
Wie ein Sender Gleiwitz in Zeitlupe

Von Dagmar Henn
Herr Applebaum, auch bekannt als Radosław Sikorski, polnischer Außenminister, äußerte sich natürlich besonders vehement in der Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats zum angeblichen russischen Eindringen in den estnischen Luftraum am Montag: "Wenn eine weitere Rakete oder ein weiteres Flugzeug ohne Erlaubnis, absichtlich oder versehentlich, in unseren Raum eindringt und abgeschossen wird und die Trümmer auf NATO-Gebiet fallen, kommen sie nicht hierher und weinen sich aus darüber."
Der deutsche Außenminister Johann Wadephul reagierte auf diese Ankündigung, russische Flugzeuge abzuschießen, mit Verständnis: "Jedes souveräne Land verteidigt seinen Luftraum. Polen macht es in der Art und Weise, wie es das für richtig hält", und klassifizierte das angebliche Durchfliegen estnischen Gebiets als "rücksichtslose Provokation".

Dabei überrascht es natürlich nicht, wenn die Geschichte mit dem estnischen Luftraum so haltbar ist wie die vermeintlich russischen, von Klebeband zusammengehaltenen, Drohnen, die rückwärts auf polnischen Kaninchenställen landeten. Denn das mit dem estnischen Luftraum ist so ein Ding – in Wirklichkeit muss man, um eine Verletzung zu sehen, um eine kleine, unbewohnte Insel in der Ostsee namens Vaindloo einen Kreis von zwölf Seemeilen ziehen, während nur drei üblich sind. Das Problem: Estland beansprucht einseitig ebendiese Ausweitung, die gleichzeitig dazu führen würde, dass sich der estnische Luftraum mit dem gegenüberliegenden finnischen berührt, ohne noch einen Korridor zu lassen, durch den russische Flugzeuge nach Kaliningrad fliegen könnten.
Was selbstverständlich nicht nur ein paar MiGs beträfe, sondern auch den gesamten zivilen Flugverkehr von Russland nach Kaliningrad, da die EU-Sanktionen schließlich russischen Maschinen das Überfliegen von EU-Gebiet untersagen und es sonst keinen anderen Weg gibt, die Enklave anzufliegen. Faktisch wäre das eine Luftblockade gegen Kaliningrad. Das wiederum wäre schon ohne den Abschuss eines russischen Flugzeugs eine Kriegshandlung.
Und nur zur Erinnerung: Im Umgang mit gegnerischen Flugzeugen existiert eine ganze Bandbreite möglicher Reaktionen unterhalb von "Abschießen". Die reicht vom Aufsteigen eigener Flieger über deren Annäherung und eine Eskortierung aus dem Luftraum bis zur Erfassung durch die Luftabwehr, und das wurde während des Kalten Kriegs alles auch regelmäßig praktiziert, weil eben weder das Einfliegen in einen fremden Luftraum noch das Abdrängen einer fremden Maschine als Kriegshandlung gilt. Anders sieht das aus, wenn das eindringende Flugzeug ein Ziel angreift oder aber abgeschossen wird.
Klar, alles völkerrechtliches Pillepalle, und Russenfresser Sikorski weiß sowieso, wohin er will. Ein Ziel, das er erbarmungslos verfolgt, wie er vor Jahren bewies, als er die Zerstörung der für den vermeintlichen Verbündeten Deutschland lebenswichtigen Nord-Stream-Pipelines mit einem "Danke, USA" quittierte. Seit die Clique seiner US-Neocon-Gemahlin Anne Applebaum (die man in Deutschland gern mit Preisen überhäuft) nicht mehr die volle Kontrolle über die US-Außenpolitik hat, ist Sikorski eifrig damit beschäftigt, weitere Gründe für eine Eskalation zwischen der NATO und Russland zu finden.
