Skripal-Affäre: Auch nach drei Monaten bleibt London der Welt einen Beweis schuldig
von Sebastian Range
Vor drei Monaten nahm die Skripal-Affäre ihren Lauf, die das ohnehin belastete Verhältnis des Westens zu Russland weiter trübte. Am Nachmittag des 4. März wurden Sergej Skripal und seine in Russland lebende Tochter Julia bewusstlos auf einer Parkbank in der englischen Kleinstadt Salisbury aufgefunden.
Der 66-Jährige arbeitete als Doppelagent für den britischen Geheimdienst MI6 und wurde im Jahr 2006 in Russland verhaftet, nachdem er die Namen russischer Geheimagenten an westliche Geheimdienste weitergegeben hatte. Im Rahmen eines Gefangenenaustauschs kam er dann im Jahr 2010 nach Großbritannien.
Aufgrund der Symptome, die Sergej Skripal und seine Tochter aufzeigten, gingen die behandelnden Ärzte zunächst von einer Vergiftung mit Fentanyl aus und leiteten entsprechende Behandlungsmaßnahmen ein. Das Narkosemittel ist ein synthetisches Opioid, das deutlich stärker wirkt als Heroin.
Doch schon bald war von einer „unbekannten Substanz“ die Rede, derer Vater und Tochter zum Opfer gefallen sein sollen. Die Polizei sperrte das Haus von Sergej Skripal in Salisbury sowie die Aufenthaltsorte ab, an denen sich die Beiden von ihrem Auffinden auf der Parkbank aufgehalten hatten, darunter eine Kneipe und ein Restaurant. Für die Öffentlichkeit bestünde aber keine Gefahr, so die Behörden damals.
Am 7. März erklärte dann der Chef der britischen Antiterroreinheit, Mark Rowley, dass die beiden Russen höchstwahrscheinlich einem Nervengift zum Opfer gefallen seien. Infolge dessen rückten 180 Soldaten der Royal Marines sowie Chemiewaffenexperten in der Kleinstadt ein, um dem vermeintlichen Einsatz des Nervengiftes nachzuspüren.
„Nachdem festgestellt wurde, dass ein Nervengift die Ursache für die Symptome ist, sind wir veranlasst, den Fall als versuchten Mord zu behandeln“, erklärte Rowley. Die Skripals wurden demnach „gezielt ins Visier genommen“. Zugleich warnte Rowley, dessen Antiterroreinheit am 6. März die Ermittlungen übernommen hatte, vor vorschnellen Schuldzuweisungen:
Wir müssen uns daran erinnern, dass auch russische Exilanten nicht unsterblich sind. Sie sterben alle, und es gibt gelegentlich eine Tendenz zu Verschwörungstheorien.
Auch die inzwischen geschasste Innenministerin Amber Rudd rief dazu auf, „einen kühlen Kopf“ zu bewahren und Spekulationen zu vermeiden. „Wir müssen sicherstellen, dass wir nicht auf Gerüchte reagieren, sondern auf Beweise.“ Der Polizei müsse die notwendige Zeit für die Ermittlungen gegeben werden, so die damalige Innenministerin.
London: Putin hat Attentat angeordnet
Doch die meisten Mitglieder des Kabinetts – allen voran Außenminister Boris Johnson – hielten sich nicht lange mit Ermittlungsergebnissen auf und brachten unverzüglich Moskau als Schuldigen für das Attentat ins Spiel.
Am 12. März erklärte Premierministerin Theresa May vor dem Unterhaus, dass Russland „höchstwahrscheinlich“ für das Attentat verantwortlich sei. May nannte dabei erstmals die angebliche Tatwaffe: das Nervengift „Nowitschok“, das einst in der Sowjetunion entwickelt wurde und im Russischen „Neuling“ bedeutet. Laut der Premierministerin habe es sich entweder um eine direkte Tat des russischen Staates gehandelt, oder Moskau habe zugelassen, dass sein Nervenkampfstoff in die falschen Hände geraten ist. Boris Johnson ging noch einen Schritt weiter und erklärte Tage später, dass Wladimir Putin das Attentat „höchstwahrscheinlich“ selbst angeordnet habe.
