Europa

Nicht vollständig, aber nach wie vor aktuell: Die Nürnberger Prozesse aus russischer Sicht

Am 80. Jahrestag nach ihrem Beginn lässt sich feststellen: Die Nürnberger Prozesse haben ihre einst integrative Kraft massiv eingebüßt. Insbesondere in Russland und Deutschland sieht man ihr Zustandekommen und ihre Bedeutung für die Nachwelt komplett unterschiedlich.
Nicht vollständig, aber nach wie vor aktuell: Die Nürnberger Prozesse aus russischer SichtQuelle: Sputnik

Am 20. November jährt sich der Beginn der Nürnberger Prozesse zum 80. Mal. Damals begann das erste Verfahren des Internationalen Militärgerichtshofs gegen Hauptverantwortliche für die NS-Verbrechen. Angeklagt waren Nazi-Größen wie Hermann Göring, Julius Streicher oder Albert Speer. Nürnberg hatte als Stadt der Reichsparteitage und der Nürnberger Gesetze von 1935 im Nationalsozialismus eine besonders prominente Rolle gespielt. Außerdem wollten die US-Amerikaner das Gericht in ihrer Besatzungszone tagen lassen. Dafür bot sich das fränkische Nürnberg an, dessen Innenstadt zwar völlig zerstört war, das am Stadtrand Richtung Fürth jedoch einen nahezu intakten Justizpalast und ein Gefängnis aufwies, in dem man die Angeklagten unterbringen konnte.

Im Westen ist dies wenig bekannt, aber die Nürnberger Prozesse hatten bereits ihre Vorläufer. Schon im Dezember 1943 hatte im befreiten Charkow einer der ersten Kriegsverbrecherprozesse stattgefunden (nach Krasnodar im Juli 1943). Heute ist Charkow Nürnbergs Partnerstadt, der Prozess von Charkow findet jedoch nach wie vor auf der deutschen Seite kaum Erwähnung. Und bereits in der "Moskauer Erklärung zu den Gräueltaten" hatten sich die drei Alliierten 1943 über eine Bestrafung der im Namen Deutschlands begangenen Kriegsverbrechen geeinigt. Mit dem Londoner Statur vom August 1945 wurden dann die Einzelheiten zur Einrichtung des Internationalen Militärgerichtshofs festgelegt. Der Prozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof ging bis zum Oktober 1946 und endete mit Todesurteilen und Haftstrafen, aber auch mit Freisprüchen.

Wie wichtig der Sowjetunion das Gerichtsverfahren in Nürnberg war, zeigt sich daran, dass bedeutende sowjetische Kriegsberichterstatter wie Ilja Ehrenburg oder Boris Polewoi in die Stadt an der Pegnitz geschickt wurden. Ehrenburg nahm kein sehr positives Bild von der zerbombten Stadt mit: Die Einwohner täten so, als interessiere sie der Prozess nicht. Der Staatsanwalt traue sich nicht, der Verteidigung die Ankunft der Belastungszeugen mitzuteilen, weil "Nürnberg eine Brutstätte des Faschismus" sei. Ehrenburg fügte erklärend hinzu, dass unter den Trümmern Ratten und Werwölfe hausen würden. Auch Polowoi schreibt, dass besondere Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden mussten, weil SS-Männer entkommen seien, die die gefangenen Angeklagten befreien wollten. Zum Leben im damaligen Nürnberg konstatierte Polewoi:

"Das Leben ist schwer für die Bürger dieser einst so reichen und schönen Stadt. Im Zentrum kauern sie in Luftschutzbunkern, Hütten und notdürftig aus Kisten, Brettern und Türen errichteten Behausungen inmitten der Trümmer. Hier und da ragt ein Eisenrohr aus dem Schutt, aus dem Rauch aufsteigt. Bleibt man stehen, sieht man sofort Kinder in der Nähe – dünn, mit eingefallenen Augen, aber ordentlich gekleidet, gewaschen, die Löcher in ihrer Kleidung sorgfältig geflickt. Sie strecken nicht die Hände aus und betteln nicht. Gott bewahre! Sie stehen schweigend da. Doch ihre Augen sprechen Bände. Und wir, die wir der Kinder von Stalingrad, Charkow und Poltawa gedenken, geben nach und nach unsere Pfennige."

