Reisebericht: Inguschetien - Kleine Republik im Kaukasus
von Gert Ewen Ungar
Der letzte Krieg, der zweite Tschetschenienkrieg ging vor zehn Jahren zu Ende. Ich bin auf dem Weg nach Inguschetien, um dort meinen Freund Ali zu besuchen. Inguschetien ist die kleinste Republik der Russischen Föderation. Sie hat etwas weniger als eine halbe Million Einwohner. Inguschetien liegt zwischen der russischen Republik Nordossetien-Alanien im Westen und Norden, der autonomen russischen Republik Tschetschenien im Osten und Georgien im Süden.
Mein Freund Ali ist Muslim und der größte Thomas Anders-Fan den ich kenne. Seine Religion ist ihm jedoch weitaus stärker identitätsstiftend als sein Faible für deutsche Popmusik der späten 80er und frühen 90er Jahre. Ali initiiert gerne Unterhaltungen zu weltanschaulichen Fragen, auf die wir - wie absehbar - unterschiedliche Antworten geben. Ali hält beispielsweise Darwin für falsch, den Koran mit seiner Anlehnung in diesen Fragen an die biblische Schöpfungsgeschichte dagegen für richtig und wegweisend. Bei mir ist es umgekehrt. Trotz dieser grundlegend gegensätzlichen Ansichten zu fundamentalen Fragen verstehen wir uns gut. Das ist übrigens typisch für Russland. Man kann in zentralen Punkten grundsätzlich unterschiedlicher Meinung und trotzdem befreundet sein. In Deutschland gestaltet sich das schwieriger.
Ich bin nur drei Tage in Inguschetien. Russland ist gerade im Bann der WM. Hier unten im Süden bekommt man jedoch vom bunten Treiben in den WM-Städten kaum etwas mit. Auf der Fahrt vom kleinen Regionalflughafen in die Stadt ist das Thema nicht Fußball. Der Fahrer erzählt mir von den Segnungen der Sanktionen. Die Region profitiert, denn sie ist auf Agrarproduktion spezialisiert. Große Apfelplantagen, ausgedehnte Felder mit Mais und Getreide säumen die Straße. Ab und an behindert eine freilaufende Kuhherde den Verkehrsfluss. Ich meine zum Fahrer, das südliche Klima wäre doch eigentlich ideal für Weinanbau. Doch mit Alkohol hat man es hier nicht so. Islamische Republik eben. Schweine laufen hier auch keine rum, fällt mir dann erst sofort auf. Für einen Moment denke ich über die Absurdität mancher meiner Assoziationsketten nach.
Wie auch in Tschetschenien möchte man in Inguschetien zunehmend Touristen anziehen. Der Nordkaukasus hat viele Naturschönheit zu bieten. Am Image muss sicherlich noch gefeilt werden. Zwar sind die Konflikte befriedet, aber das Klischee, ein Unruheherd zu sein, haftet dem Nordkaukasus dennoch an.
Mein Taxifahrer ist Tschetschene. Er zog vor einigen Jahren aus Grosny weg, das lediglich rund 50 Kilometer entfernt liegt. In Tschetschenien müssten alle machen, was Republikchef Ramsan Kadyrow will. Hier in Inguschetien sei es freier - eine echte Demokratie eben. Er lebe gerne hier, versichert mir mein Fahrer.
Nachdem ich in meinem Hotel eingecheckt habe, treffe ich Ali, Wir unternehmen einen ersten Spaziergang durch Magas, der Hauptstadt Inguschetiens. Wer sich bei dem Wort Hauptstadt eine große Metropole vorstellt, täuscht sich. Magas ist klein. Und Magas ist vor allem neu. Die Stadt wurde in den Nuller-Jahren errichtet. Entsprechend modern ist sie. Die Bushaltestellen sind mit Klimaanlage, WLAN, einer elektronischen Bibliothek und USB-Lademöglichkeit für das Handy ausgestattet. Die Mitte der kleinen Stadt bildet eine Flaniermeile, parkähnlich mit zahlreichen Cafés und ebenso zahlreichen Wasserspielen, die ein bisschen Abkühlung bringen. Es herrschen in diesen Tagen auch abends noch Temperaturen deutlich über 30 Grad.
Für den nächsten Vormittag verabreden wir uns in der nahegelegenen Stadt Nasran. Ich fahre mit dem Bus. Es ist ländlich. Kleine Backsteinhäuser säumen die Straße, alle Familien betreiben eine kleine Landwirtschaft. Die Luft riecht nach Sommer.
In Nasran besuchen wir den zentralen Markt. In jeder russischen Stadt gibt es solche Märkte. Sie sind groß, geradezu Labyrinthe, in denen man sich verlaufen kann. Hier findet man natürlich Lebensmittel, Fleisch, Obst und Gemüse, in der Regel aus der Region. Andererseits gibt es hier auch Kleidung und Schuhe, Haushaltswaren, Elektronik, DVDs und CDs, aber auch kleine Bistros und Restaurants. In einem Wort: Hier findet sich einfach alles.
Der Markt in Nasran ist riesig. Auch Ali verläuft sich. Wir interessieren uns für dies und das, kommen mit Händlern ins Gespräch. Plaudern ein bisschen über Europa und über Russland, über Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Alle sprechen Russisch, ab und an verfällt Ali ins Inguschische, die zweite Amtssprache Inguschetiens. Wir betreten einen kleinen Laden, bis unter die Decke voll mit CDs und DVDs. Ali sucht nach Modern Talking und Thomas Anders, und wird auch fündig. Die Auswahl ist erstaunlich groß, allerdings ist genau das gesuchte Album nicht dabei.