Mehr zum Thema - Causa Skripal: Die lange Geschichte der Geheimhaltungen um den Kampfstoff "Nowitschok"
Das Motiv des russischen Präsidenten: Vergeltung an einem Überläufer zu üben, die weitere potenzielle Kandidaten abschrecken soll. Das Hauptargument für Moskaus Schuld ist jedoch die Behauptung, nur Russland sei im Besitz der Tatwaffe und komme daher ausschließlich als Täter infrage.
Die Mehrzahl der britischen Bündnispartner innerhalb von NATO und EU, darunter auch Deutschland, machten sich Londons Auffassung zu eigen und wiesen ebenfalls wie zuvor schon Großbritannien russische Diplomaten aus.
Doch bis zum heutigen Tag konnte London weder belastbare Beweise vorbringen noch konkrete Verdächtige ausmachen oder einen in sich schlüssigen Tatablauf rekonstruieren. Stattdessen wurden in den Wochen nach der Tat ständig neue, widersprüchliche Versionen in die Welt gesetzt.
Begrenzte Haltbarkeit: Ständig neue Tatumstände
So gingen Ermittler zunächst der Hypothese nach, das Gift habe an einem Blumenstrauß gehaftet, den Sergej Skripal am 4. März am Grab seiner Ehefrau Ljudmila abgelegt hatte.
Der Kontakt mit den Blumen und den Möbeln im Haus könnte erklären, warum Spuren der Substanz durch die Haut derjenigen Personen aufgenommen werden konnten, die dort Oberflächen berührten – einschließlich des Polizisten Nick Bailey, der nach einem Aufenthalt in dem Haus erkrankte“, berichtete die Daily Mail am 10. März.
Der Polizist wurde „in einem ernsten Zustand“ in das örtliche Krankenhaus eingeliefert, aus dem er dann am 22. März wieder entlassen wurde.
Bereits einen Tag später, also am 11. März, fokussierten sich die Ermittlungen auf ein von einem Kurierdienst an Sergej Skripal geliefertes Postpaket, in dem anstelle des Blumenstraußes das Gift transportiert worden sein soll.
Am 14. März berichtete der Express dann über den neuesten Ermittlungsstand, laut dem das Nervengift an der Türklinke des Autos von Sergej Skripal angebracht war. Der Artikel zitiert den ehemaligen Chemiewaffeninspekteur der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), Jerry Smith, demzufolge es sich bei Nowitschok um eine „staubige Substanz“ handele, die über einen längeren Zeitraum wirksam bleibe.
Einen Tag später zeigten sich die Ermittler dann aber „überzeugt“, dass das Gift in dem Koffer transportiert wurde, den Julia aus Moskau kommend zu ihrem Besuch in England mitgenommen hatte. Das Nowitschok könne demzufolge an der Kleidung angebracht oder den Kosmetika beigemischt worden sein, schrieb der Telegraph.
Doch auch das Haltbarkeitsdatum dieses behaupteten Tathergangs war bereits nach wenigen Tagen abgelaufen. Laut einem Bericht von ABC News vom 18. März konzentrierten sich die Ermittler wieder auf Skripals Fahrzeug. Das Nervengift sei demnach „in staubförmiger Pulverform“ in das Belüftungssystem des BMW eingeschleust worden.
Drei Geheimdienstler sagten ABC News, dass sie sich über die russische militärische Herkunft und die Art der Substanz, ein ‚staubiges‘ Organophosphat, im Klaren seien.