Aber natürlich vorzugsweise, ohne das eigene Fell dabei zu Markte zu tragen. Ein Fototermin mit ein paar Täuschkörper-Drohnen, ob sie nun in der Ukraine eingesammelt und von dort nach Polen gesteuert oder einfach dekorativ hingelegt wurden (die Kaninchenstalldrohne spricht für Letzteres), das ist auf jeden Fall ein Beitrag, den Kessel am Sieden zu halten; den etwas riskanteren Teil, womöglich eine Konfrontation mit der russischen Luftwaffe zu riskieren, überlässt auch Sikorski gern den Esten, deren ganzer Daseinszweck ohnehin der eines Stolperdrahts ist.
Vaindloo ist eine von zwei estnischen Inseln, die nahe genug an Finnland liegen, um mit einer übermäßigen Ausdehnung des Hoheitsgebiets eine Blockade zu erreichen. Die andere, Tagaküla, ist bedeutend größer, liegt sehr nahe bei Tallinn und ist außerdem bewohnt. Das Spielchen, das sich hinter dem estnischen Anspruch verbirgt, ist gewissermaßen die Umkehr dessen, was die NATO noch im vergangenen Jahr Russland unterstellt hatte mit der schwedischen Behauptung, Russland wolle Gotland angreifen, um die Ostsee zu kontrollieren.
Die nächste Runde "russische Schattenflotte" ist auch schon angesetzt – spätestens, wenn die EU-Außenminister dem nächsten, dem 19. Sanktionspaket zugestimmt haben, wird es neue Geschichten über die angeblich so gefährlichen Tanker geben, die russisches Öl transportieren, von dem sich die EU dann noch schneller entwöhnen will. Mit der neuen Liste werden sie es geschafft haben, ganze 17 Prozent der weltweiten Tankerflotte mit dieser Bezeichnung zu belegen, die außerhalb der EU und Großbritanniens niemanden interessiert.
Die Bereitschaft der Bundesregierung, sich auch an die Seite Sikorskis zu stellen, ist wirklich beeindruckend. "Alle Länder der NATO haben unsere volle Solidarität", erklärte Wadephul, und zum Glück fragte ihn niemand, wie das denn mit "Danke, USA" zu verbinden sei. Schließlich kann keiner behaupten, die Sprengung eines derart wichtigen Objekts der Energieversorgung sei weniger schlimm als ein folgenloses Eindringen in den Luftraum, und Sikorskis Drohgebärde wirft irgendwie durchaus die Frage auf, wie denn da die Konsequenzen hätten aussehen müssen. Oder wie auch Herr Applebaum persönlich zu sehen ist, angesichts seiner Begeisterung über den Schlag, der damit der deutschen Volkswirtschaft versetzt wurde.
Dessen gravierende Folgen inzwischen nicht mehr von der Hand zu weisen sind. Klar, damit verschiebt sich auch das Verhältnis in der schwierigen Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen. Das BIP pro Kopf ist in Deutschland immer noch das zweieinhalbfache des polnischen, die Bevölkerung Polens macht weniger als die Hälfte der deutschen aus, aber die Armee hat 40.000 aktive Soldaten mehr als die Bundeswehr und doppelt so viele Reservisten (zumindest theoretisch; praktisch müsste die Bundeswehr dafür erst die Daten der ehemaligen Wehrpflichtigen wiederfinden). Interessanterweise ist die Armutsquote im volkswirtschaftlich ärmeren Polen niedriger als in Deutschland.
Der industrielle Niedergang Deutschlands wird in Polen vor allem als Chance gesehen, Industrie anzuziehen, die das Nachbarland wegen der hohen Energiepreise verlässt. Da dort niemand auf die Idee einer "Energiewende" kam, ist das Land als Ausweichoption durchaus attraktiv. Polens Industriestrompreis lag 2024 laut Eurostat mit 0,1271 deutlich unter dem deutschen mit 0,1976 Euro/Kilowattstunde, weit unter dem ungarischen mit 0,205 und sogar unter dem Tschechiens, der Slowakei und Rumäniens. Wenn Sikorski also die Zerstörung von Nord Stream bejubelte, könnte sich dahinter auch der polnische Wunsch verbergen, endlich den doppelt so großen Nachbarn einzuholen.