Alis Deutschlandbild speist sich aus Musikclips der 90er Jahre einerseits und aus dem Sendungen des privaten Fernsehsenders REN TV andererseits. Der Sender hat sich neben Berichten über UFOs darauf spezialisiert, über die Dekadenz Europas zu berichten.
Ich würde Ali gerne einladen und ihm ein anderes, realistischeres Bild vermitteln, aber das ist schwierig. Bewohnern des Nordkaukasus wird ein Schengenvisum in der Regel verweigert. Wer daher nach Deutschland oder Europa möchte, beantragt Asyl. In Tschetschenien wird diese Variante der Einreise als übliches Standardverfahren gesehen. Man sagt, dass man Asyl will, und bekommt dann eine Wohnung und kann fünf Jahre bleiben, wurde mir beispielsweise auf dem Weg nach Grosny im Flugzeug erzählt. Woher die Leute diese Information haben, weiß ich nicht, aber sie kursiert im Kaukasus in unterschiedlichen Varianten.
Mir wäre es lieber, ich könnte Ali für zehn Tage einladen und ihm ein bisschen etwas von Deutschland zeigen, was sich nicht mit seinem Stereotyp von "Gayropa" und "Modern Talking" deckt. Aber dieser Wunsch kann vermutlich nicht in Erfüllung gehen.
Dafür zeigt mir Ali sein Inguschetien. Er weiß viel, ist sehr heimat- und geschichtsverbunden. Es ist ihm ein wichtiges Anliegen, mir ein Denkmal zu zeigen. Wir lassen den Markt hinter uns und besteigen einen Bus. Nach kurzer Fahrt sind wir vor Ort. Die groß angelegte Gedenkstätte verbindet gleich mehrere Ereignisse. Da ist zum einen der Turm in typischer inguschischer Architektur. Die Türme dienten bei der Abwehr gegen die Überfälle der Mongolen. Erinnert wird hier auch an den zweiten Weltkrieg. Darüber hinaus, und das ist wohl der eigentliche Grund unseres Besuches, steht hier in Gestalt eines Eisenbahnwaggons ein Denkmal, das an die Deportationen der Inguschen unter Stalin erinnert.
Wegen des Verdachts, mit der Deutschen Wehrmacht kollaboriert zu haben, ließ Stalin hier auch große Teile der muslimischen Bevölkerung des Kaukasus nach Zentralasien deportieren.
Heute weiß man: der Verdacht war unbegründet. Es gab zwar Kollaboration, aber keineswegs in großem Umfang. Die Kaukasier kämpften überwiegend an der Seite der Roten Armee. Die Deportationen, von denen Tschetschenen, Inguschen, die Krim-Tataren und viele andere Ethnien muslimischen Glaubens betroffen waren, schlugen eine tiefe Wunde, die auch heute noch nicht vollständig verheilt ist. Ali erzählt von der Deportation seiner Familie, als wäre er zugegen gewesen, wie seine Großmutter mit seiner Mutter in Kasachstan lebten.
Es wird noch dauern, bis die Wunden vollständig verheilt sind. Es dauert immer mindestens drei Generationen, bis solche Traumata von Krieg, Unrecht und Flucht, Deportation und Vernichtung ihre Wirkmächtigkeit verloren haben. Auch deshalb darf man so etwas niemals anzetteln, wie den Jugoslawienkrieg, die Kriege in Nahost, die Destabilisierung der Ukraine und aktuell den Krieg in Syrien. Diese Verfehlungen werden uns noch über Generationen begleiten und schlussendlich auf die Füße fallen, denn wir begingen und begehen da Unrecht.
Vielleicht müssen diese Traumata, die Stalins Deportationen für die Betroffenen Ethnien bedeuten, auch erst noch einmal deutlich sichtbar werden, bevor sie sich richtig schließen können. Die Deportationen wurden in den letzten Jahren zum Thema gemacht. Gedenkstätten wie diese hier wurden errichtet, Forschung betrieben, noch lebende Zeitzeugen gehört und Dokumente ausgewertet. Aktuell entsteht auf der Krim ein Zentrum, das sich mit der Deportation der Krim-Tataren auseinandersetzt. Jamala, die bekanntlich vor zwei Jahren den ESC für die Ukraine mit einem Lied gewann, das die Deportation zum Thema machte, war zur Teileröffnung des Zentrums eingeladen worden. Sie hat damals abgesagt. Es blieb der Eindruck, das Thema ist für die Ukraine und den Westen nur dann gut, wenn es sich gegen Russland richten lässt. Die Bemühungen um Aufarbeitung finden hier daher auch keine Erwähnung.
Bei Ali, der so sehr seine Tradition und in seiner Religion lebt, habe ich das Gefühl, dass gerade dieser nicht aufgearbeitete Rest eines Traumas das Traditionsbewusstsein immens stärkt. Es wird zur Identität.
Am nächsten Morgen bereits fliege ich wieder zurück nach Moskau, in eine andere Welt. Mein Aufenthalt war viel zu kurz. Ali hat noch so viel mehr zu erzählen, es gäbe noch so viel mehr zu entdecken. Ich werde wohl noch einmal kommen müssen. Es war meine fünfte Reise in die Region des Nordkaukasus. Jedes Mal merke ich mit wachsendem Erstaunen, wie wenig ich noch immer über diese Region weiß, die gleichzeitig Europas Mitte und seine äußere Grenze ist.
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