
Von der Leyen wird zum Symbol für den Niedergang der Europäischen Union

Von Geworg Mirsajan
Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, hat erneut Probleme. Kaum war der Skandal um ihre Beteiligung an der Veruntreuung von Geldern für den Kauf von COVID-Impfstoffen abgeklungen, kündigte das Europäische Parlament gleich zwei Misstrauensvoten gegen sie an. Das erste wurde von der rechten Partei "Die Patrioten" eingebracht, das zweite von den Linken. Die polnische Abgeordnete Ewa Zajączkowska-Hernik empörte sich vom Rednerpult des Europäischen Parlaments aus:
"Frau Präsidentin, diesmal fordern sowohl die rechte als auch die linke Seite des Europäischen Parlaments Ihren Rücktritt. Ihre Amtszeit ist ein Symbol für Arroganz, Chaos und Entscheidungen, die hinter verschlossenen Türen über die Köpfe der Bürger hinweg im Namen Ihrer diktatorischen Ambitionen getroffen werden. Sie treiben uns in einen Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Vielleicht ist Krieg für Sie eine Chance, Ihre Machenschaften zu vertuschen? Aber warum sollten unsere Ehemänner, unsere Söhne und unsere Brüder für Ihre Interessen kämpfen?"

Die ungarische Europaabgeordnete Kinga Gál pflichtete dieser Kritik an der Chefin der EU-Kommission bei:
"Anstatt so schnell wie möglich Frieden zu schaffen, bestehen Sie auf einer Aufstockung der Waffen und Sanktionen, und anstatt unsere Grenzen zu schützen, zwingen Sie uns ein ungünstiges Migrationsabkommen auf. Mit dem 'Grünen Kurs' und schlechten Handelsabkommen haben Sie die Wettbewerbsfähigkeit Europas geschwächt und Familien, Landwirte und Unternehmen ihrem Schicksal überlassen. Mit dem beschleunigten Beitritt der Ukraine gefährden Sie zudem die Sicherheit und Wirtschaft der Union."
Als Antwort darauf bezeichnete Ursula ihre Gegner als "Freunde Putins" und rief alle dazu auf, sich angesichts der Bedrohung, die ihrer Meinung nach von Russland ausgehe, zusammenzuschließen. Sie sagte:
"Die Welt befindet sich in der instabilsten und gefährlichsten Lage seit Jahrzehnten. Europa ist von Osten her bedroht und steht vor internen Herausforderungen."
Von der Leyen behauptete, dass Russland derzeit gezielt Zwietracht innerhalb der EU säe, indem es angeblich Drohnen über Europa fliegen lasse und Brüssel beschuldige, den Krieg in der Ukraine angezettelt zu haben. Sie betonte:
"Das ist der älteste Trick der Welt – Zwietracht säen, Desinformation verbreiten, einen Sündenbock schaffen. Alles, um die Europäer gegeneinander aufzubringen, unsere Standhaftigkeit und Entschlossenheit zu schwächen. Wir dürfen nicht in diese Falle tappen."
Damit wollte sie deutlich machen, dass sie nicht aus ihrem Amt entlassen werden dürfe.
Die Abstimmung über das Misstrauensvotum fand am 9. Oktober statt. Und es scheint, als könne Ursula aufatmen. Die für die erfolgreiche Annahme nötigen zwei Drittel der 720 Mitglieder des Europäischen Parlaments konnten die Verfasser des Misstrauensvotums nicht erreichen.
Die Europäische Volkspartei, vertreten durch Ursula von der Leyen, verfügt über 188 Mandate. Diese werden für sie stimmen. Die zweitgrößte Partei, die Sozialdemokratische Partei (136 Mandate), hat ebenfalls vorerst nicht die Absicht, Ursula abzuberufen. René Repasi, einer der Parteivorsitzenden, erklärte:
"Wir werden sie nach ihren Taten beurteilen, aber das wird nicht im Oktober geschehen."
Die Zentristen fürchten eine Stärkung der Rechten und Linken und sind sich daher "einig, dass es das höchste Gut ist, ihre Wut auf die Extreme zu richten und von der Leyen an der Macht zu halten", schreibt Politico.