Neue Theorie: Luftangriff am helllichten Tag
Noch am selben Tag präsentierte der Daily Star eine völlig andere Version des Tathergangs. Demnach wurden die Skripals laut „britischen Geheimdienstchefs“ „mit dem Nervengift durch eine ferngesteuerte Drohne besprüht, die über ihnen schwebte, als sie auf der Parkbank saßen“, so das Blatt. Der Einsatz einer Drohne „würde auch erklären, warum es keine Augenzeugen des Angriffs gab und dieser in den Aufnahmen aus Überwachungskameras nicht zu sehen ist“.
Wie der Telegraph später berichtete, habe die Polizei „umfangreiche Aufnahmen von Überwachungskameras in Salisbury ausgewertet, einschließlich solcher von Kameras, die Autonummernschilder erfassen“. Tausende Stunden von Videoaufnahmen wurden gesichtet, doch die Beamten konnten dabei nichts Verdächtiges finden.
Der Daily Star zitierte eine Geheimdienstquelle mit den folgenden Worten:
Die Drohne ist lediglich ein Vehikel, um die Waffe zu transportieren. Es ist durchaus möglich, dass sie für den Einsatz des Nervengiftes benutzt wurde, und das würde das fast völlige Fehlen einer Beweisspur erklären.
„Wir wissen, dass die Russen mit waffenfähigen Mini-Drohnen experimentieren“, so die Quelle, die gleich auch ein Horrorszenario an die Wand malte:
Wir glauben, dass sie auch Viren als Waffen entwickelt haben, die Tausende Menschenleben auslöschen könnten.
Knapp zwei Wochen später wurde das Gift dann wieder in einem Mitbringsel von Julia Skripal verortet. So berichtete The Sun am 1. April, das Nowitschok könne in einer russischen Buchweizenspeise enthalten gewesen sein, die Julia ihrem Vater mitbrachte.
Laut Ermittlern wollten die Attentäter die Spur nach Russland lenken
Am gleichen Tag meldete jedoch die New York Times, dass es die Türklinke des Hauses von Skripal gewesen sei, an der das Nowitschok angebracht wurde. In dem Artikel heißt es:
Weil das Nervengift so stark ist, so die Beamten, konnte die Tat nur von ausgebildeten Fachleuten durchgeführt worden sein, die mit chemischen Waffen vertraut sind. Britische und amerikanische Beamte sind skeptisch, dass unabhängige Akteure eine so riskante Operation hätten durchführen können oder die Substanz ohne Zustimmung auf höchster Ebene der russischen Regierung erhalten haben könnten.
Laut der Zeitung zeigten sich die Ermittler von der Symbolkraft des Angriffs überrascht. Denn die Attentäter hätten gewusst, dass „das Nervengift identifiziert und mit Russland in Verbindung gebracht werden würde“. Moskau wollte demnach eine „abschreckende Botschaft“ gegenüber potenziellen Geheimdienstüberläufern aussenden.
So widersprüchlich all diese jeweils von „hochrangigen Quellen“ aus Ermittlungskreisen in die Welt posaunten und von den Massenmedien unkritisch kolportierten Versionen des Tathergangs auch ausfielen, in einem waren sich die Ermittler stets einig: dass die „fast völlig fehlende Beweisspur“ in den Kreml führt.
Ein ganz neuer Neuling: Moskaus Nowitschok für Attentate
Die „Türklinken-Version“ gilt inzwischen als die offizielle Darstellung des Tathergangs. In einem Schreiben vom 13. April an den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und an die europäischen Staats- und Regierungschefs behauptete Großbritanniens Nationaler Sicherheitsberater, Moskau betreibe ein geheimes Chemiewaffenprogramm.
Im Rahmen dieses Programms wurden auch Möglichkeiten erforscht, wie verschiedene Nervengiftarten am besten eingesetzt werden können, einschließlich ihres Anbringens an Türklinken,“ so Sir Mark Sedwill in seinem Schreiben.
