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Abwahl – Ja, Wahl – Nein: Warum ein Komiker Präsident wurde und was die Ukraine nun erwartet

Der Präsident des Maidans, Petro Poroschenko, erleidet in der Stichwahl eine nie dagewesene Niederlage. Es gewinnt der Komiker Wladimir Selenskij, der einen minimalistischen Wahlkampf führte. Aber hat die Ukraine nun wirklich die Chance auf einen Neuanfang?
Abwahl – Ja, Wahl – Nein: Warum ein Komiker Präsident wurde und was die Ukraine nun erwartetQuelle: www.globallookpress.com

von Wladislaw Sankin

Vieles findet in der gerade mal 27-jährigen politischen Geschichte des ukrainischen Staates zum ersten Mal statt. Zum ersten Mal debattierten die beiden Kandidaten zwei Tage vor der Stichwahl in einem Stadion. Und zum ersten Mal verlor der amtierende Präsident mit so einem miserablen Ergebnis – 73 Prozent gegen 24,5 Prozent – gegen einen Polit-Neuling. Dessen Polit-Karriere begann offiziell vor knapp vier Monaten, dem Tag seiner Ankündigung, an den Wahlen teilnehmen zu wollen. Ein weltweiter Rekord für die schnellste und steilste Polit-Karriere?

Der Schauspieler Ronald Reagan, mit dem Selenskij sich gern vergleicht, war immerhin bis zum Beginn seiner Präsidentschaft im Jahr 1981 bereits 17 Jahre lang in der Politik aktiv und schon 70 Jahre alt. Im Jahr 1991, als sich die UdSSR auflöste und die Ukraine ihre Unabhängigkeit bekam, war der 41-Jährige noch nicht volljährig. Der Fernsehstar möchte seiner Generation gerecht werden und will, dass die Ukraine "endlich im 21. Jahrhundert ankommt".

Dass ihm politisches Gewicht und auch Erfahrungen fehlen, weiß Wladimir Selenskij. Dieses Manko will er durch ein Experten-Team wettmachen. 20 Mitglieder seiner Mannschaft hat er erst vor vier Tagen im Studio des Fernsehkanals 1+1  vorgestellt. Die bekanntesten von ihnen durften zum Wahlkonzept des Präsidentschaftskandidaten kurz referieren. Mehr Informationen gab es nicht zum Wahlprogramm.

Selenskij selbst streute in den letzten vier Monaten seine vagen Wahlversprechen in wenigen Interviews. Dabei wirkte er wirr, widersprüchlich und rhetorisch unbeholfen. Zu keinem der Themen konnte sich der neue Hoffnungsträger der Ukraine festlegen. Seine wenigen konkreten Vorschläge wie die Erweiterung des Minsker Abkommens durch die USA und Großbritannien oder die Beendigung des Krieges im Donbass durch die Schaffung eines Fernsehkanals zur Indoktrination der Gegner wirkten unnötig und realitätsfern.

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Dabei konnte er seinen Rivalen, Petro Poroschenko, den er nach eigenen Angaben vor fünf Jahren selbst gewählt hat, glänzend, mit nur spärlich gewählten, aber treffsicher platzierten Hieben, schlagen. Zahlreiche Fehler des Poroschenko-Wahlstabs und eine übertriebene Hysterie der Poroschenko-Unterstützer, der sogenannten "Porochobots", spielten ihm dabei in die Hände.

Die Misere des aussichtslosen Wahlkampfes gipfelte für den Präsidenten in der Stadion-Debatte am Freitag, wo Selenkij in der vertrauten Rolle des Publikumlieblings und der Stimme des Volkes Poroschenko für dessen Fehler und mutmaßliche Verbrechen öffentlich anprangerte. Am Ende der Debatte wirkte Poroschenko verloren und völlig orientierungslos. Die Debatte konnte der Schauspieler für sich als einen weiteren Erfolg auf dem Weg zum Amt verbuchen.

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Seinen Erfolg hat der Kandidat Selenskij also nicht seinem eigenen politischen Programm und seinen Wahlversprechen, sondern dem Hass gegen den korrupten und nationalistischen Präsidenten und Oligarchen Petro Poroschenko zu verdanken. Die Wähler nutzten die Gelegenheit, die es nur einmal in fünf Jahren gibt, und stimmten gegen Poroschenko und den Kurs, den er verkörpert: Krieg, Korruption, Degradierung des Staates, "Reformen", die die Menschen in die Armut stürzten, ständige Tariferhöhungen, Gesetzlosigkeit auf den Straßen und nationalistische Hysterie, die die Ukraine spaltet.

Dass es den Wählern nicht nur um Korruption und Wirtschaft ging, sondern auch um geopolitische und humanitäre Fragen, zeigen die regionalen Unterschiede bei der Abstimmung und die Wahlbeteiligung. Poroschenko gewann die meisten Stimmen in der nationalistisch geprägten Region Lwow im Westen des Landes, wo 63 Prozent der Wähler für ihn und 34 Prozent für Selenskij stimmten. Die geringste Anzahl von Wählern stimmte für Petro Poroschenko in der östlichsten Region Lugansk, nämlich acht Prozent. In den Regionen Odessa und Dnipropetrowsk waren es nur zehn Prozent der Wähler, die für den amtierenden Präsidenten stimmten.

