Europa

Warum die Balten an ihren verbliebenen Handelsbeziehungen zu Russland festhalten

Die baltischen Staaten haben sich geweigert, dem Beispiel Polens zu folgen, das kürzlich seine Grenze zu Weißrussland vollständig geschlossen hat. Die Balten sprechen ständig von der Gefahr, die angeblich von Russland und Weißrussland ausgeht – aber wenn es darum geht, sich vollständig von ihnen abzuschotten, tun sie es nicht.
Warum die Balten an ihren verbliebenen Handelsbeziehungen zu Russland festhalten© Sean Gallup/Getty Images

Von Stanislaw Leschtschenko

Die jüngsten russisch-weißrussischen Manöver "Sapad-2025" wurden von der Propaganda Litauens, Lettlands und Estlands als "Probe für einen Angriff auf das Baltikum" interpretiert. Die Behörden dieser Länder behaupten, dass sie "alle Sicherheitsmaßnahmen" ergreifen. In den Grenzgebieten Lettlands und Litauens wurden der Ausnahmezustand ausgerufen und zusätzliche Streitkräfte dorthin verlegt.

Die propagandistische Bearbeitung der Bevölkerung wird intensiviert. Riga ist besonders besorgt über die lettische Grenzregion Lettgallen – dort leben seit jeher viele russischsprachige Menschen, und sie galt schon immer als "unzuverlässig". In Kürze werden in den Briefkästen der Lettgallaner massenhaft Flugblätter mit Anweisungen verteilt, wie man sich "verteidigen" und in einer militärischen Krisensituation verhalten soll; ähnliche Materialien werden auch auf den größten lokalen Websites veröffentlicht. Die Titel der Flugblätter sprechen für sich: "Wir geben keinen Zentimeter preis", "Nicht nur mit Waffen: Verteidiger von Lettgallen", "Informiert und standhaft".

Die rechtsradikale "Nationale Vereinigung" hat im lettischen Parlament einen Gesetzentwurf zur vollständigen Schließung der Grenze zu Russland und Weißrussland eingebracht. Die Nazis fordern schon lange, die Ostgrenze für jeglichen Verkehr – sowohl für Transportmittel als auch für Personen – zu "versiegeln".

Die Partei erklärt, dass "Moskau mit dem Einsatz von Drohnen über dem Gebiet der NATO-Staaten die Reaktion des Bündnisses testet und die Verbündeten der Ukraine einschüchtert". Weiter betont sie, dass die Regierung verpflichtet sei, die Grenzen, die Bevölkerung und die nationale Sicherheit zu schützen, und dass daher die Grenze Lettlands zu den "Aggressor-Staaten" geschlossen werden müsse. Insbesondere haben die litauischen Aktivisten das Beispiel ihrer Nachbarn vor Augen: Polen hat unter dem Vorwand von Militärübungen die Grenze zu Russland und Weißrussland vollständig geschlossen.

In der Regel nimmt die lettische Regierungsmehrheit Gesetzesentwürfe mit Vorschlägen, wie man Russland noch einmal zusätzlich eins auswischen oder den russischsprachigen Einwohnern das Leben erschweren kann, mit Begeisterung an. Diesmal war alles aus irgendeinem Grund anders. Die Pressestelle des Parlaments erklärte, dass es derzeit keine Notwendigkeit gebe, die Grenze zu Weißrussland und Russland sofort vollständig zu schließen. Es wird darauf hingewiesen, dass die parlamentarische Kommission für nationale Sicherheit zu diesem Schluss gekommen sei. Außerdem wird betont, dass diese Frage auch im Nationalen Sicherheitsrat diskutiert wurde – und man dort zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen sei. Wie lässt sich diese Zurückhaltung erklären?

