Europa

Politische Zeitenwende in der Ukraine? Erdrutschsieg für Partei von Präsident Selenskij

Fünf politische Kräfte ziehen ins ukrainische Parlament ein. Präsident Wladimir Selenskij könnte nun endlich mit einer eigenen Machtbasis im Parlament regieren. Doch seine Partei "Diener des Volkes" ist alles andere als sein verlängerter Arm.
Politische Zeitenwende in der Ukraine? Erdrutschsieg für Partei von Präsident SelenskijQuelle: AFP

Nach Auswertung von 52,7 Prozent der Stimmzettel liegt die Partei "Diener des Volkes" am Montagmorgen bei 42,5 Prozent. Damit blieb die Partei 1,5 Punkte unter den am Sonntagabend prognostizierten 44 Prozent der Stimmen.

Zweitstärkste Kraft wurde demnach die russlandfreundliche Oppositionsplattform "Für das Leben" mit 12,9 Prozent der Stimmen. Parteichef Juri Boiko sagte, dass die Abstimmung die krisengeschüttelte Ukraine wieder auf einen friedlichen und normalen Weg zurückbringe. An dritter Stelle landete die Partei "Europäische Solidarität" von Ex-Präsident Petro Poroschenko mit 8,6 Prozent.

Eine Koalition der Showmaster?

Am Wahlabend sagte Selenskij auch, dass er mit der nationalliberalen Partei "Golos" (zu Deutsch: Stimme) des Rockmusikers Swjatoslaw Wakartschuk Koalitionsverhandlungen aufnehmen wolle. In der Partei Wakartschuks sind etliche Vertreter der Zivilgesellschaft, darunter auch prominente Anti-Korruptions-Kämpfer. Die Partei erhielt den Prognosen zufolge 6,5 Prozent der Stimmen, nach der letzten Zählung 6,4 Prozent. 

Auch die Vaterlandspartei der früheren Regierungschefin Julia Timoschenko bot sich an für eine Mitarbeit in der Regierung. Sie kam auf 8 Prozent der Stimmen. Allerdings hatte Selenskij stets klargemacht, dass er in erster Linie mit politisch neuen Gesichtern zusammenarbeiten möchte.

Nach der Vielzahl gewonnener Direktmandate könnte Diener des Volkes auch ohne Koalitionspartner regieren. Selenskij komme derzeit auf mehr als die dafür erforderlichen 240 Sitze. Möglich werde dies durch die Vielzahl gewonnener Direktmandate, teilte Selenskijs Partei am Montag mit. 

Der neugewählte Präsident erreichte mit der vorgezogenen Parlamentswahl sein Ziel, sich mit seiner neuen Partei eine eigene Machtbasis zu schaffen. Er kündigte an, einen "Wirtschafts-Guru" mit politisch reiner Weste zum Regierungschef zu machen. Einen Namen nannte er bisher aber nicht.  

Ursprünglich sollte die Parlamentswahl erst im Oktober stattfinden. Präsident Selenskij hatte sie vorgezogen, weil es in der Ex-Sowjetrepublik keine handlungsfähige Koalition mehr gab. Zudem hatte Selenskij selbst auch keinen Vertreter im Parlament. Seine Partei Diener des Volkes (Sluga narodu) ist nach einer ukrainischen Polit-Comedy-Serie benannt. Dort hatte der Komiker Selenskij jahrelang einen Präsidenten gespielt, der gegen die korrupte Machtelite kämpft. Nun will er mit einer eigenen Mehrheit im Parlament ernst machen.

Dieser Erfolg ist in der kurzen ukrainischen Parlamentsgeschichte bislang beispiellos. Nach Meinung von Beobachtern wurde damit auch eine ganze Abgeordneten-Generation abgewählt, die in den vergangenen 20 Jahren das politische Geschehen mitbestimmte. So scheiterte etwa die Partei des Regierungschefs Wladimir Groisman samt vier Ministern an der Fünf-Prozent-Hürde.

Nach derzeitigem Stand schafften fünf Parteien den Sprung über jene Hürde, wobei die Wahlbeteiligung mit rund 50 Prozent deutlich niedriger ausfiel als bei der Parlamentswahl vor fünf Jahren. Bei der Präsidentschaftswahl lag sie bei 64 Prozent.

Russland: Politische Kindheit für Selenskij ist beendet

Erste Reaktionen aus Russland waren zunächst verhalten. Selenskij müsse noch politische Reife zeigen, schrieb der Außenpolitiker Konstantin Kossatschow auf Facebook.

Die politische Kindheit und Jugend für Präsident Selenskij ist somit beendet. Jetzt kommt die Zeit der echten Verantwortung", sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im russischen Oberhaus.

