Deutungshoheit statt Wahrhaftigkeit: US-Nachrichtenwächter nehmen Großbritannien ins Visier
Welche Nachrichtenquellen sind glaubwürdig, welchen kann vertraut werden? Diese Frage stellen sich angesichts verbreiteter Fake News viele User, die sich im Internet informieren. Die Browser-App "NewsGuard" ("Nachrichtenwächter") will darauf Antworten geben.
Anhand von neun Kriterien kennzeichnet die App Nachrichtenportale hinsichtlich ihrer vermeintlichen Glaubwürdigkeit. Wer den Test besteht, der bekommt von NewsGuard ein grünes Häkchen und damit die Vertrauenswürdigkeit verpasst. Ein rotes "x" erhalten diejenigen Nachrichtenseiten, die – nach Auffassung von NewsGuard – etwa "wiederholt falschen Inhalt" verbreitet oder "irreführende Schlagzeilen" verfasst haben.
Bislang beschränkte sich die App auf Nachrichtenangebote in den USA. Nun wird der britische Markt von den Wahrheitswächtern ins Visier genommen, wie NewsGuard am Mittwoch in einem Tweet bekannt gab.
NewsGuard announces UK Launch to tackle misinformation; @jimmy_wales, @AndersFoghR and @sambrook join global advisory board. Full details https://t.co/oqa4nur41Tpic.twitter.com/uVkC4aTRbU
— NewsGuard (@NewsGuardRating) 24. April 2019
Gleichzeitig wurde der Beirat des in New York ansässigen Unternehmens "gestärkt". Neben dem Wikipedia-Mitbegründer Jimmy Wales sitzt nun auch der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen mit in dem Gremium. Zum Beirat zählen bereits Tom Ridge, erster Minister der von US-Präsident George W. Bush ins Leben gerufenen Heimatschutzbehörde, Michael Hayden, ehemaliger Chef der CIA und der NSA sowie Don Baer, ehemaliger Kommunikationsdirektor des Weißen Hauses unter Präsident Bill Clinton. Dabei ist auch der Brite Richard Sambrook, der 30 Jahre für die BBC tätig war, zuletzt als Direktor der Abteilung für globale Nachrichten.
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Mit an Bord ist auch Richard Stengel, ehemaliger Redakteur des Time Magazine und Staatssekretär für Öffentliche Diplomatie in der Regierung unter US-Präsident Barack Obama. Bei einer Veranstaltung des Council of Foreign Relations sagte Stengel:
Mein alter Job beim Außenministerium war, was Leute scherzhaft als "Chefpropagandist" bezeichnet haben. (…) Ich bin nicht gegen Propaganda. Jedes Land macht das, und sie müssen es gegenüber der eigenen Bevölkerung machen. Ich denke nicht, dass das zwangsläufig eine furchtbare Sache ist.
At a Council on Foreign Relations forum about "fake news," former Editor at Time Magazine Richard Stengel directly states that he supports the use of propaganda on American citizens - then shuts the session down when challenged about how propaganda is used against the third world pic.twitter.com/ClAT5POv7G
— William Craddick (@williamcraddick) 11. Mai 2018
Laut Stengels Äußerung ist Propaganda also im Umkehrschluss dann eine schlechte Sache, wenn sie von einem ausländischen Akteur ausgeht und nicht an die eigene Bevölkerung adressiert ist. Bezeichnenderweise ist Stengel Mitglied des Digital Forensic Research Lab (DFRL) des extrem antirussisch ausgerichteten Atlantic Council. So rief die der NATO nahestehende Denkfabrik vor einem halben Jahr dazu auf, die Krim-Brücke durch Sabotageaktionen zu zerstören.
Das hält Facebook nicht davon ab, DFRL-Mitarbeiter zu engagieren – darunter den bereits wegen der Verbreitung von Fake News auffällig gewordene Ben Nimmo –, um die Plattform nach vermeintlichen Falschmeldungen anderer zu durchforsten und diese zu entfernen.
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Ist NewsGuard installiert, werden dem Nutzer auch einzelne Facebook-Einträge als (nicht-)vertrauenswürdig angezeigt. Als erstes Unternehmen hat Microsoft die App in seinem Browser bereits standardmäßig vorinstalliert.
NewsGuard gibt britischen Medien grünes Licht
Nun werden auch die britischen Medien dem Urteil der Nachrichtenwächter unterzogen. Wobei sie auf Milde hoffen können: Boulevardblätter wie The Sun, Daily Star oder Daily Mirror werden von NewsGuard als vertrauenswürdig eingestuft und sind mit einem grünen Häkchen versehen. Auch die Daily Mail erhält grünes Licht, obwohl NewsGuard sie zu Jahresbeginn noch als nicht-vertrauenswürdig einstufte.
Die Zeitung erfüllte nur eins der fünf Glaubwürdigkeitskriterien und befand sich damit "auf derselben Stufe wie der vom Kreml geförderte Sender RT", bemerkte der Guardian. Doch anders als im Fall von RT reichte eine Beschwerde der Boulevardzeitung aus, um das erwünschte grüne Häkchen zu erhalten. Dabei hatte der nun im NewsGuard-Beirat sitzende Jimmy Wales vor einem Jahr noch gesagt, die Daily Mail "beherrscht die Kunst, Stories zu bringen, die nicht wahr sind".