Die lettische Regierung möchte dies nicht öffentlich machen, aber das Land verdient immer noch viel Geld mit dem Handel mit Russland. Auch wenn der Umfang der Importe Lettlands aus Russland im letzten Jahr auf 395 Millionen Euro zurückgegangen ist und Russland nicht mehr zu den zehn größten Handelspartnern gehört, belaufen sich die Exporte aus Lettland nach Russland weiterhin auf Milliarden (mehr als eine Milliarde Euro im Jahr 2024).

Den Löwenanteil der aus Lettland in die Russische Föderation exportierten Waren im Jahr 2024 machten alkoholische Getränke (454 Millionen Euro) aus. Lettland gehört zu den drei größten Weinlieferanten nach Russland. Übrigens gehört auch Litauen (6,7 Millionen US-Dollar) zu den zehn größten Weinverkäufern auf dem russischen Markt.

Der Hauptlieferant von Alkohol aus Lettland nach Russland ist das Unternehmen Wellman Logistics, das einer estnischen Investmentgesellschaft gehört. Es liefert jedoch nicht nur Alkohol nach Russland. Insgesamt ist Wellman Logistics der größte lettische Exporteur nach Russland, der in den letzten zwei Jahren Waren im Wert von 146 Millionen US-Dollar versandt hat. Laut den russischen Zolldeklarationen liefert das Unternehmen französische, spanische und chilenische Weine, US-amerikanischen Whiskey sowie kabellose Kopfhörer, Kühlschränke und Geschirrspüler in die Russische Föderation. Im vergangenen Jahr lieferten verschiedene andere Unternehmen Textilien (für mehr als 161 Millionen Euro), pharmazeutische Produkte (für mehr als 66 Millionen Euro) und Kosmetik (für etwa 48 Millionen Euro) aus Lettland nach Russland.

Die lettische Handelskammer hat im vergangenen Jahr erklärt, dass sie fast die Hälfte ihrer Mitglieder wegen deren anhaltender Zusammenarbeit mit Russland aus ihren Reihen ausgeschlossen hat. Betroffen waren zehn von fünfundzwanzig Unternehmen. Viele Geschäftsleute sind jedoch bereit, die Verurteilungen hinzunehmen, nicht aber, den lukrativen Handel mit Russland einzustellen.

Laut dem lettischen Zentralamt für Statistik importierten im vergangenen Jahr 2,3 Prozent der Unternehmen im Land Waren aus Russland. 311 Unternehmen, sechs Prozent der Unternehmen in Lettland, exportierten Waren in die Russische Föderation. Allerdings kann man diesen Zahlen nicht trauen. Die meisten lettischen Unternehmen, die mit Russland Handel treiben, tricksen und gestalten die Dokumentation so, dass es den Anschein erweckt, als handele es sich um Geschäfte mit den Republiken Zentralasiens. Das lettische Portal Re:Baltica empört sich:

"Während Lettland der ukrainischen Armee hilft und unsere Nichtregierungsorganisationen Geld für alles sammeln, von Prothesen für Arme und Beine bis hin zu Winterbekleidung, sorgen lettische Exporteure dafür, dass die Menschen in Russland so leben können, als gäbe es keinen Krieg. Sie liefern Prosecco, Wein, Whisky und kabellose Kopfhörer. Geliefert werden auch Spitzenunterwäsche, Strickwaren und Reißverschlüsse … Schokolade, Parfüm und sogar etwas für die Produktion. Und die gewohnten Medikamente."

Zu diesen Lieferanten gehört laut baltischen Medien auch das Rigaer Elektromaschinenbau-Werk. Laut Angaben der russischen Zollbehörde hat das Unternehmen in den letzten zwei Jahren Waren im Wert von 55,8 Millionen US-Dollar in die Russische Föderation exportiert. Auch die folgenden Unternehmen wurden in die Liste der Exporteure aufgenommen, die ins "Aggressor-Land" liefern: CW Technics (Metallverarbeitung und Schweißen), IMV Label (Herstellung von selbstklebenden Papierrollen), Chocolette Confectionary (Herstellung von Süßwaren), Millmix Agro (technologische Ausrüstung für die Futtermittelproduktion), Rotoweb (Verpackungsherstellung), das Rigaser Dieselmotorenwerk (RDKZ) (Dieselmotorenbau), iCotton (Ausrüstung für die Leichtindustrie und Parfümherstellung), Rikon (Herstellung von Hafen-Hebemaschinen), Arta-F (Herstellung von Nähzubehör), Lori RKF (Aromastoffe).