Im Süden und Osten des Landes war die Wahlbeteiligung auch höher. Es ist davon auszugehen, dass die Wähler von Jurij Bojko, der in der ersten Wahlrunde in einigen östlichen Regionen das höchste Resultat erzielte, für Selenskij stimmten. Fast als einziger Kandidat spricht sich Bojko gegen den NATO-Beitritt, für Direktgespräche mit den politischen Vertretern der selbstausgerufenen Donezker und Lugankser Volksrepubliken sowie einer Wiederherstellung der guten Beziehungen zu Russland aus.   

Für solche Wähler scheint Selenskij ein Ausweg aus einer verfahrenen Situation zu sein. Dabei unterscheidet er sich in Grundsatzfragen – in den Fragen des Friedens und der Geopolitik – kaum von Petro Poroschenko. Der Ex-Schauspieler biedert sich bei den "Männern" in Tarnuniformen an, nennt sie "unsere Beschützer" und kniet während des Rededuells mit Poroschenko auf der Bühne, um den ukrainischen, bewaffneten Toten des Krieges zu gedenken. Hunderte Kinder und Frauen im Donbass, getötet von diesen Bewaffneten, bleiben in diesem Gedenken außen vor. In seinen Auftritten und Interviews bezeichnet er Putin als "Feind" und die Donbass-Rebellen als "Abschaum"; der Terrorist und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera ist für Selenskij dagegen ein "Held".

Auch das Poroschenko-Projekt, das geplante drakonische Ukrainisierungsgesetz, das die Anwendung der russischen Sprache im zweisprachigen Land praktisch nur im privaten Raum zulässt, will Selenskij nicht anfechten. Als Präsident wolle er die Staatssprache schützen, sagte er am 21. April während einer Pressekonferenz. Privat spricht er selbst russisch, auch die Sketche seines TV-Projekts "Stadtviertel 95" sind auf russisch.

Genauso wie Poroschenko will Selenskij die Ukraine auch weiter in die EU und NATO führen und mit der IWF zusammenarbeiten. Nur verwaltungstechnisch will er das anders machen – mit kluger Propaganda und Überzeugungsarbeit. Breit lächelnd knüpft er aktiv Kontakte zu westlichen Diplomaten und Politikern; er will sie von seiner Tauglichkeit für die Fortführung des bisherigen Kurses überzeugen. Dafür bekommt Selenskij mittlerweile Lob und Unterstützung: Der Ex-NATO Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen versprach ihm gute Vernetzung unter den einflussreichen Transatlantikern.

Und dennoch löste sein Sieg in der ersten Wahlrunde Angst und Schrecken in den stramm prowestlichen und nationalistischen Kreisen aus. Seine Präsidentschaft werde das "Ende der Ukraine" und einen "Sieg für Putin" bedeuten, ertönte es in den Medien und sozialen Netzwerken. Auch das zeigt, Selenksij ist nur eine Projektion, die Ängste und Hoffnungen der unterschiedlichsten politischen Lagern bündelt, aber kein selbstständiger Spieler. Seit Wochen werden in den Hinterzimmern der ukrainischen Macht neue Allianzen geschmiedet und die Vorbereitungen für die kommenden Parlamentswahlen getroffen. So soll das Risiko für Oligarchen und politische Eliten, aber auch für Selenskij minimiert werden. Das Parlament soll im parlamentarisch-präsidialen System der Ukraine mit dem Präsidenten mitspielen, um eine Doppelherrschaft zu vermeiden.

Im Vorwahlgetöse ging derweil eine Nachricht fast unbemerkt unter: Russland hat am 18. April neue Sanktionen gegen die Ukraine verhängt. Verboten werden Rohöl und Öl-Produkte, Kohle und andere Rohstoffe und Erzeugnisse. Auch die Einfuhr der ukrainischen Waren wird nun weiter eingeschränkt. Die Ukraine bekommt 40 Prozent der Ölprodukte aus Russland, mit den Lieferungen aus Weißrussland sind es sogar 80 Prozent. Das Wirtschaftsministerium kann aber die Sanktionen per Extra-Verfügung aus der Kraft setzen. Damit werden die Sanktionen zum Druckmittel, um die Ukraine zum Verhandlungsprozess in der Regulierung des bewaffneten Konflikts im Osten zu bewegen.

Nach Einschätzung vieler russischen Experten sind diese Sanktionen seit mehreren Jahren überfällig. Die russische Regierung zögerte jedoch, um die antirussische Hysterie im Nachbarland nicht weiter zu entfachen und damit keine Wahlkampfhilfe für Poroschenko und das nationalistische Lager zu leisten. Bei der Einschätzung der Perspektiven in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern halten sich die russischen Offiziellen bedeckt. Gemessen an der Wahlkampfrhetorik, "habe ich keine Illusionen", schrieb der russische Premier Dmitri Medwedew auf seiner Facebook-Seite.

Die Führer der westlichen Staaten gratulieren Selenskij inzwischen einer nach dem anderen persönlich. Sie versprechen Unterstützung und hoffen auf die "weitere Vertiefung der Zusammenarbeit mit der Ukraine". Ob die Ukrainer tatsächlich einen neuen Kurs gewählt oder nur eine gescheiterte politische Figur abgewählt haben, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Gemessen am Kredit der Wähler mit ihren 73 Prozent der Stimmen ist der tatsächliche Spielraum des neuen Präsidenten allerdings klein. 

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