Mehr zum Thema - Skripal-Affäre: Britischer Geheimdienst enthüllt das gefürchtete "Türklinken-Programm" Russlands
Vater und Tochter sollen also beim Verlassen des Hauses durch das Berühren der Türklinke mit Nowitschok vergiftet worden sein. Wie sie totz des Kontaktes mit dem mutmaßlich tödlichsten Nervengift dennoch stundenlang in der Stadt unterwegs sein konnten, auch dafür hatte London eine Erklärung parat: Moskau habe speziell für Attentate eine neue Form von Nowitschok entwickelt, die erst nach Stunden wirke.
Noch dazu müssen die russischen Wissenschaftler die Persistenz des Kampfstoffes deutlich verbessert haben, der als relativ flüchtig gilt. Denn laut eines von der BBC Mitte April zitierten Experten würde das eingesetzte Nowitschok „sich nicht verflüchtigen oder über die Zeit verschwinden“, weshalb aufwendige Dekontaminierungen an neun Orten in Salibsury durchgeführt werden müssten – darunter Skripals Haus sowie die Kneipe und das Restaurant, die er und seine Tochter aufsuchten.
Unter Berufung auf die Umweltbehörde berichtete die BBC in ihrem Artikel zudem, das Nowitschok sei „in flüssiger Form“, gemeint ist eine gelartige Substanz, zum Einsatz gebracht worden – nachdem zuvor noch von einem Spray beziehungsweise staubigen Pulver gesprochen wurde.
Mehr zum Thema - Neue Entwicklung im Fall Skripal: Gift soll "in flüssiger Form" verabreicht worden sein
Folgenloser Kontakt mit tödlichem Nervengift
Eine Woche zuvor hatte der Sender berichtet, dass die Ermittler 131 Personen identifiziert hätten, die mit dem Nervengift in Kontakt kamen. „Niemand zeigte Symptome“, so die BBC. Die Russen müssten also das Nowitschok so entwickelt haben, dass es nur eine selektive Wirkung zeigt. Anders ist wohl kaum zu erklären, warum niemand außer den Skripals – abgesehen von dem Polizisten Bailey – daran erkrankt ist.
Dabei berichtete die Times am 14. März noch von fast 40 Personen, „die Symptome im Zusammenhang mit der Nervengift-Attacke“ aufwiesen. Vier Tage später sprach ABC News unter Berufung auf Geheimdienstquellen davon, dass 38 Personen an den Folgen des Nervengiftes erkrankt seien.
Ein Arzt aus dem örtlichen Krankenhaus widersprach jedoch dieser Darstellung. In einem Leserbrief an die Times wies Steven Davies darauf hin, dass „keine Patienten in Salisbury Symptome einer Nervengift-Erkrankung aufzeigten, und nur drei Patienten signifikante Vergiftungserscheinungen aufwiesen“ – letzteres bezieht sich wohl auf die Skripals und den Polizisten.
„Warum war der Polizist Nick Bailey betroffen, aber nicht die Ärztin, die Erste Hilfe geleistet hat?“, fragte sich der Independent vor zwei Wochen in einem für britische Verhältnisse ungewohnt kritischen Artikel.
Die Ärztin, die vor Ort eine halbe Stunde lang Erste Hilfe leistete, sagte gegenüber der BBC, dass sie keine Spuren eines Nervengiftes im Gesicht oder auf dem Körper von Julia Skripal gesehen habe. Auch die Medizinerin zeigte trotz des intensiven (Haut-)Kontakts im späteren Verlauf keinerlei Symptome. Auf eine Krankenschwester der Armee, die zufällig am Ort des Geschehens vorbeikam und Hilfe leistete, habe sich einer der beiden Skripals laut der Times sogar erbrochen, ohne dass dies gesundheitliche Konsequenzen nach sich gezogen habe.