Heutzutage sieht man in Russland, dem Nachfolgestaat der Sowjetunion, das Ergebnis der Nürnberger Prozesse eher kritisch. Der Nationalsozialismus sei keineswegs vollständig aufgearbeitet worden und nationalsozialistische Tendenzen zeigten sich wieder in Europa. So erklärte Elena Malyschewa, die Leiterin des Nationalen Zentrums für Historische Erinnerung (NCHM) in einem Interview für die Nachrichtenagentur TASS, dass der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess etliche Versäumnisse aufgewiesen habe, die sich heute rächen würden (RT DE berichtete).

Und Außenminister Sergei Lawrow wird in den russischen Medien mit den Worten zitiert, dass in Europa eine Abkehr von den Prinzipien des Nürnberger Tribunals stattfinde, insbesondere in Deutschland, für das die Vergangenheit keine Rolle mehr spiele. Lawrow wörtlich:

"Deutschland hat einen Prozess der Entnazifizierung und der Reue durchlaufen. Leider haben wir den Eindruck, dass diese Reue nicht mehr viel bedeutet."

Dennoch würdigt Sergei Lawrow in einem Interview für den Dokumentarfilm "Nürnberg" die Leistung des Nürnberger Tribunals: Die Sowjetunion sei die treibende Kraft bei der juristischen Verfolgung der NS-Verbrechen gewesen und habe bereits 1942 eine Kommission gegründet, die Beweise sammeln sollte, um die nationalsozialistischen Täter später zur Rechenschaft ziehen zu können. Engländer und US-Amerikaner hätten dagegen zuerst gezögert, die juristische Aufarbeitung einzuleiten, weil sie befürchtet hätten, dass dann ihre anfängliche Zusammenarbeit mit dem Hitler-Regime aufs Tapet gebracht werden könnte.

Die bei den Nürnberger Prozessen formulierten Prinzipien seien noch heute bedeutsam und bildeten die Grundlage des modernen Völkerrechts. Der wichtigste Grundsatz sei dabei die Unvermeidbarkeit der Bestrafung von Kriegsverbrechen, Aggression, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Spätere völkerrechtliche Grundsätze sowie die Arbeit der Vereinten Nationen und des Internationalen Gerichtshof basierten auf den damals geschaffenen Fundamenten. Insbesondere sei wichtig, dass es seit 1945 keine Verjährung bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen mehr gebe.

Welch große Bedeutung man in Russland der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen zumisst, wird auch daran deutlich, dass derzeit in 26 Museen gleichzeitig das Ausstellungsprojekt "Die Lehren von Nürnberg" gezeigt wird, vom Amur-Gebiet bis nach Kaliningrad. Die Moskauer Ausstellung "Keine Verjährungsfrist. Nationalsozialismus und Neonazismus: Historische Parallelen" wiederum zieht einen Vergleich mit der heutigen neonazistischen Bedrohung. Am 20. und 21. November wird schließlich ein wissenschaftliches Forum zum Thema "Nürnberger Prozesse" stattfinden, ebenfalls in Moskau – sogar mit einem Nachbau des Nürnberger Gerichtssaals.

Auch in Deutschland ist der 80. Jahrestag der Nürnberger Prozesse ein großes mediales Thema. Im GEZ-Fernsehen werden Spielfilme sowie Dokumentarfilme gezeigt. Vieles ist jedoch konträr zur russischen Auffassung: In Zeitungsartikeln und Kommentaren schreibt man vielmehr den US-Amerikanern das Verdienst zu, die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Gang gesetzt zu haben, und möchte Russlands Präsident Putin als Angeklagten vor einem neuen Nürnberger Tribunal sehen. Auch wenn man derzeit seiner nicht habhaft werden könne, schränke der Internationale Haftbefehl doch seine Bewegungsfreiheit ein. Somit scheint das Jubiläum Ost und West eher zu spalten als zu einen. Eine weitere Parallele zu den Nachkriegsjahren, als der Kalte Krieg begann.

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