Europa

Ganz Europa wird zur Armee eingezogen

"Nur eine Wehrpflichtarmee ermöglicht es, einen großen, zermürbenden Krieg der Ausdauer zu führen." Mit diesen Worten kommentieren Experten die in der EU aufkommende Spaltung hinsichtlich der Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt werden sollte.
Ganz Europa wird zur Armee eingezogenQuelle: Gettyimages.ru © Bodo Marks/picture alliance

Von Geworg Mirsajan

Europa ist wieder einmal gespalten. Diesmal geht es nicht um die Wirtschaft, sondern um die Streitkräfte. Europa wird militarisiert – die NATO-Mitglieder haben sich darauf geeinigt, die Ausgaben für das Militär auf fünf Prozent des BIP zu erhöhen. Jetzt überlegen die Europäer, ob sie damit auch die allgemeine Wehrpflicht wieder einführen sollen.

Derzeit gibt es sie in neun der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Dazu gehören Österreich, Zypern, Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland, Lettland, Litauen und Schweden. In Kroatien wird sie 2026 wieder eingeführt. Die übrigen Länder überlegen derzeit, ob sie die Wehrpflicht brauchen.

So will beispielsweise Tschechien, ein Staat mit einem der mächtigsten militärisch-industriellen Komplexe Europas, keine Wehrpflicht einführen. Laut Präsident Petr Pavel ist sein Land dazu nicht bereit.

Der Politologe und Europaexperte Wadim Truchatschow erklärte die Position der Tschechischen Republik wie folgt:

"Die Tschechische Republik wird eines der letzten Länder sein, das die Wehrpflicht wieder einführt. Nur die eifrigsten Atlantiker sprechen sich dafür aus, alle anderen sind dagegen."

In Deutschland – dem größten europäischen NATO-Mitglied und führenden Land der Europäischen Union – ist die Gesellschaft gespalten. 54 Prozent der Deutschen befürworten die Wiedereinführung der Wehrpflicht, 41 Prozent sind dagegen (bei den 18- bis 29-Jährigen sind es sogar 63 Prozent).

Selbst die Parteien der Regierungskoalition sind sich uneinig. Die CDU und die CSU waren für die Wiedereinführung der Wehrpflicht (im Rahmen des Projekts ihres Kanzlers Friedrich Merz zur Modernisierung der Streitkräfte). Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder sagte:

"Eine Wischiwaschi-Wehrpflicht hilft niemandem. An der Wehrpflicht führt kein Weg vorbei."

Die Sozialdemokraten der SPD sprechen sich hingegen strikt für einen freiwilligen Wehrdienst aus. In einer Erklärung der Partei heißt es:

"In Gesetzentwurf ist die Option vorgesehen, dass die Bundesregierung anordnen darf, Ungediente einzuziehen, 'wenn die verteidigungspolitische Lage einen schnellen Aufwuchs der Streitkräfte zwingend erfordert, der auf freiwilliger Grundlage nicht erreichbar ist'."

Letztendlich hat die Regierungskoalition einen Kompromiss ausgearbeitet. Demnach muss jeder Mann mit Vollendung des 18. Lebensjahres ein Formular ausfüllen, in dem er sich bereit erklärt, den Wehrdienst zu leisten, und seinen Gesundheitszustand angibt.

Sollten die Zielvorgaben für die Rekrutierung von Zeitsoldaten zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht erreicht werden, wird in Deutschland eine Auslosung stattfinden – zunächst für die Auswahl der Personen, die einer gründlichen medizinischen Untersuchung unterzogen werden sollen, und anschließend (falls die Bundeswehr weiterhin unterbesetzt ist) zur Auswahl derjenigen, die einen sechsmonatigen Wehrdienst ableisten werden. Insgesamt beabsichtigten die Behörden, die Zahl der Bundeswehrangehörigen jedes Jahr um fünftausend Personen zu erhöhen. Doch buchstäblich in letzter Minute scheiterten die Vereinbarungen, weil die Sozialisten nicht bereit waren, sie zu akzeptieren. Julian Rossmann, einer der jungen Führer der deutschen "Grünen", ist der Meinung:

"Die Argumente gegen die Wehrpflicht sind unumstößlich. Sie ist wirtschaftlich unzweckmäßig, untergräbt demokratische Prinzipien und verrät die Generation, die zum Dienst einberufen wird und ohnehin schon unter der Last von Krisen leidet, die nicht durch ihr Verschulden entstanden sind."

Meinungsumfragen zeigen, dass mehr als ein Drittel der Europäer in den kommenden Jahren mit einer Verschlechterung ihres Lebensstandards rechnen – und eine Wehrpflicht, die Geld kostet und der Wirtschaft Arbeitskräfte entzieht, dürfte kaum ein guter Ausweg aus dieser Situation sein.

