Ukrainische Nationalisten verhindern Waffenabzug von Frontlinie – Normandie-Format in Gefahr
Das behaupten zumindest die sogenannten "Separatisten" – die Aufständischen in Donezk und Lugansk im Donbass, die einen beträchtlichen Teil dieser beiden ostukrainischen Gebiete unter ihre Kontrolle halten. Am vereinbarten Tag, dem 9. Oktober, haben sie mehrere Signalraketen abgefeuert, die die Bereitschaft zum Waffenabzug auf beiden Seiten zeigen sollten.
Die Signalschüsse wurden von der OSZE-Beobachtermission gesehen und dokumentiert. Die Regierungstruppen behaupten allerdings, keine Raketen gesehen zu haben, und werfen den Rebellen das darauffolgende Scheitern des geplanten Waffenabzugs vor. Dieser sollte zunächst an der Trennlinie um die Orte Solotoje und Petrowskoje im Lugansker Gebiet erfolgen.
Doch diese Version ist nicht glaubwürdig. Denn an jenem Tag kam es in Solotoje zum Gerangel zwischen angereisten Mitgliedern der Partei "Nationalkorps" und Sicherheitskräften. Auch der Parteivorsitzende Andrej Bilezkij war an der Aktion persönlich beteiligt. Warnschüsse wurden abgefeuert.
Drei Tage zuvor hielt Bilezkij in Kiew vor versammelten Nationalisten eine Rede, in der er die getroffene Vereinbarung zum Waffenabzug und weitere Schritte der Regulierung nach der sogenannten "Steinmeier-Formel" als "Kapitulation" vor Russland anprangerte und Selenskij mit einem neuen "Maidan" drohte. Bis zu 5.000 Anhänger konnten die Nationalisten an jenem Tag auf der Straße für ihre Protestaktionen mobilisieren.
Nachdem der Waffenabzug am Mittwoch verhindert wurde, reisten die meisten Nationalisten aus der Ortschaft ab. Doch bis zu zwei Dutzend sind geblieben, wie der Korrespondent des regierungskritischen Internet-Portals strana.ua berichtete.
Es ist unwahrscheinlich, dass ein paar unbewaffnete Nationalisten, die in Solotoje geblieben sind, den Abzug der Truppen verhindern könnten, wenn der politische Wille der Führung des Landes vorhanden wäre", schlussfolgerte der Reporter vor Ort.
Doch dieser besteht bislang anscheinend nicht. Präsident Selenkij traf sich am 10. Oktober mit Journalisten zu einer mehrstündigen Marathon-Konferenz auf dem trendigen Kiewer Food Market. Das Treffen hinterließ den Eindruck, dass es dem Ex-Comedian Selenskij angesichts der drohenden Popularitätseinbußen eher um eine schauspielerische Ein-Mann-Show ging statt um die Vermittlung politischer Inhalte.
Zum Friedensprozess sagte er viel Widersprüchliches. Es gebe Plan A und B. Mal ging es Selenskij darum, die Territorien "heimzuholen", mal darum, die Leute im Rebellengebiet zu "gewinnen". Einen Einblick, wie Selenskij die Minsker Abkommen und die von der Ukraine unter diplomatischem Druck akzeptierte "Steinmeier-Formel" sieht, gab aber ein anderes, nicht öffentliches Treffen des Präsidenten, das am Nachmittag des 9. Oktober stattfand – zu einem Zeitpunkt, als das "Nationalkorps" den Waffenabzug bereits verhindern konnte.
Selenskij traf sich mit Veteranen der sogenannten "Anti-Terror-Operation" und Anführern nationalistischer Organisationen wie dem berüchtigten "Asow-Regiment" oder S14 – also mit Vertretern der sogenannten Partei des Krieges, die Selenskij mit einem "Maidan" droht, sollte er die Steinmeier-Formel umsetzen. Dieser zufolge sollen in der Region zunächst Wahlen bei gleichzeitigem Inkrafttreten des Autonomiegesetzes stattfinden und erst dann die Übergabe der Kontrolle über die Grenze zu Russland an die ukrainischen Streitkräfte erfolgen.
Die Teilnehmer des Treffens, das nicht gefilmt werden durfte, berichteten später ausführlich über die Gespräche. So klagte Selenskij, dass ihm "im Rahmen der Minsker Abkommen die Hände gebunden werden". Der Ukraine sei vom Westen klargemacht worden, dass man sie nicht in der NATO sehen wolle und dass die Sanktionen gegen Russland aufgehoben werden könnten.
Ich hätte die Minsker Abkommen selbst abgelehnt, das wollte ich vom ersten Tag an, aber mir wurde gesagt, dass sie die Sanktionen automatisch aufheben würden", zitierte der Teilnehmer Wiktor Tregubow den Präsidenten wortwörtlich.
Frankeich und Deutschland haben mehrfach signalisiert, dass sie Fortschritte im Minsker Prozess erwarten. Selenskij versucht, zwischen Russland, dem Westen und den Nationalisten zu balancieren, und hofft, dass er mit Unterstützung der beiden Westmächte bei dem geplanten Treffen im Normandie-Format (N4) ein neues Abkommen aushandeln kann. Russland pocht auf Gespräche mit den Aufständischen und die Einhaltung der Vorbedingungen, wozu in erster Linie ein Waffenabzug gehört.
So kritisierte der russische Präsident das Scheitern des Abzugs am 9. Oktober und mahnte politischen Willen zum Friedensprozess an.
Die nationalistischen Militärformationen kamen dort an und erklärten öffentlich: Wenn die Armee diese Positionen verlässt, werden wir uns dort selbst aufstellen. Und die Armee geht nicht weg", sagte Putin.
Am 15. Oktober wird die Minsker Kontaktgruppe den Truppenabzug erneut besprechen. Bislang gibt es wenige Anzeichen, dass sich in den nächsten Tagen etwas in der Sache bewegt. Am 14. Oktober feierten ukrainische Rechtsradikale das 77-jährige Bestehen der faschistischen Ukrainischen Aufständischen Armee mit einem großen Aufmarsch und einer Kundgebung unter dem Motto "Gegen die Kapitulation".
Am selben Tag besuchte Selenskij das Kriegsgebiet und sendete patriotische Appelle an die Streitkräfte. Der zweite Mann im Staate, der neue Premierminister Alexej Gontscharuk, fiel am Vortag mit dem Besuch eines Neonazi-Konzerts auf, bei dem er in einer kurzen Rede die freiwilligen "Beschützer der Ukraine" würdigte. In dieser Atmosphäre sind Fortschritte im Friedensprozess schwer vorstellbar.
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