Dabei müsste das Gift äußerst aggressiv gewirkt haben, denn die Zeitung meldete in einem anderen Artikel, Bailey habe sich durch das Anfassen der Türklinke vergiftet, obwohl er einen Schutzhandschuh trug. Im Umkehrschluss heißt das, dass der (oder die) Täter beim Anbringen des Nervengiftes an der Türklinke, was übrigens laut offiziellem Zeitablauf am helllichten Tag geschehen sein müsste, einen geeigneten Schutzanzug getragen haben muss – was wohl kaum unbemerkt geblieben wäre.
Kaum beachtetes Eingeständnis Londons: Es gibt keine Verdächtigen
Doch all diese Ungereimtheiten gerieten in Vergessenheit – wenn sie überhaupt je in den Massenmedien als solche thematisiert wurden –, als der Telegraph am 20. April unter Berufung auf „Sicherheitskreise“ verkündete, dass mehrere „Hauptverdächtige“ identifiziert worden seien. Dabei soll es sich um einen 54-Jährigen ehemaligen Offizier des russischen Geheimdienstes FSB handeln (Codename: „Gordon“), der ein Team bestehend aus sechs russischen Attentätern angeführt habe. Von einem „Durchbruch“ bei den Ermittlungen war die Rede, der deutschen Medien die eine oder andere Schlagzeile wert war.
Keine Schlagzeilen machte hingegen, als der Nationale Sicherheitsberater Sir Mark Sedwill zwei Wochen später einräumen musste, dass seine Ermittler noch überhaupt keinen Verdächtigen identifizieren konnten.
Während London fast täglich – sozusagen halboffiziell über die von Medien zitierten „hochrangigen“ Quellen – eine neue Version zum Fall Skripal in die Welt setzte, behaupteten britische Medien bezeichnenderweise, es sei der Kreml, der seine Position ständig ändere, um Verwirrung zu stiften. Moskau verfolge in der Skripal-Affäre „30 parallele Linien der Desinformation“, meinte auch die britische Regierung, ohne diese Behauptung jedoch weiter auszuführen.
Dabei war Russlands Haltung von Anbeginn in sich konsistent. Sie lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Das Land hat all seine Chemiewaffenvorräte unter Aufsicht der OPCW vernichtet, ist somit nicht im Besitz von Nowitschok und kommt daher als Täter nicht in Frage.
Das Stiften von Verwirrung wird oft als eine typisch russische Technik angesehen, um den Feind zu blenden und zu verwirren. Aber für die Russen war es in diesem Fall kaum nötig, Chaos zu stiften, denn die Briten haben das für sie erledigt“, warf der Independent vor zwei Wochen folgerichtig in die Debatte ein.
Die Lüge von der „russischen Herkunft“ des Nervengiftes
Wenig hilfreich im Sinne der britischen Anklage war auch die Behauptung des Außenministers Johnson, wonach die Chemiewaffenexperten des bei Salisbury gelegenen Labors Porton Down die russische Herkunft des Nervengiftes „absolut eindeutig“ bestätigt hätten. Dem widersprach Anfang April der Laborchef Gary Aitkenhead:
Wir waren in der Lage, es als Nowitschok zu identifizieren, und konnten feststellen, dass es sich um ein militärisches Nervengas handelt. Wir konnten jedoch die genaue Quelle nicht identifizieren.
Kaum der Lüge überführt, wartete London mit einer weiteren auf: Man habe nie behauptet, dass das eingesetzte Nowitschok russischer Herkunft sei – und löschte einen Tweet, in dem genau das behauptet wurde. Als dann die OPCW ihren für die Öffentlichkeit bestimmten Bericht herausgab, meinte die britische Regierung, auch darin einen Beweis für Russlands Schuld finden zu können. So sagte Johnson zu dem Bericht:
Es gibt keinen Zweifel, was benutzt wurde, und es gibt keine andere Erklärung, wer dafür verantwortlich ist – nur Russland hat die Mittel, ein Motiv und die Erfahrung.