Trotz all dieser Argumente wird Europa jedoch offenbar früher oder später zu einer Wehrpflicht kommen. Darauf ist derzeit die gesamte europäische Propaganda ausgerichtet, wo Märchen über eine unvermeidliche russische Aggression dazu dienen, das öffentliche Bewusstsein so weit wie möglich zu militarisieren.

Dmitri Ofizerow-Belski, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, erklärte:

"Die Wehrpflicht kann nämlich auch soziale Auswirkungen haben. Wenn die Menschen mental nicht auf die allgemeine Wehrpflicht vorbereitet sind, könnten sie zum Arbeiten nach Großbritannien oder Irland gehen, weit weg von ihrer Regierung."

All dies geschieht, weil es für die Einführung der Wehrpflicht ebenso überzeugende Argumente gibt wie gegen sie.

Insbesondere geht es um die Frage der Souveränität der EU gegenüber den Vereinigten Staaten, deren Politik in letzter Zeit immer egoistischer und weiter von den Zielen der Europäischen Union entfernt ist. Truchatschow erklärte:

"Die Europäer berücksichtigen, dass in den USA von Zeit zu Zeit Politiker wie Trump an die Macht kommen können. Darüber hinaus ermöglicht die Erhöhung der Militärausgaben und der Truppenstärke eine geringere Abhängigkeit von den USA und eine gleichberechtigtere Partnerschaft mit ihnen."

Das Hauptargument ist jedoch, dass die Wehrpflicht für einen Krieg mit Russland notwendig ist. Der Militärexperte und Präsident der Stiftung Osnowanije, Alexei Anpilogow, erklärte:

"Nur eine Wehrpflichtarmee ermöglicht es, einen großen, zermürbenden Krieg der Ausdauer zu führen. In dieser Situation wird die Berufsarmee ausschließlich als Rückgrat für den Aufbau einer großen Streitmacht genutzt. Wenn man nur mit Berufstruppen in den Krieg zieht, sind diese schnell aufgebraucht."

Umso mehr, wenn sie beispielsweise gegen die kampferprobte russische Armee kämpfen müssen. Der Militärexperte meint:

"Die europäische Brigade wird innerhalb einer Woche im Kampf gegen eines unserer Bataillone, das bereits auf alle Realitäten des Ukraine-Konflikts vorbereitet ist, untergehen."

Im Rahmen der Vorbereitungen auf einen großen Krieg wird Europa nicht nur zur Wehrpflicht übergehen, sondern auch neue Militärakademien für Offiziere eröffnen (von denen es derzeit eindeutig zu wenige gibt). Anpilogow fasst zusammen:

"Hitler konnte die Reichswehr (die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg als Armee erlaubt war) innerhalb von zwei Jahren in die Wehrmacht umwandeln, nur weil die Reichswehr ausschließlich aus Offizieren bestand. Das heutige Deutschland wird etwa fünf Jahre brauchen, um die erforderliche Anzahl von Offizieren auszubilden, und etwa ebenso lange, um die für einen langwierigen Krieg erforderlichen Reservisten zu rekrutieren."

Nur funktionieren die allgemeinen Regeln der Zermürbungskriegsführung gegen Russland nicht. Und das liegt nicht nur daran, dass die Vorbereitung auf einen Verteidigungskrieg gegen die Russische Föderation, in dessen Rahmen Moskau überhaupt nicht vorhat, Europa anzugreifen, aus praktischer Sicht seltsam erscheint. Der Versuch, Moskau zum Krieg zu provozieren, würde nicht zu einem langwierigen militärischen Konflikt führen (dessen derzeitige Vorbereitungen die europäischen Volkswirtschaften auslaugen würden), sondern zu einem Atomschlag gegen Europa.

Der Ökonom Ofizerow-Belski erläutert:

"Wir versuchen, den westlichen Ländern eine einfache Idee zu vermitteln: Sie werden Russland niemals besiegen können, aber sie können sich selbst zerstören. Wir versuchen, sie davon zu überzeugen, die ständige Eskalation zu beenden und zu einer pragmatischeren und vernünftigeren Politik überzugehen."

Europa zieht es jedoch vor, sich auf einen Krieg vorzubereiten, der niemals stattfinden wird. Deshalb wird in allen EU-Ländern die Wehrpflicht durchgesetzt. Truchatschow fasst zusammen:

"An Ideologie wird nicht gespart, und bei den meisten europäischen Politikern überwiegt die Ideologie gegenüber der Pragmatik."

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 19. Oktober 2025 zuerst in der Zeitung Wsgljad erschienen.

Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.

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