Europa

"Besatzung durch die Sowjets"? Wie die Sowjetunion Polen nach dem Zweiten Krieg wiederaufbaute

Gern sprechen polnische Politiker von einer sowjetischen Besatzung Polens, quasi unmittelbar nach der Besatzung durch Nazi-Deutschland. Zum 75. Jahrestag der Befreiung Warschaus, der Konzentrationslager in Polen und Polens selbst, sollte man Zahlen sprechen lassen.
"Besatzung durch die Sowjets"? Wie die Sowjetunion Polen nach dem Zweiten Krieg wiederaufbauteQuelle: Sputnik

Geschichtsrevisionismus bezüglich des Zweiten Weltkriegs treibt in Polen unter allen Ländern Osteuropas seine wildesten Blüten. Das heutige offizielle Polen sieht in der Befreiung des Landes durch die Rote Armee im Jahr 1945 eine neue, sowjetische Besatzung beziehungsweise, wie etwa Donald Tusk im Jahr 2009, sogar eine Kontinuität der Besatzung. Das polnische Auswärtige Amt spricht gar von einer "neuen kommunistischen Sklaverei". Hier soll nicht geleugnet werden, dass Polen wie der Großteil Osteuropas nach dem Krieg der sowjetischen Patronage unterstand. In den Bedingungen des Kalten Kriegs, wie er sich anbahnte, war nichts Anderes denkbar. Ebenso wäre hier eine Gegenüberstellung der politischen und wirtschaftlichen Systeme Ost gegen West fehl am Platz, wobei ein Vergleich zwischen den Wirtschaftssystemen der angeblichen Besatzer und der Okkupierten ebenfalls die Märe von einer "Besatzung" effektiv dekonstruieren würde. Doch man sollte angesichts des Tenors des offiziellen Warschau zu dieser Frage Zahlen sprechen lassen, um wenigstens in einer ersten Näherung nachzuprüfen, inwiefern dessen überaus blumige Formulierungen berechtigt sind.

Polen als Opfer des "Volkstumskampfes" der Nazis um "Lebensraum" im Osten

Polen, das auch vor dem Krieg nicht gerade reich war, war nach dem Krieg und der Besatzung durch die Nazis schlicht ruiniert. Mit 5,4 Millionen Todesopfern während der Besatzung im Ergebnis der deutschen Genozidpolitik und 644.000 im Kampfe gefallener Soldaten fehlten dem Land 22 Prozent seiner Bevölkerung. Hinzu kam das Fehlen von etwa 38 Prozent aller wirtschaftlichen Produktionsmittel: So hatten die Nazis 10.434 Maschinen und 8.935 andere Geräte im Wert von 100 Millionen Dollar im damaligen Wert aus Polen nach Deutschland gebracht; gänzlich zerstört waren etwa die Maschinenbaufabriken Lillop und Ursus, die Fluggerätefabrik Avia, eine Mechanikfabrik in Pruskow und eine Lokomotivfabrik. Demgemäß war das Inlandsprodukt um sage und schreibe zwei Drittel gegenüber dem Vorkriegswert gefallen. Und Polen fehlten Lebensmittel – die Menschen hungerten. Ihnen mangelte an allem – sogar an Streichhölzern.

Kontinuität der Besatzung – eine Halluzination der heutigen polnischen Elite

Es war die Sowjetunion, die nicht erst nach, sondern bereits während des Krieges Polen unermesslich wichtige militärische sowie wirtschaftliche Hilfe zukommen ließ. Die Militärhilfe der Sowjetunion an Polen allein vom Rechnungsmonat Mai 1943 umfasste 430.000 Schusswaffen, 4.800 Mörser, 3.500 Geschütze, 700 Panzer, Sturmgeschütze und Selbstfahrlafetten, 12.000 Automobile,  630 Flugzeuge, 480.000 Sätze an Uniformen, 462.000 Überröcke, 487.000 Stiefelpaare. Später stieg die Anzahl der im Rahmen der Militärhilfe gelieferten Schusswaffen auf insgesamt 700.000, der Panzer auf 1.200, der Automobile auf 1.800, der Flugzeuge auf 1.200.

Einheiten der Roten Armee befassten sich noch vor Ende der Kampfhandlungen mit dem Wiederaufbau des Schienennetzwerks. Allein Einheiten der 1.Weißrussischen Front (später Teil der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland) setzten 5.184 Kilometer der Schienenwege, 18 Kilometer kleiner und mittlerer sowie 2,6 Kilometer großer Eisenbahnbrücken wieder in Stand; sie stellten ferner 12.500 Kilometer Telefonkabel zur Koordination des Schienenverkehrs wieder her. Fast 2.000 von den Deutschen erbeutete Lokomotiven wurden Polens Wirtschaft zugeführt – diese hätte die ebenso kriegsgebeutelte Sowjetunion auch selbst gut gebrauchen können. Im Ergebnis hatte Polen doppelt so viele Dampflokomotiven wie vor dem Krieg.

Warschau wurde von Pioniereinheiten der Roten Armee entmint und von Kampfmitteln bereinigt; sowjetische Ingenieure koordinierten die Wiederherstellung der Brücke über die Weichsel, des Wasserversorgungs- und Abwassersystems, der Kraftwerke und Stromnetze. Moskau schenkte Warschau 50 Oberleitungsbusse, schon im Jahr 1946 fuhr die erste O-Bus-Linie wieder.