Angesichts eines solchen objektiv nicht nachvollziehbaren Sinneswandels sowie der Zusammensetzung des Beirats mit seiner engen Anbindung an das Washingtoner Machtzentrum scheint es um die Objektivität der Nachrichtenwächter nicht gut bestellt zu sein.
Das zeigt sich auch am Umgang mit dem Guardian, der von NewsGuard ebenfalls die Glaubwürdigkeitsweihe verliehen bekommen hat. In der vollständigen Übersicht zu der Zeitung wird unter dem Punkt "Glaubwürdigkeit" zwar erwähnt, dass der Journalist Glenn Greenwald dem Guardian vorwarf, ein Interview mit Julian Assange zum Teil fabriziert beziehungsweise falsch übersetzt zu haben. Doch später habe Greenwald "anerkannt, dass der Guardian sich korrigiert und die laut ihm 'unbegründeten Behauptungen' zurückgezogen hat", so NewsGuard.
Kein Wort verlieren die Wächter darüber, dass der Guardian Ende letzten Jahres in einer Exklusivstory behauptet hatte, dass sich der WikiLeaks-Gründer Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London mit Donald Trumps ehemaligem Wahlkampfmanager Paul Manafort mehrfach getroffen habe. Die Story war jedoch nach derzeitiger Faktenlage frei erfunden - was auch Glenn Greenwald zu erneuter Kritik an dem Medium veranlasste.
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Dass es NewsGuard weniger um den Wahrheitsgehalt einer Nachricht geht, als vielmehr um deren politische Implikationen, zeigen die Erfahrungen aus den USA, wo bereits über 200 Bibliotheken ihre Computer mit der App ausgestattet haben. Zahlreiche US-Leitmedien hatten über Jahre behauptet, es habe Geheimabsprachen zwischen Moskau und Donald Trump gegeben, um dessen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2016 zu gewährleisten.
Auch wenn die "Russiagate"-Ermittlungen des US-Sonderermittlers Robert Mueller diese Behauptung als falsch entlarvten, stuft NewsGuard die in diesem Zusammenhang irreführenden Artikel weiterhin als glaubwürdig ein. Darauf weist das von den Nachrichtenwächtern als "rot" markierte Portal Breitbart in einer entsprechenden Übersicht hin.
Zwar legt die NewsGuard-App nicht einzelne Artikel für ihre Bewertung zugrunde, sondern den Gesamteindruck eines Nachrichtenportals. Doch vielen Usern dürfte dieser feine Unterschied nicht bekannt sein. Suggeriert das grüne Häkchen an den entsprechenden Artikeln doch einen vorhandenen Wahrheitsgehalt. Zudem stellt sich die Frage, warum der Gesamteindruck nicht darunter leidet, wenn etwa ein Sender wie CNN zahlreiche Falschbehauptungen im Zusammenhang mit "Russiagate" in die Welt setzt.
Auch Deutschland soll ins Visier genommen werden
NewsGuard will seine Tätigkeiten im Zuge der EU-Wahlen auch auf Deutschland, Frankreich und Italien ausweiten. Als eines der wenigen deutschsprachigen Nachrichtenportale kommt RT Deutsch bereits in den zweifelhaften Genuss der Überprüfung durch die Wahrheitswächter. So sind sämtliche Facebook-Einträge von RT Deutsch mit einem roten "x" markiert. Zwar hat NewsGuard die Inhalte von RT Deutsch selbst nie geprüft, aber als angeblicher Ableger vom englischsprachigen RT werden diese automatisch als nicht vertrauenswürdig eingestuft. Gleiches gilt übrigens auch für das deutschsprachige Angebot von Sputnik.
Insbesondere wird RT die Berichterstattung zum Fall Skripal sowie den Giftgaseinsätzen in Syrien angekreidet. Dabei hatten britische Medien im Fall Skripal die Öffentlichkeit mit ständig neuen Räuberpistolen behelligt und sich bereitwillig zum Lautsprecher von "Regierungskreisen" gemacht. Und das in einem solchen Ausmaß, dass selbst der Independent nicht um die Feststellung umhinkam:
Das Stiften von Verwirrung wird oft als eine typisch russische Technik angesehen, um den Feind zu blenden und zu verwirren. Aber für die Russen war es in diesem Fall kaum nötig, Chaos zu stiften, denn die Briten haben das für sie erledigt.
Doch das spielt für die aus dem militärisch-geheimdienstlichen Komplex der USA rekrutierten News-Wächter offensichtlich keine Rolle. Vom russischen Parlament finanzierte Medien wie RT werden vo ihnen automatisch als unglaubwürdig eingestuft. Wohingegen Medien dann den grünen Freifahrtschein ausgestellt bekommen, wenn sie Narrative verbreiten, die den machtpolitischen Interessen der USA und ihrer Verbündeten dienlich sind – ganz egal, ob und wie oft sie Fake News verbreitet haben. Anders gesagt: Es geht um die mediale Deutungshoheit, nicht um Wahrhaftigkeit.
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