IS-Terrorismus erreicht endgültig Europa: Was jetzt getan werden muss
Die Art der bisherigen politischen Reaktionen auf die Anschläge in Paris am vergangenen Freitag ist so voraussehbar wie falsch. Sie oszillieren um die altbekannte Agenda des Westens, die dieser seit nunmehr 14 Jahren erfolglos als "Krieg gegen den Terror" vermarktet.
Feste Elemente, die nach jedem Anschlag - so auch nach den blutigen Attentaten von Paris - reflexartig Fürsprecher finden, sind auf der innenpolitischen Ebene: Mehr Überwachung, Vorratsdatenspeicherung, Aufrüstung der Sicherheitskräfte, mehr Kontrollen, potentere und besser vernetzte Geheimdienste. Als ob irgendeine dieser, in Frankreich längst ins Extrem getriebenen, Maßnahmen am Wochenende im Stande war, der Guerillataktik der Attentäter beizukommen. Terroristen finden immer eine Lücke, rüsten auf und verfeinern ihre Strategien. Das Rennen ist so nicht zu gewinnen.
Außenpolitisch sind die Reaktionen nicht weniger autistisch: Mehr Krieg, mehr Bomben, NATO-Bündnisfall? Bald auch Bodentruppen? Westliche Politiker - allen voran der französische Präsident François Hollande - schicken sich nun an, genau die Politik zu intensivieren, die erst zur Entstehung des selbstdeklarierten "Islamischen Staates" geführt hat. Auch Russland ist nicht vor diesem Weg gefeit.
Zur Erinnerung:
Der "Islamische Staat" hieß, bevor er sich auch nach Syrien ausbreitete, "Al-Kaida im Irak". Gegründet wurde die Organisation von Abū Musʿab az-Zarqāwī, einem jordanischen Extremisten. Mit verschiedenen Namensänderungen (Madschlis Schura al-Mudschahidin fi 'l-Iraq, Qāʿidat al-Dschihād fi Bilād ar-Rāfidain, At-Tauhīd wa-l-Dschihād) reicht die Entstehung der Organisation bis ins Jahr 2003 zurück, dem Jahr in dem die von den USA angeführte "Koalition der Willigen" den Irak überfiel, dort nahezu alle staatlichen Strukturen zerstörte, rund eine Millionen Irakis ermordete und ein bis heute bestehendes Chaos schuf.
Al-Kaida ist nicht, wie oft behauptet, ein aus der Mode gekommenes Terrorprojekt, dem der IS den Rang abgelaufen hat, sondern viel mehr der "Urschleim" aus dem der "Islamische Staat" mit fleißigem Zutun westlicher Interventionspolitik entstand.
Um einen Gegner wirksam bekämpfen zu können, ist es notwendig zunächst einmal dessen Handlungsmotivation, dessen Strategie und dessen Kalkül zu verstehen. Im darauf folgenden Schritt gilt es dann, nicht in die Falle ebendieses Kalküls zu tappen, sondern die Strategie des Gegners durch für ihn unerwartete Manöver zu durchkreuzen.
Die Attentäter von Paris und deren Hintermänner werden keinesfalls beunruhigt sein, wenn Frankreich und andere europäische Staaten oder Russland und auch die USA nun abermals ihre Sicherheitsgesetze verschärfen und mit Bomben auf Syrien antworten, wie gestern bereits von Seiten Frankreichs nahe der IS-Hochburg Rakka geschehen. Diese Reaktionen sind für die radikalisierten Islamisten kein Kollateralschaden, sie sind das erklärte Ziel des terroristischen Handelns.
Die politikwissenschaftliche Standardforschung in diesem Bereich ist dem Thüringer Juristen und Soziologen Peter Waldmann zu verdanken. Waldmanns Terrorismusanalyse gilt als State of the Art in Wissenschaftskreisen. Um so erschreckender, dass die Erkenntnisse des Terrorismusexperten, die Realpolitik seit über einer Dekade kalt zu lassen scheinen.
In einer seiner vielen Abhandlungen zum Thema beschreibt Waldmann in "Das terroristische Kalkül und seine Erfolgsaussichten", was es mit der terroristischen Logik auf sich hat. Zunächst einmal gilt es zu erkennen: Terrorismus ist - so grausam und blutig er sich auch in unser Leben bombt - keine militärische, sondern eine Kommunikationsstrategie.
