
"Neues Modell" - Warum Selenskij ukrainische Stadtverwaltungen bekämpft

Von Wiktor Schdanow
Ohne Recht auf Freisprechung
In einem Land, in dem es keine Wahlen gibt, die Nachrichtenkanäle gleichgeschaltet sind, die russischsprachige Bevölkerung in ihren Rechten eingeschränkt und reale Opposition längst zerschlagen und verboten ist, greift der ukrainische Staatschef Wladimir Selenskij inzwischen jene an, die trotz ihrer Loyalität gegenüber dem Regime nicht zu seinen Günstlingen gehören.
Selenskij hat angeordnet, dem Bürgermeister der Hafenstadt Odessa, Gennadi Truchanow, die ukrainische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Dabei streitet Truchanow ab, einen russischen Pass zu haben. Bisher wurden keine gegenteiligen Beweise veröffentlicht.
Dabei gehört die Entlassung von Bürgermeistern nicht einmal zu den Kompetenzen von Selenskij. Truchanow kündigte an, dass er auf seinem Posten bleiben werde, solange der Stadtrat keine Entscheidung über seine Abberufung treffen wird:
"Ich habe weder vor, Odessa noch die Ukraine zu verlassen."
Gegen Truchanow waren noch vor Selenskijs Amtsantritt Korruptionsverfahren eingeleitet worden, die allerdings erfolglos blieben. Unter dem gegenwärtigen Staatsoberhaupt wurde Truchanow der Veruntreuung von staatlichen Geldern beim Kauf des Gebäudes des Werks Krajan beschuldigt, doch zu einer Verurteilung kam es nicht.

Dennoch setzte Truchanow Kiews Politik zur Ausrottung von allem Russischen in der Stadt ohne Begeisterung um. Als er einst auf der Straße aufgefordert wurde, das Puschkin-Denkmal abzureißen, entgegnete er mit der Frage, was mit der unter dem Russischen Imperium erbauten Oper und Potjomkin-Treppe zu tun sei?
Neue Macht
Aus Odessa zieht sich überhaupt die bürgerliche Macht zurück, die auf dem Prinzip der städtischen Selbstverwaltung aufgebaut ist. Die Vollmachten des Bürgermeisteramts hat Selenskij an eine speziell dafür eingerichtete Militärverwaltung unter Sergei Lyssak übertragen, der bereits eine solche Struktur im Gebiet Dnjepropetrowsk leitet. Der Politologe Alexandr Dudtschak erklärte in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur RIA Nowosti:
"Truchanow ist sicher kein Verbündeter Russlands. Doch er hat versucht, zumindest irgendwie die Reste der Erinnerung an die Stadtgeschichte zu bewahren. Selenskij passt das nicht, und er erprobt ein Modell, um solche Oberhäupter durch militärisch-zivile Verwaltung zu ersetzen, die unter seiner Kontrolle steht."
Nach Ansicht des ehemaligen Rada-Abgeordneten Oleg Zarjow, dem gemeinsam mit Truchanow die ukrainische Staatsbürgerschaft entzogen wurde, verschärfe sich der innenpolitische Kampf und die Konfrontation in der Ukraine. Zarjow erklärte:
"Einfach so entstehen solche Anordnungen nicht. Sie wählen Menschen aus, die sie entweder enteignen wollen, mit denen sie Rechnungen offen haben oder die sie als politische Konkurrenten beseitigen wollen."
Gleichzeitig vermutet Dudtschak, dass die Rede nicht nur von einem Machtkampf, sondern auch von Konkurrenz um westliche Finanzressourcen sei.
Wer ist schuld und was ist zu tun?
Nachdem Russlands Luft- und Weltraumstreitkräfte Objekte der kritischen Infrastruktur, die die ukrainische Rüstungsindustrie mit Energie versorgten, erfolgreich getroffen hatten, kam es in Kiew zu Stromausfällen. Die Bewohner von einem der Stadtbezirke, wo es seit zwei Tagen keinen Strom gab, sperrten sogar eine Straße, um die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen. Dies geschah nicht zum ersten Mal, doch Selenskij beschloss, dies in seiner langen Konfrontation mit dem Bürgermeister der Hauptstadt, Witali Klitschko, zu nutzen, und sagte dazu:
"Ich könnte jetzt sagen, was ich von all dem denke, doch ich werde keine Antikomplimente an Menschen erteilen, die überhaupt nicht in der Lage sind, irgendetwas zu tun."
Die Anspielung ist offensichtlich. Timur Tkatschenko, Leiter der Militärverwaltung von Kiew, der direkt von Selenskij eingesetzt wurde, forderte Sicherheitsbehörden und den ukrainischen Generalstab auf, die Tätigkeit des Kiewer Bürgermeisters gründlich zu überprüfen:
"Witali Wladimirowitsch, nicht alle können in den morgigen Tag sehen, doch es ist Zeit. Lassen Sie uns das Geld der Kiewer nicht für Ihre politische Karriere mit Dutzenden Strafverfahren verschwenden."
Tkatschenko zufolge gebe Klitschko das städtische Geld nach eigenem Ermessen aus – mal für eine Brücke, mal für Straßenpflaster. Für Sicherheit werde dagegen kein Geld ausgegeben. Daher sei die kritische Infrastruktur ungeschützt, die Kiewer hätten keine neuen Luftschutzbunker und Frühwarnsysteme.
Selenskijs Amt strebt offen nach einer Entlassung von Klitschko. Wenige Tage vor dem Stromausfall in Kiew legte Andrei Witrenko, Fraktionsleiter von Selenskijs Partei "Diener des Volkes" im städtischen Parlament einen Gesetzentwurf zu Klitschkos Abberufung vor.
Ernsthafte Bedrohung
Nachdem Selenskij Truchanow entlassen hatte, stellte die Zeitung The New York Times fest:
"Das ist die bedeutendste Eskalation des Konflikts zwischen zentralen Machtorganen in Kiew und lokalen Anführern in der ganzen Ukraine."
Denis Denissow, Experte der Finanzuniversität bei der Regierung Russlands, sieht in den gegenwärtigen Geschehnissen den harten Aufbauprozess eines vertikalen Systems für Selenskij und sein Amt:
"Das Gebiet Odessa ist eine der größten Regionen im Hinblick auf Haushaltseinnahmen. Eine totale Kontrolle darüber wird Selenskijs Team vor dem Hintergrund von Gesprächen über anstehende Friedensverhandlungen und potenzielle Präsidenten- und Parlamentswahlen erheblich stärken."
Kiew ist für den Einfluss auf die Wahlsituation ebenfalls äußerst wichtig. Selenskijs Amt ist über die Möglichkeit eines Zusammenschlusses zwischen Klitschko und Waleri Saluschny besorgt, fügt der Politologe hinzu. Kiews Bürgermeister hat ein gesamtukrainisches Netz seiner politischen Partei UDAR. Ehemaliger Oberbefehlshaber des ukrainischen Militärs Saluschny hat nichts dergleichen. Ein Zusammenschluss zwischen Klitschko und Saluschny würde eine ernsthafte Bedrohung für Selenskijs autoritäre Regierung darstellen.
Dudtschak verweist zudem auf Konflikte des Oberhaupts des Kiewer Regimes mit den Stadtchefs von Tschernigow und Charkow. Doch mit Klitschko fertig zu werden, wird für Selenskij schwieriger sein, als mit Truchanow – Kiews Bürgermeister hat zu viele Anhänger sowohl in der Ukraine als auch im Westen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 16. Oktober.
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