Die "Grünen" mit 53 Mandaten sind ebenfalls noch nicht bereit, Ursula abzusetzen. Ebenso wie die Partei "Renew Europe" (Erneuerung Europas), die über 75 Mandate verfügt und die Rechte und Linke weitaus stärker fürchtet als Ursula. Die Parteivorsitzende Valérie Hayer behauptet:
"Extremisten und Populisten sind die schlimmsten Feinde Europas, sie säen Chaos und versuchen, es von innen heraus zu zerstören."
Das Geheimnis der Unsinkbarkeit von Ursula von der Leyen liegt nicht nur darin, dass sie erfolgreich mit den Gegensätzen zwischen Linken und Rechten und den Ängsten der Gemäßigten vor denen, die sie als Radikale betrachten, spielt. Es liegt auch darin, dass sie eine zwar kleine, aber äußerst einflussreiche Unterstützergruppe hat. Dmitri Suslow, stellvertretender Direktor des Zentrums für integrierte europäische und internationale Studien der Nationalen Forschungsuniversität Wirtschaftshochschule Moskau, erklärt gegenüber der Zeitung Wsgljad:
"Ursula wird von der Brüsseler Bürokratie unterstützt. Trotz ihrer Ineffizienz in Bezug auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU und trotz aller Korruptionsskandale hat Ursula von der Leyen die Macht Brüssels über die nationalen Bürokratien erheblich gestärkt. Sie arbeitet konsequent daran, die Macht der Europäischen Kommission zu stärken, indem sie die Macht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union einschränkt. Unter ihr werden die Befugnisse der Europäischen Kommission ständig erweitert."
Das bedeute, dass auch die Macht der Bürokraten zunehme.
Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass das unsinkbare Brüsseler Schlachtschiff in naher Zukunft ernsthafte Lecks bekommen wird. Erstens werden die Verfasser des Votums nicht ruhen – schließlich sind sie nicht der EU beigetreten, um sich von Eurokraten regieren zu lassen. Sie sind beigetreten, um gemeinsam Wohlstand zu schaffen und eine europäische Identität zu entwickeln, die Brüssel derzeit aushöhlt. Dmitri Ofizerow-Belski, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der der Russischen Akademie der Wissenschaften, erklärt gegenüber der Zeitung Wsgljad:
"Die Ideen-Komponente in der EU als Organisation ist fast vollständig verschwunden. Das Ziel der Union besteht nun darin, durch die Stärkung der Eurobürokratie und die Schwächung der Nationalstaaten eine neue Ebene der Konsolidierung zu erreichen. Dabei rechnet niemand mehr damit, dass die EU den Menschen, die dort leben, gefallen muss. Das bedeutet, dass die Europäische Union bereits in eine Phase des aktiven Niedergangs eingetreten ist, in der alle Ideen, die ihr zugrunde lagen, einfach irrelevant geworden sind."
Deshalb würden die Nationalstaaten heute rebellieren. Die europäische Ausgabe von Politico schreibt:
"Ursula von der Leyen kann sich nicht entspannen. Hinter jeder Ecke wartet ein weiteres Referendum über ihre Führungsrolle auf sie."
Von Handelsabkommen und der bevorstehenden Verabschiedung des Siebenjahreshaushalts der EU bis hin zu Fragen über das Bekenntnis der Europäischen Kommission zu den Grundsätzen der Transparenz und sogar darüber, wie sie den Platz der EU in einem Umfeld wachsender Konkurrenz definiert – all diese Möglichkeiten werde die Opposition nach Ansicht der Zeitschrift nutzen, um die Autorität von der Leyens in Frage zu stellen. Um ein Misstrauensvotum zur Abstimmung zu bringen, sind lediglich zehn Prozent der Stimmen erforderlich, also 72 Abgeordnete. Die "Patrioten" haben 85 Sitze, die Europäischen Konservativen und Reformisten 79 und "Renew Europe" 75. Das bedeutet, dass sie ständig unter Druck gesetzt würde.