Im Frühjahr 1945 schickte die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik 30.000 Tonnen Getreide in das von einer Hungersnot geplagte Polen. Halb so viel schickte die selbst von Krieg und Besatzung ruinierte Ukrainische Sowjetrepublik – und dazu 75 Tonnen Pflanzenöl, 50 Tonnen Zucker, sowie für die polnischen Kinder 2,5 Tonnen Trockengemüse. Von März bis November 1945 wurden aus der ganzen Sowjetunion nach Polen Lebensmittel und Saatgut im Gesamtwert von 1,5 Milliarden Rubel nach damaligem Wert sowie 150.000 Rinder unentgeltlich geliefert.

Polens Netz an Schulen und Bibliotheken war durch die Nazis weitgehend vernichtet. Dank sowjetischer Hilfe waren bereits im Schuljahr 1947/48 21.777 Grundschulen und 7.000 Bibliotheken wieder in Betrieb.

Von Juli bis Dezember 1945 bekam Polen von der Sowjetunion 127.000 Tonnen Eisenerz, 31.800 Tonnen Treibstoff und Schmiermittel, 13.000 Tonnen Baumwolle, 29.000 Tonnen Saatgut, 29.900 Tonnen Mehl und 2.800 Tonnen Tabak an unentgeltlichen Wirtschaftshilfen. Sowjetische Spezialisten suchten die zuvor von den Nazis geraubten polnischen Industriemaschinen und –Geräte, führten sie wieder nach Polen zurück und halfen mit technischer Dokumentation und Spezialliteratur, die den Polen nach dem Krieg fast vollständig fehlte.

Unnötig zu wiederholen, dass der "Besatzerstaat" Sowjetunion all diese Mittel auch selbst gut hätte gebrauchen können, weil seine Volkswirtschaft ebenso im Ruin lag – pikanterweise nicht zuletzt aus Gründen, an denen die Regierung Vorkrieg-Polens alles andere als unbeteiligt war.

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Es lohnt sich aber anzumerken, dass der Marshall-Plan der vom Krieg wirtschaftlich nicht geschwächten, sondern eher gestärkten USA in Westeuropa erst im Jahr 1948 in Wirkung trat, also ganze vier Jahre später.

Ebenfalls noch im Jahr 1945 gewährte die Sowjetunion zum Ankurbeln gegenseitigen Handels Polen zinslose Darlehen in Höhe von 50 Millionen Rubel und 10 Millionen US-Dollar jeweils nach damaligem Wert, über zehn Jahre mit Rückzahlungsbeginn ab dem Jahr 1950. Ebenfalls im Jahr 1945 unterzeichneten die Sowjetunion und Polen einen Handelsvertrag über die Lieferung von  Eisenerz (zunächst 250.000 Tonnen), Manganerz (zunächst 30.000 Tonnen), Baumwolle (zunächst 25.000 Tonnen) und Apatitkonzentrat (ein wichtiger Rohstoff für die Schwarz- und Buntmetallurgie und zur Herstellung von Glas sowie von Phosphatdünger; zunächst 40.000 Tonnen) aus der Sowjetunion nach Polen. Im Rahmen des selben Vertrags kaufte die SU ihrerseits von Polen Rohstoffe, Fertigprodukte und industrielle Halbfabrikate: Wälzstahl, Kohle und Koks, Zink, Zement, Ätznatron, Tuch.

Mangelwirtschaft durch sowjetische Besatzung

Die Ergebnisse all dieser Maßnahmen sollten mit denen der Besatzung Polens durch Nazi-Deutschland (siehe Anfang des Artikels) verglichen werden. So war zum Beispiel die Stahlverhüttung zwei Jahre nach Ende der Kriegshandlungen in Polen um fast das Dreifache auf 1,219 Millionen Tonnen jährlich gestiegen; im Jahr 1947 überstieg sie bereits die Vorkriegsmenge. Die erste Traktorenfabrik nahm im Jahr 1947 wieder den Betrieb auf. Im selben Jahr wurden in Polen insgesamt 202 Dampflokomotiven gefertigt, sowie monatlich 1.000 Eisenbahnwaggons – vor dem Krieg waren es nur 288 pro Monat.

Schon im Jahr 1946 bekam Polen einen bis dahin lange unbekannten Mangel zu spüren – einen Mangel an Arbeitskräften, den der polnische Industrieminister durch Demobilisation von 10.000 polnischen Soldaten, eine Repatriierung von 16.000 Polen aus Frankreich, Deutschland und Rumänien und sogar durch Einladung von 5.000 Gastarbeitern aus Italien zu beheben vorschlug. Lag noch im Jahr 1945 die Hälfte aller landwirtschaftlichen Flächen Polens brach, so wurden nur drei Jahre später 90 Prozent wieder bestellt; die Getreideaussaat übertraf erstmals das Vorkriegsniveau.

Ob alles oben Beschriebene eine Besatzung genannt werden darf, ist mehr als fraglich – ebenso fraglich ist allerdings auch, ob das heutige NATO-Polen mit seinem Fort Trump und der PiS-Partei zur Einsicht dieser kleinen, aber feinen Unterschiede fähig ist.

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