Der Außenpolitiker Leonid Kalaschnikow wertete den Erfolg der prorussischen Oppositionsplattform als positives Zeichen, dass sie sich für eine Verbesserung der Beziehungen zu Moskau einsetzen werden.

Sie ist jetzt eine echte politische Kraft, mit der man heute rechnen muss, sagte er.

Nach Bekanntgabe der ersten Wahlergebnisse hat Selenskij sein Ziel einer Beendigung des Krieges im Osten des Landes bekräftigt. Vorrangige Aufgaben seien zudem, die ukrainischen Gefangenen aus Russland zurückzuholen sowie der Sieg über die Korruption, sagte er. Zu den Gefangenen zählt er vor allem die ukrainischen Seeleute, die wegen der Grenzverletzung in der Straße von Kertsch im November 2018 in Russland festgehalten werden.

Ob es jedoch tatsächlich zum Frieden kommt, ist fraglich. Nach Selenskijs Auffassung dürfte es für derzeit abtrünnige Gebiete keinen angestrebten Sonderstatus im ukrainischen Staatsgebiet geben. Nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen ist es infolge der verstärkten Beschüsse vonseiten der ukrainischen Streitkräfte bereits zum Tod mehrerer Frauen gekommen. Außerdem sucht Selenskij die Nähe zu den Angehörigen der nationalistischen Freiwilligenbatallione und würdigt die Teilnehmer des Krieges als Helden und Vaterlandsverteidiger.

Poroschenko geht in die nationalistische Opposition

Die ultranationalisitschen Parteien haben zwar den Einzug ins Parlament verfehlt. Doch ihrer Ideologie steht vor allem der Ex-Präsident Petro Poroschenko mit seiner Partei "Europäische Solidarität" nahe. Er hat seinen Wahlkampf fast ausschließlich in den westukrainischen Regionen geführt. In seiner Partei haben sich vor allem Vertreter der alten Regierung versammelt, die um ihre Positionen bangen.

Nach Einschätzung des Experten des russischen Präsidentschaftsrates für interethnische Beziehungen, Bogdan Bespalko, wird nicht die Oppositionsplattform, sondern Poroschenko zum Hauptoppositionellen im Parlament werden. Seine Kritik wird vor allem die Beziehungen zu Russland betreffen. Jeder Schritt des Staatsoberhaupts werde als Verrat gelten, so der Politologe. Die Wähler der Europäischen Solidarität seien in der ukrainischen Bevölkerung in einer Minderheit, jedoch sehr entschlossen und agieren aggressiv, sagte Bespalko.

Trotz Erfolg: Zweifel an der künftigen Einheit der Sieger-Partei

Nach Meinung anderer russischer Experten hat Wladimir Selenskij noch von seinem fulminanten Sieg bei den Präsidentschaftswahlen profitiert. "Die "Flitterwochen" mit den Wählern dauern noch an, sagte der Professor der Moskauer School of Economics, Oleg Matweitschew, gegenüber RT. Noch immer würden die Menschen mit seinem Namen Hoffnungen auf Veränderungen verbinden.

Mit dem Wahlergebnis wurde aber auch der Grundstein für den zukünftigen Konflikt in der Partei gelegt, glauben Experten.

Die Partei Diener des Volkes ist sehr vielfältig, mit vielen Einflusszentren. Ich denke, in sechs Monaten wird es einen harten Konflikt geben. Das vorherige Parlament arbeitete dank der sogenannten 'Verabredungen'. Selenskij lehnt ein solches System ab, hat aber keine Alternative angeboten. Deshalb werde ich nicht überrascht sein, wenn die Rada vorzeitig aufgelöst werden müsste", erklärte ein Gesprächspartner der Vaterlandspartei gegenüber RT.

Einige Vertreter der Diener des Volkes sprechen auch von ihrer mangelnden Bereitschaft, gehorsame Vollstrecker des Präsidentenwillens zu sein.

Wenn Selenskij glaubt, dass er die Bedingungen für uns diktieren und verlangen kann, dass wir für die Ernennung skandalumwogene Persönlichkeiten in hohe Ämter hieven, irrt er sich. Nachdem das neue Parlament gebildet ist, werden die Abgeordneten darauf bestehen, Andrej Bogdan vom Posten des Leiters des Präsidentenamtes zu entlassen", sagten Parteimitglieder gegenüber RT.  

Der 42-jährige Jurist Andrej Bogdan hat nach dem Euromaidan eng mit dem umstrittenen Milliardär Igor Kolomoiski zusammengearbeitet und war sein Anwalt und Berater. Kurz vor seiner Amtseinführung am 21. Mai hat Wladimir Selenskij Bogdan zum Chef des Präsidialamtes ernannt.

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