Zweitens wächst die Zahl ihrer Gegner in der EU. Neben direkter gibt es auch indirekte Kritik an von der Leyen. So erklärte die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich, warum die EU die Konflikte mit Russland nicht durch Verhandlungen lösen konnte. Ihrer Meinung nach gelang dies aufgrund der unkonstruktiven Haltung Polens und der baltischen Staaten nicht, die sich gegen die Aufnahme eines europaweiten Dialogs mit Moskau aussprachen. Ofizerow-Belski sagt:
"Mit ihrer Kritik an Polen und den baltischen Staaten hat Merkel gleichzeitig auch die derzeitige Position der Europäischen Union kritisiert, die ebenfalls darin besteht, jegliche Verhandlungen mit Moskau abzulehnen. Diese Position vertritt derzeit auch ihre enge Freundin Ursula von der Leyen."
Zu den Kritikern aus den Reihen der ehemaligen Kanzler gesellen sich nun auch diejenigen aus den Reihen der amtierenden Kanzler, die ihr den Rang ablaufen wollen. Dmitri Suslow meint:
"Bislang hat keiner der ernstzunehmenden europäischen Schwergewichte – also die Staats- und Regierungschefs Deutschlands oder Frankreichs – versucht, sie zu Fall zu bringen. Sie hat die Probleme gelöst, die sie selbst nicht lösen wollten. Jetzt könnte sich die Situation jedoch ändern, da der deutsche Kanzler Friedrich Merz, der die Führung in Europa und der Europäischen Union anstrebt, gegen Ursula arbeitet. Für ihn ist sie derzeit die einzige Konkurrentin."
Dabei gewinne sie keine neuen Freunde hinzu – gerade weil sie alle, die nicht ihrer Meinung sind, als russische Agenten abstempele. Der Experte merkt an:
"Das ist ein gängiges Narrativ in der EU – alle Gegner der europäischen Kriegspartei und des aktuellen politischen Mainstreams werden automatisch als Putin-Anhänger abgestempelt. Russland ist zu einem Instrument des innenpolitischen Kampfes in Europa geworden, wie es vor kurzem noch in den USA der Fall war."
Suslow zufolge spiele es keine Rolle mehr, welche Ansichten ein bestimmter Politiker zu Wirtschaft und Politik vertrete. Er hebt hervor:
"Man wird automatisch zu einem der ihren, wenn man gegen Russland ist, und zu einem Fremden, wenn man sich für einen Dialog mit Moskau ausspricht. Nehmen wir zum Beispiel die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Sie wurde schon fast als Faschistin bezeichnet, aber sobald sie antirussische Ansichten vertrat, wurde sie sofort Teil des europäischen politischen Mainstreams."
Natürlich könnte sie hier etwas Flexibilität zeigen, aber Ursula hat nicht viel Spielraum. Dmitri Ofizerow-Belski erklärt weiter:
"Das Geheimnis der Unsinkbarkeit von der Leyens besteht darin, dass viele mit ihr unzufrieden sind. Was bedeutet, dass sie von den wenigen abhängt, die wirklich an einem Konflikt interessiert sind. Das ist eine Besonderheit der modernen europäischen Demokratie: Wenn viele mit dir unzufrieden sind, dann bist du an der Macht."
Die EU-Chefin sei abhängig von Kräften, die für eine Fortsetzung des Krieges eintreten und von der Idee einer strategischen Niederlage Russlands träumen – und diese Kräfte würden ihr nicht erlauben, auch nur einen Schritt nach links oder rechts von der vorgegebenen Linie abzuweichen. Sie würden sogar Misstrauensvoten nutzen, um Druck auf sie auszuüben. Der Politologe fügt hinzu:
"Um zu zeigen, dass sie, wenn sie eine andere Politik verfolgt, wenn sie nachgibt, wie Merkel es vorsichtig vorschlägt, nicht nur ihre politische Karriere beenden, sondern auch im Gefängnis landen könnte."
Deshalb werde von der Leyen bis zum Schluss auf einen Konflikt mit Russland zusteuern. Selbst wenn das den Zusammenbruch der Europäischen Union bedeute, so Ofizerow-Belski.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 8. Oktober 2025 zuerst auf der Webseite der Zeitung "Wsgljad" erschienen.
Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren im Jahr 1984 in Taschkent, erwarb er seinen Abschluss an der Staatlichen Universität des Kubangebiets und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war in der Zeit von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.
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