Doch anders als deutsche Massenmedien in ihren Schlagzeilen unterstellten, hatte die OPCW „eine russische Herkunft des Giftes“ nicht bestätigt. In dem Bericht heißt es lediglich, die britischen Untersuchungsergebnisse seien „in Bezug auf die Identität der toxischen Chemikalie bestätigt“ worden.
Berlin agiert als Londons williger Erfüllungsgehilfe und verbreitet Fake News
Auch das Auswärtige Amt betätigte sich als Verbreiter dieser Falschmeldung, indem es auf seiner Webseite behauptet, ein OPCW-Labor habe „ohne Zweifel das russische Gift ‚Nowitschok‘ nachgewiesen“.
Dass Nowitschok „in Russland entwickelt und produziert wurde“, ist eine weitere Falschbehauptung des Auswärtigen Amtes. Tatsächlich wurde das Nervengift in der Sowjetunion hergestellt; Produktionsstätten befanden sich daher auch außerhalb Russlands. Die größte von ihnen befand sich laut einem Bericht der New York Times von 1999 in Usbekistan – die Anlage wurde von den USA abgewickelt.
Auch andere NATO-Staaten, darunter Deutschland, haben sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Nowitschok verschafft. In Tschechien wurde noch bis vor kurzem daran geforscht. Der Iran hat den Kampfstoff vor zwei Jahren unter OPCW-Aufsicht hergestellt. Viele weitere Staaten besitzen laut Israels Premierminister Benjamin Netanjahu den Kampfstoff oder sind in der Lage, diesen zu synthetisieren. Ironischerweise sind auch die Briten selbst im Besitz des vermeintlich russischen Nervengiftes, wie Johnson in einem Interview mit der Deutschen Welle beiläufig einräumte.
Mehr zum Thema - Nowitschok und der BND: Deutsche Politiker zweifeln an Russlands Schuld
Damit ist die These hinfällig, nur Russland komme als Schuldiger in Betracht, da kein anderes Land im Besitz des Tatwerkzeugs sei. Dessen ungeachtet bekräftigte die Bundesregierung am Montag, „dass es keine andere plausible Erklärung gibt“, als dass Moskau der Täter ist. Regierungssprecher Steffen Seibert gestand indirekt ein, dass die Bundesregierung die sechsseitige Power-Point-Präsentation als beweiskräftig ansieht, die London im März seinen Partner vorlegte, um diese zu antirussischen Maßnahmen zu bewegen.
Doch das von den Briten vorgelegte Dokument strotzt zwar vor Anschuldigungen, Belege sind darin allerdings keine zu finden. Wie die Bundesregierung auf dieser Grundlage, die keinen Faktencheck überstehen würde, die Ausweisung russischer Diplomaten veranlassen konnte, erscheint alles andere als plausibel. Berlin machte sich sogar die Behauptung zu eigen, die der britische Botschafter in Berlin, Sebastian Wood, gegenüber dem Deutschlandfunk dargelegt hatte:
Unsere Nachrichtendienste wissen, dass es dieses Geheimprogramm zum Nowitschok-Giftstoff gibt, das die russische Regierung nie offengelegt hat. Wir wissen, dass die russischen Behörden experimentiert haben, wie man dieses Nervengift am besten einsetzt, um Menschen zu töten.
In einer gemeinsam mit Paris und Washington verfassten Erklärung sprach die Bundesregierung von einem „Nowitschok-Programm“, das Russland betreibe und nun gegenüber der OPCW offenlegen müsse. Ebenso forderte die EU Moskau dazu auf, sein „Nowitschok-Programm“ offenzulegen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach in einem ZDF-Interview von einem „Chemiewaffenprogramm“ der Russen. Dieser Vorwurf hat noch mal eine ganz andere Qualität als der, Moskau habe lediglich nicht-deklarierte Nowitschok-Altbestände aus der Sowjetunion insgeheim aufgehoben.
