Europa

Russland verklagt EU auf Milliarden wegen festgesetzter Währungsreserven – warum gerade jetzt?

Dass die Klage vor westhörigen internationalen Schiedsgerichten vielleicht nicht durchgeht, geschenkt – Hauptsache, sie geht in Russland selbst durch. Denn in seiner Gerichtsbarkeit befinden sich Vermögenswerte westlicher Besitzer – auch welche des belgischen Euroclear, das den Großteil der nunmehr eingefrorenen russischen Währungsreserven im Ausland hält. Wer in der EU vernünftigerweise gegen die Konfiszierung dieser Gelder ist, bekommt somit argumentative Schützenhilfe aus Russland.
Russland verklagt EU auf Milliarden wegen festgesetzter Währungsreserven – warum gerade jetzt?Quelle: RT

Von Olga Samofalowa

Russlands Zentralbank hat Klage gegen das belgische Verwahrzentrum Euroclear beim Moskauer Schiedsgericht eingereicht, wie der Pressedienst des Gerichts der Nachrichtenagentur TASS mitteilte. Die Streitsumme beträgt 18,17 Billionen Rubel.

Dies entspricht 195,5 Milliarden Euro oder 229 Milliarden US-Dollar zum offiziellen Wechselkurs vom 12. Dezember, dem Tag, an dem die Zentralbank die Einreichung der Klage bekannt gab.

Die Gesamtsumme der seit Beginn der Militäroperation in der gesamten EU eingefrorenen russischen Vermögenswerte beläuft sich auf rund 210 Milliarden Euro. Die genaue Summe, die im belgischen Verwahrzentrum hinterlegt ist, wird jedoch nicht offengelegt – obwohl bekannt ist, dass sich dort der Großteil der russischen Währungsreserven befindet, mindestens also mehr als die Hälfte besagter 210 Milliarden Euro. Das bedeutet, dass die in der neuen Klage geltend gemachte Gesamtsumme von 200 bis 230 Milliarden Euro sich in etwa aus den eingefrorenen Vermögenswerten in Höhe von 210 Milliarden Euro berechnet.

Den Daten des Pressedienstes der russischen Zentralbank zufolge basiert die Forderungshöhe nämlich auf drei Faktoren: Erstens sind da die eigentlichen eingefrorenen russischen Vermögenswerte selbst, dann die Zentralbankgelder – und schließlich kommen auch entgangene Gewinne aus diesen Geldern hinzu. Die Zentralbank wies außerdem darauf hin, dass die Forderung auch mit Schäden zusammenhängt, die Euroclear der russischen Aufsichtsbehörde durch illegale Handlungen verursacht hat.

Dmitri Lesnow, stellvertretender CEO für das Brokerage-Geschäft der FINAM Financial Group, erklärt, wie sich der entgangene Gewinn in den meisten ähnlichen Fällen berechnet:

"Entgangene Gewinne sind der Betrag, den Russland – hier vertreten durch die Zentralbank – durch die freie Verwendung und Verfügung über diese Vermögenswerte und deren Investition in verschiedene Anlagen hätte erzielen können. Üblicherweise wird dieser Betrag anhand des risikofreien Zinssatzes ermittelt.

In den USA liegt dieser bei etwa 4 Prozent – wenn vom US-Dollar die Rede ist. In Euro entspricht das etwa 2 bis 2,5 Prozent Jahreszins."

Kirill Tschernowol, wissenschaftlicher Mitarbeiter am sogenannten Labor für internationale Best-Practice-Analyse des russischen staatlichen Gaidar-Instituts für Wirtschaftspolitik, präzisiert die Eigenarten dieser Berechnungsweise und erinnert auch an eine Alternative dazu:

"Russlands Oberster Gerichtshof erklärte (in Plenumsbeschluss Nr. 25 vom 23. Juni 2015), dass die Berechnung entgangener Gewinne naturgemäß oft nur eine Näherung sein kann und vom Gericht auf Grundlage aller vorgelegten Beweise beurteilt wird.

Gemäß dem Bürgerlichen Gesetzbuch kann jedoch die Berechnung entgangener Gewinne auch an die tatsächliche Rendite gekoppelt sein, die das jeweilige Holding- oder Serviceinstitut aus Transaktionen mit der 'gestrandeten' Liquidität erzielt hat."

Warum hat Russlands Zentralbank erst jetzt Klage erhoben und nicht schon vor vier Jahren, als die Mittel eingefroren wurden? Lesnow wertet es so:

"Weil die Geschichte einen Punkt erreicht hat, an dem diese Vermögenswerte tatsächlich beschlagnahmt werden könnten, und es erheblichen Druck vonseiten europäischer Politiker gibt, eine solche Entscheidung zu legitimieren. Die Klage wurde nun als eine Art Drohung und Ankündigung von Vergeltungsmaßnahmen eingereicht."

