hat sich der Streit verschärft. Das Gesetz über den Abriss hunderter Sowjetdenkmäler sorgte in Russland für Empörung.

Die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Yad Vashem am 23. Januar am Holocaust-Gedenktag fiel entgegen aller Erwartungen in Warschau jedoch nicht antipolnisch aus. Das hat man in Warschau offenbar als Zeichen für den eigenen "Sieg" gewertet. Der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz sagte letzte Woche in einem Interview, Russland habe den Geschichtsstreit verloren. Es sei aber an der Zeit, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren.

Wer hat den Westen der Sowjetunion befreit?

Es ist deshalb nicht klar, inwieweit die Initiative des polnischen Botschafters mit Warschau abgestimmt war. Er gilt als Protegé des im Jahr 2010 bei Smolensk verunglückten Ex-Präsidenten Lech Katschinksi und könnte sich "proaktiv" für das buchstäblich vor Augen entfaltende neue polnische Geschichtsverständnis einsetzen. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, sieht darin den Teil der in Warschau bei einer Sitzung beschlossenen Kampagne zur "Neutralisierung" der von Moskau präsentierten historischen Fakten.

Die Aussagen, dass die Sowjetunion sich selbst okkupiert hat – nur so können sie qualifiziert werden –, ist ein Hinweis darauf, dass Warschau sich endgültig verspielt hat. Diese eklatanten Lügen werden nun als gewisse historische Fakten dargestellt. Die Tatsache, dass die Rote Armee Warschau nicht befreit hat, ist eine Lüge, die Tatsache, dass die Sowjetunion die Ukraine und Weißrussland besetzt hat, ist nicht nur eine Lüge, sondern eine absurde Lüge", sagte sie im Interview mit dem russischen Perwy kanal am 12. Februar.

Die russische analytische Onlinezeitung eadaily.com weist im Zusammenhang mit den Äußerungen des Botschafters auf die massive Partisanenbewegung in den Sowjetrepubliken Ukraine und Weißrussland hin. Man habe Weißrussland im Krieg sogar "Partisanenrepublik" genannt. Offenbar sei man nun in Polen angewiesen, den Kampf der Partisanen in der Sowjetunion als nationalen Befreiungskampf darzustellen, der mit den Zielen der Sowjetunion nichts gemein hatte.

Dass Warschau am neuen Geschichtsnarrativ tatsächlich feilt und die neuen provokativen Äußerungen von einem Jahrestag zum anderen nur "dosiert" abgibt, zeigt der Artikel des Botschafters Przyłebski im Cicero am 1. September 2019. In diesem trauerte er den durch die Piłsudski-Truppen besetzten Gebiete des ehemaligen Russischen und Habsburger Reiches im Jahre 1920 nach. Damals beanspruchte Polen sie als eigene "Stammgebiete", auch wenn sie hauptsächlich von Weißrussen und Ukrainern bewohnt wurden. So stand es auch am 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen im deutschen Onlinemedium:

Die Grenzverschiebung nach Westen, das heißt die Übergabe ehemaliger deutscher Gebiete an Polen war entgegen den in Deutschland verbreiteten Meinungen nicht imstande, die im Osten erlittenen Verluste auszugleichen, denn Polen verlor dort mit der polnischen Kultur und Staatlichkeit seit jeher verbundene Kerngebiete. Dabei sei zum Beispiel an Polens beste Universitäten in Wilno und Lwów zu erinnern.

Vom "Einfluss" zur "Okkupation"

In diese Gebiete sind die sowjetischen Truppen am 17. September einmarschiert, was nun in Warschau als dem Hitler-Krieg ebenbürtige Aggression dargestellt wird. Die Zeit nach dem Krieg nannte der Botschafter im September jedoch (noch) keine "Okkupation" Polens – entgegen den späteren Behauptungen des polnischen Premiers Mateusz Morawiecki in einer Artikel-Reihe im Januar dieses Jahres –, sondern lediglich "sowjetischer Einfluss". Er würdigte auch (noch) die polnischen Soldaten, die Seite an Seite mit den Sowjettruppen gegen die Nazi-Truppen gekämpft hatten. Sie hätten unter dem sowjetischen Kommando unter anderem Berlin erobert, so Przyłebski.

In den letzten Monaten wurde jedoch die Erwähnung des Beitrags zum Sieg vonseiten Hunderttausender Angehöriger des von der UdSSR aufgerüsteten polnischen Heeres (polnischer Volksarmee) immer kleinlauter. Man würdigt nun fast nur noch die Kämpfer der Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa), die von der Londoner Exil-Regierung kontrolliert wurde.

Die Botschaft der Russischen Föderation in Berlin hat am 12. Januar auf Facebook Stellung zum Brief des polnischen Botschafters bezogen. Unter anderem würdigte sie den gemeinsamen polnisch-sowjetischen Kampf gegen die nazistischen Eroberer:

In Russland gedenkt man der polnischen Soldaten und Widerstandskämpfer, die Schulter an Schulter mit der Roten Armee für die Befreiung Europas vom Nazismus gekämpft haben. Erneut fordern wir zum ehrlichen und fürsorglichen Umgang mit unserer gemeinsamen Geschichte auf. Dies ist nötig, um eine Wiederholung der Tragödie nicht zuzulassen.

Mehr zum Thema - Gedenkveranstaltung in Warschau: Der 1. September 1939 und Deutschlands Krieg gegen Polen

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