Ziel dieser gewalttätigen Kommunikation ist immer die Übertragung von Botschaften und das Provozieren von Reaktionen. Waldmann unterteilt die klassische Form des terroristischen Kalküls in drei Elemente:
"– Erstens einem Gewaltakt oder dessen öffentlicher Androhung;
– Zweitens, damit intendiert, einer starke emotionale Reaktion: Gefühle der Furcht und des Schreckens, zumindest starker Verunsicherung bei den Feinden; "positive"Emotionen wie Schadenfreude, Erleichterung, innerer Beifall bei Anhängern und Sympathisanten;
– Als Konsequenz dieser Emotionen zielen terroristische Anschläge drittens auf bestimmte Verhaltensreaktionen ab: insbesondere überstürzte, von einer gewissen Panik diktierte Schutz- und Vergeltungsmaßnahmen, aber auch auf Unterstützung und aktive Mithilfe beim angestrebten Kampf."
Soll heißen: Die eingesetzte Gewalt ist nicht als irrationaler Akt blutrünstiger Irrer zu verstehen, sondern viel mehr eine - aus Sicht der Terroristen - rational und wohl kalkulierte Schockbotschaft mit dem Ziel, den angegriffenen Feind zu einer von Emotionen geleiteten Überreaktion zu provozieren, die einerseits im Inneren der attackierten Gesellschaft, Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit einer freien Gesellschaftsordnung offenbart und verstärkt und im Außen Sympathisanten für den terroristischen Kampf mobilisieren soll. Schon die RAF definierte als ihr Ziel, den Staat zu harten Reaktionen zu provozieren, die dann wiederum die Bürger dazu bewegen sollten, den immer repressiver werdenden Staatsapparat abzulehnen. Es gilt: Der Terrorismus spielt immer über Bande.
So auch in der Gegenwart: Was wird ein junger Syrer wohl tun, der aufgrund französischer Bombenangriffe seinen Bruder verliert? Den IS verdammen oder sich diesem anschließen, um sich an dem verhassten Mörder seines Familienmitgliedes zu rächen?
Die Antwort ist klar. Umso mehr, wenn der anhaltende Krieg in Syrien zahllose Menschen um jegliche zivile Chance des Bestreitens ihres Lebensunterhaltes beraubt. Die bisherigen Mobilisierungs- und Rekrutierungserfolge des IS belegen, dass diese Strategie bisher bedrückend erfolgreich war.
Im August 2005 enthüllte der jordanische Journalist und Al-Kaida-Kenner Fuad Hussein etwas, was er "Al-Kaidas Agenda 2020" nannte. Sieben Phasen beschreibt der Jordanier, in denen die Gotteskrieger hoffen den "entgültigen Sieg" zu erlangen. Interessant aber auch bedenklich ist, wie akkurat Teile dieses Plans sich in den letzten zehn Jahren erfüllt haben:
"In der vierten Phase, zwischen 2010 und 2013, wird es Al-Qaida Hussein zufolge darum gehen, den Sturz der verhassten arabischen Regierungen zu erreichen. "Der schleichende Machtverlust der Regime wird zu einem stetigen Zuwachs an Kraft bei Al-Qaida führen" - so lautet das Kalkül."
[...]"So soll es in der fünften Phase, zwischen 2013 und 2016, gelingen, einen islamischen Staat auszurufen - und zwar ein Kalifat."
Schon zuvor war es das erklärte Ziel der Kaida-Ideologen die USA in einen Krieg gegen die islamische Welt zu verwickeln. Unzählige zivile Tote in der muslimischen Welt waren nach dieser Logik kein notwendiges Übel, sondern ein erwünschter Schritt um den Graben zwischen dem Islam und dem Westen zu vertiefen und Muslime weltweit zum Kampf gegen ihre Unterdrücker "aufzuwecken". Bei Hussein heisst dies mit Blick auf 9/11:
"Das Ziel der Anschläge soll es gewesen sein, die USA zu Kriegen in der islamischen Welt zu provozieren, um die Muslime "aufzuwecken". "Das Resultat der ersten Phase war - nach Empfinden der Vordenker und Strategen der Al-Qaida - sehr gut", schreibt Hussein. "Das Schlachtfeld wurde ausgeweitet, die Amerikaner und ihre Verbündeten wurden zu einem einfacher zu treffenden und näherem Ziel."
Im Klartext: Der Westen ist vor 14 Jahren schon einmal frontal in die Falle des terroristischen Kalküls getappt und schickt sich nun nach "Paris 11/13" an, genau dies wieder zu tun. So muss auch die Frage gestellt werden, ob dies wirklich nur "bedauerliche Fehler" sein können. Waldmanns Terrorismusanalyse kann den politischen Entscheidern und ihren Beratern nicht unbekannt sein. Der Wunsch zur Konfrontation und Eskalation scheint also nicht nur einseitig zu sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass eindeutige Ableitungen Waldmanns, im politischen Entscheidungsprozess hinsichtlich des Umgangs mit Terrorismus, außer Acht bleiben. So heißt es zu möglichen Reaktionen auf terroristische Anschläge:
"Ob diese Rechnung für den Provokateur aufgeht, hängt von dem provozierten Machtträger, sei es ein einzelner, eine Gruppe oder Institution, ab.