Abgesehen davon, dass eine deutsche Regierung, die die Interessen des eigenen Landes im Blick hat, diese Lage nie geschaffen hätte, würde sie auf diese Ambitionen zumindest mit Vorsicht reagieren, statt eifrig und pauschal die "volle Solidarität" zuzusichern. Ganz zu schweigen davon, sich von einem baltischen Zwergstaat, der außer theoretisch 1,3 Millionen Einwohnern auf einer etwas kleineren Fläche als Niedersachsen und einer kontinuierlich negativen Handels- und Zahlungsbilanz wenig zu bieten hat, an der Nase herumführen zu lassen. Wobei – Estland gehört auch zu den Ländern, in denen Deutschland einen Fuß in der Tür hat, über die lutherische Kirche, und es sind die vier Milliarden Euro, die Estland über die EU vor allem aus Deutschland erhält, die den Laden dort am Laufen halten (nebenbei, auch Polen ist noch Nettoempfänger aus dem EU-Haushalt, so viel zum Beißen fütternder Hände).
Nun mag man ja die Freundlichkeit Sikorski gegenüber damit begründen, dass er eben doch mehr als Herr Applebaum gesehen wird denn als Vertreter Polens, aber bei den Esten müsste es genügen, einmal kurz an der Leine zu ziehen. So man denn genug Verstand hätte, Manöver wie jenes rund um Vaindloo aus der Sicht deutscher Interessen zu betrachten, denen mit einer Konfrontation mit Russland keinesfalls gedient ist. Aber die deutsche Politik hat sich längst viel zu tief in die Ukraine-Nummer verstrickt und mit der Deindustrialisierung viel zu viel Schaden angerichtet, um sich vom Kiewer Debakel verabschieden zu können.
Darum wird nicht nur brav alles geschluckt, ob polnische Klebebanddrohnen, estnische Fantasiegrenzen oder, damit es nicht langweilig wird, Drohnenflüge über Dänemark, man spielt auch bereitwillig mit, wenn zu der versuchten Blockade auch noch der angedrohte Abschuss kommt. Immerhin hat Estland, so die Süddeutsche Zeitung, in New York "Fotos der drei bewaffneten Jets vom Typ MiG-31" vorgelegt. Und Außenminister Margus Tsahkna setzte hinzu: "Russland lügt so, wie es zuvor wiederholt gelogen hat."
Auch mit dieser Geschichte wird es so gehen wie mit allen anderen zuvor. Im Abstand von einigen Tagen wird irgendeine Korrektur erscheinen, wie bei dem polnischen Dach, das dann doch einer polnischen Rakete zum Opfer fiel, aber die ursprüngliche Version wird dennoch stetig wiederholt, sobald es darum geht, das neueste Manöver in eine möglichst lange Liste russischer Bedrohungen zu stellen. Und solche wie Sikorski werden den Takt vorgeben und Drohungen ausstoßen, bis irgendwann beide große Nachbarn erklären, die beste Zukunft habe Polen, wenn es sich mit ihnen gut stelle.
Vaindloo, die unbewohnte Insel, ist 600 Meter lang und 200 Meter breit, und das Interessanteste an ihr ist ein 1871 errichteter Leuchtturm. Nichts, das es wert ist, darum einen Krieg zu beginnen, nur etwas, das genutzt werden kann, wenn man einen beginnen will. Wobei Sikorski sich im Falle eines Erfolgs dieser Bestrebungen bestimmt zu seiner Holden in die Staaten zurückziehen würde. Ja, diese ganzen Geschichten, die Drohnen und die Inselnummer, das kommt einem alles vor wie ein Sender Gleiwitz in Zeitlupe. Nur, dass sich der Ort der Handlung weiter nach Osten verschoben hat und die Regie derzeit eher polnisch ist als deutsch.
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