Der Experte ist zuversichtlich, dass die Klage nach russischem Recht Bestand haben wird – doch damit wäre es noch lange nicht getan:

"Aber vor allem muss diese Entscheidung auch von internationalen Rechtsinstitutionen wie dem Internationalen Schiedsgerichtshof unterstützt werden. Und dann wird dies erhebliche wirtschaftliche und politische Verluste für den gesamten europäischen Block nach sich ziehen."

Derzeit existieren im Westen drei unterschiedliche Ansichten zum Schicksal russischer Vermögenswerte. Julia Chandoschko, CEO des europäischen Brokers Mind Money, zählt auf:

"Die erste, die Brüsseler Position, besagt, dass russische Vermögenswerte vollständig über die europäische Infrastruktur für den Wiederaufbau der Ukraine transferiert werden müssen."

Mit anderen Worten: Die EU beschlagnahmt russische Vermögenswerte von Euroclear und anderen europäischen Institutionen, eignet sie sich an und transferiert sie als Darlehen an die Ukraine.

Doch die Europäische Zentralbank, dann Euroclear selbst, wo die meisten eingefrorenen russischen Vermögenswerte lagern, sowie sieben EU-Länder vertreten die zweite Ansicht – und zwar lehnen sie dies kategorisch ab, so Chandoschko weiter:

"Die EZB ist entschieden dagegen – nicht aus politischen oder moralischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen: Jedwede 'direkte Enteignungspläne' untergraben ihrer Ansicht nach die Stabilität des Euro, erhöhen die Schuldenlast und heizen die Inflation an."

Und da ist noch mehr, erinnert Lesnow: Wenn russische Vermögenswerte an Dritte übergeben werden, untergräbt dies das Vertrauen in die EU und führt zu einem massiven Kapitalabfluss aus der Eurozone – und das zu einem Zeitpunkt, an dem die EU ohnehin eine schwierige wirtschaftliche Phase durchmacht. Zur dritten Ansichtsweise führt Chandoschko schließlich aus:

"Der dritte Standpunkt wird gemeinhin als US-amerikanischer oder 'Trumpscher' Standpunkt bezeichnet. Ihm zufolge sollten Russlands Vermögenswerte über die USA umverteilt werden, wobei ein Teil der Mittel in Projekte mit US-amerikanischer Beteiligung und ein anderer Teil in Sanierungsmaßnahmen für die Ukraine, jedoch ebenfalls unter der Kontrolle US-amerikanischer Unternehmen, fließen soll."

Anhand dieser Sichtweisen, so die Expertin, ergibt sich die Erklärung, warum Russland gerade jetzt Klage einreicht:

"Für Russland erscheint die Position der Europäischen Zentralbank am rationalsten. Daher ist die Klage gegen Euroclear im Wesentlichen ein Versuch, die Position der EZB mit zusätzlichen juristischen Argumenten zu stärken und dem wirtschaftspolitischen Ansatz mehr Gewicht zu verleihen."

Wie stehen die Chancen, dass Russlands Zentralbank diese 18 Billionen Rubel wiedererhält, falls sie vor Gericht gewinnen sollte? Russland könnte das Geld auf Kosten der Euroclear-Vermögenswerte erhalten, die in Russlands Gerichtsbarkeit befindlich sind und somit durch Russlands Gerichte beschlagnahmt werden könnten, sagt Tschernowol. Lesnow fügt dem hinzu: Eine angemessene Entschädigung könnte durch die Nutzung derjenigen Vermögenswerte von Nichtansässigen aus unfreundlichen Ländern, darunter auch europäischen Staaten, erzielt werden, die derzeit auf russischen Typ-C-Konten eingefroren sind – dies erfolgte als eine Vergeltungsmaßnahme nach der Sperrung der Vermögenswerte Russlands in der EU.

Indes ist die Vollstreckung eines solchen Gerichtsurteils außerhalb der Russischen Föderation in der Praxis durch lokale Verfahren und Beschränkungen (einschließlich Sanktionen) eingeschränkt. Daher lässt sich die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Eintreibung des gesamten Betrags verfahrenstechnisch nicht im Voraus abschätzen. Sie hängt von der Verfügbarkeit und der rechtlichen Zugriffbarkeit des Vermögens des Beklagten ab, und eine teilweise Vollstreckung ist laut Tschernowol in der Regel realistischer als eine vollständige.

Übersetzt aus dem Russischen. Erschienen am 16. Dezember 2025 bei Wsgljad.

Olga Samofalowa ist Wirtschaftsanalystin bei der Zeitung Wsgljad und schreibt zudem Kommentare für weitere Medien.

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