[...]
Reagieren die gesellschaftlichen und politischen Führungseliten maßvoll, lassen sie sich nicht zu übertriebenen Verfolgungs- und Sicherheitsmaßnahmen hinreißen, dann haben die Gewaltaktivisten ihr Ziel, mindestens teilweise, verfehlt.
[...]
Allerdings, und dies gilt sowohl für die persönliche als auch für die kollektive Ebene, ist es schwierig, sich dem Reaktionszwang zu entziehen, der von gewaltsamen Provokationen ausgeht."
Nun ist es immer einfach, gemachte oder geplante Entscheidungen und Strategien zu kritisieren, ohne eine Alternative zu unterbreiten. Diese Alternative gibt es jedoch. Kaum ein westlicher Journalist kennt die innere Logik des "Islamischen Staates" wohl besser als der Nahost-Experte und Autor Jürgen Todenhöfer. Zehn Tage gelang es Todenhöfer direkten Einblick in das "Kalifat" zu nehmen. Das Ergebnis war ein Buch, ein baldiger Dokumentarfilm und klare Handlungsempfehlungen an westliche Entscheidungsträger. Ähnlich wie die Erkenntnisse Waldmanns, so scheinen allerdings auch jene Todenhöfers bei den politisch Verantwortlichen auf taube Ohren zu stoßen. Diese lautet in Kurzform:
"1.) HÖRT AUF, STÄNDIG MUSLIMISCHE ÖL-LÄNDER ZU ÜBERFALLEN! Die Vorgängerorganisation des IS entstand direkt nach Bushs Überfall auf den Irak. Ohne den 1000-fachen Terror des Bushkriegs gäbe es den 'Islamischen Staat' nicht. Der ‘IS’ ist Bush's Baby.
2.) HÖRT AUF MUSLIMISCHE MITBÜRGER ALS MENSCHEN 2.KLASSE ZU BEHANDELN! Leute, die wie Pegida denken, treiben dem 'Islamischen Staat' frustrierte Muslime aller Welt in Scharen zu. Pegida & Co als Werber des ‘IS’ - dümmer geht's nimmer.
3.) NUR ARABER KÖNNEN DEN ‘IS’ STOPPEN. Eure Bomben züchten nur noch mehr Terroristen. Setzt Euch lieber dafür ein, dass die diskriminierten Sunniten des Irak und Syriens endlich fair ins politische Leben ihres Landes integriert werden. Nur dann werden sie die klammheimliche Unterstützung des ‘IS’ beenden, die der ‘IS’ zum Überleben braucht wie Fische das Wasser. 2007 haben die gemäßigten Sunniten des Irak den IS schon einmal vertrieben."
Auch mit konkreten Bezug auf die Anschläge in Paris betont Todenhöfer: Der IS kann nur gestoppt werden, wenn es gelingt die sunnitische Minderheit im Irak wieder in das dortige politische und gesellschaftliche Leben zu integrieren. Mit dem gewaltsamen, durch die USA initiieren Sturz Saddam Husseins verlor auch die ganze Volksgruppe der Sunniten im Irak, die Möglichkeit der Teilhabe. Zahllose Armee-Offiziere, Geheimdienstler und Funktionäre von Saddams Baath-Partei wurden entlassen. Ihr neues Betätigungsfeld seit dem: Der Aufbau des "Islamischen Staates".
Im Inneren der westlichen Gesellschaften gilt es eine Exklusion der moderaten Muslime zu vermeiden, auch dieses Vertiefen der Gräben zwischen den Kulturen gehört zum Kalkül des IS. Es kann nicht oft genug betont werden, dass die überwiegende muslimische Mehrheit, die Gewalt explizit ablehnt, die wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen Extremismus und Terrorismus sind. Als solche sollte ihnen auch begegnet werden.
So schrecklich die Anschläge vom vergangenen Freitag auch sind - und so wenig sie wohl die letzten dieser Art gewesen sein werden - desto mehr gilt es nun, nicht die alten Fehler zu wiederholen und stattdessen die besonnenen und argumentativ schlagkräftigen Analysen eines Peter Waldmanns oder Jürgen Todenhöfers zur Grundlage politischer Entscheidungen zu machen.
Wer dies nicht tut, der mordet mit, wenn demnächst in London, Berlin, Moskau, Ankara oder Washington die nächsten Nagelbomben detonieren.
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