Die Räuberpistole über Schichany
Laut von der Times zitierten britischen „Sicherheitskreisen“ stammt das gegen die Skripals verwendete Nowitschok aus einer Militärforschungsanlage in dem Dorf Schichany rund 900 Kilometer südöstlich von Moskau. Der britische Chemiker Chris Busby zerpflückte diese Behauptung folgendermaßen:
Es ist unmöglich, dass die Substanz, die bei dem Skripal-Anschlag gefunden wurde, auf ein russisches Labor (oder irgendein Labor) zurückzuführen ist, wenn es keine Vergleichsprobe aus dem russischen Labor (oder aus dem Labor, aus dem es stammt) gibt. Alle Chemiker wissen das. (…) Die Überschrift der Times über ein geheimes russisches Labor ist daher ein Schwindel.
Mehr zum Thema - Neuer britischer Skripal-Bericht: "Experten haben jetzt Nowitschok-Labor in Russland identifiziert"
Sollte der Times-Bericht stimmen, dann müssten die Russen so freundlich gewesen sein, den Briten Proben aus ihrem streng geheimen Nowitschok-Programm zur Verfügung zu stellen.
Ein weiterer Widerspruch springt ins Auge: Einerseits sollen die britischen Behörden über tiefe Einblicke in ein streng geheimes Chemiewaffenprogramm in Russland verfügen, andererseits sind sie trotz all der bestehenden Überwachungsmaßnahmen und umfangreicher Ermittlungen nicht in der Lage, einen Verdächtigen zu identifizieren, der sozusagen „vor der eigenen Haustür“ in Salisbury Nowitschok verteilte.
Totgesagte leben länger: Das Wunder von Salisbury
Das stärkste Indiz dafür, dass London seit drei Monaten der Weltöffentlichkeit einen (russischen) Bären aufbindet, ist die Tatsache, dass sowohl Julia Skripal als auch ihr Vater in der Zwischenzeit aus dem Krankenhaus entlassen wurden. Wie konnten sie einen Anschlag mit dem tödlichsten Nervengift überleben, das dazu noch laut OPCW in „reinster Form“ verabreicht wurde, und das laut London in einer bis dato unbekannten, speziell für Mordanschläge entwickelten Variante verwendet worden sein soll?
„Man kann nur den Zeitraum bis zum Tod verlängern“, äußerte sich noch am 13. März ein Chemiewaffenexperte gegenüber der Welt zu den Genesungsperspektiven der Skripals.
In einer kürzlich erschienenen BBC-Doku äußerten sich auch die behandelnden Ärzte zu dem Fall. Wie bereits erwähnt, gingen sie zunächst – während der ersten beiden Tage – von einer Fentanyl-Vergiftung aus. Dementsprechend seien die beiden Patienten auch behandelt worden. Zudem gab es im Krankenhaus keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen, wie sie bei einem chemischen Kampfstoff zwingend notwendig gewesen wären.
Mehr zum Thema - Skripal-Affäre: BBC weist auf verblüffende Ungereimtheiten hin (Video)
„Als uns erstmals bewusst wurde, dass das ein Nervenkampfstoff war, gingen wir davon aus, dass sie nicht überleben“, sagte der Facharzt der Intensivstation, Stephen Jukes. Laut ihm deuteten alle Anzeichen darauf hin, „dass sie nicht überleben würden“. Das Schlagwort von einem „Wunder“ machte daraufhin die mediale Runde.
Ein Wunder wäre es aber nur dann, wenn Londons Behauptungen zuträfen. Julia Skripal selbst hält diese im Unterschied zur Bundesregierung offenbar für wenig plausibel. In ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit dem Vorfall bekundete sie ihren Wunsch, in ihre russische Heimat zurückzukehren. Wäre sie der Ansicht, Moskau trachte ihr und ihrem Vater nach dem Leben und trage die Verantwortung für das Attentat, hätte sie diese Absicht wohl kaum geäußert.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.