Die Position der lettischen Behörden zu diesem Thema ist zweideutig. Einerseits produzieren sie mit Aufrufen, keinen Handel mit Russland und Weißrussland zu betreiben, viel heiße Luft. Es sind jedoch keine strengen Einschränkungen geplant: Wenn ein bestimmter Warentyp nicht auf der Sanktionsliste steht, ist die Einfuhr nach Russland oder aus Russland nicht verboten.

Radikale Nationalisten fordern, "die Wirtschaft der Aggressor-Staaten nicht mehr zu unterstützen" und jegliche Beziehungen zu ihnen vollständig zu verbieten. Die Regierung hat jedoch eine universelle Antwort gefunden: Sie würde die gesamte Grenze zu Russland und Weißrussland, die Straßen und Eisenbahnen, ja gerne schließen, aber nur, wenn alle anderen EU- und NATO-Länder dasselbe tun. Lettland wird solche Maßnahmen nicht alleine ergreifen, da sie dann angeblich wenig effektiv wären.

Neben Lettland hat auch Estland sich geweigert, seine Grenzen zu Russland zu schließen. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde am 16. September von der Fraktion der rechten Partei "Vaterland" im Parlament vorgelegt. Dennoch gebe es laut Innenminister Igor Taro keinen Grund für solche Maßnahmen. Er erklärte, dass "die Grenzübergänge normal funktionieren und die Migration aus Russland nach Estland erheblich eingeschränkt ist". Darüber hinaus wurden laut Taro "verschiedene Maßnahmen ergriffen, einschließlich der Einführung einer vollständigen Zollkontrolle, was den Warenverkehr erheblich einschränkte". Taro betonte, dass "die Grenze sehr schnell geschlossen werden kann, wenn sich die Sicherheitslage ändert", was derzeit jedoch nicht notwendig sei.

Die Ursache für diese Position des Ministers ist in den Zahlen zu suchen: Estland exportierte in den Jahren 2023 und 2024 Waren im Wert von 1,18 Milliarden US-Dollar nach Russland und importierte Waren im Wert von 181 Millionen US-Dollar. In diesen Jahren lieferte Estland insbesondere Produkte und landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie verschiedene Elektrogeräte nach Russland. Die Indikatoren sinken zwar, bleiben aber immer noch solide.

Dabei hatten die estnischen Behörden sich mit der Bitte um Einstellung des Handels mit Russland an Lettland, Litauen, Polen und Finnland gewandt, konnten jedoch keinen Erfolg erzielen. Im September 2023 schlug die estnische Regierung der EU vor, ein vollständiges Handelsembargo in das 12. Paket der Anti-Russland-Sanktionen aufzunehmen, aber auch das war erfolglos. Das gewährt Tallinn in den Augen der nationalistisch gesinnten Öffentlichkeit einen Freibrief: Wenn die anderen Nachbarn, sogar Finnland, nicht auf den Handel mit Russland verzichten, warum sollte Estland das tun?

In Litauen wurde vor Kurzem vorgeschlagen, die beiden verbleibenden Grenzübergänge nach Weißrussland zu sperren, Vilnius lehnte diesen Schritt aber ab. Auch die litauischen Behörden verwenden ständig die Rhetorik, dass der Handel mit den "Aggressor-Ländern" beendet werden muss. Tatsächlich ist der litauische Export nach Russland im Jahr 2024 im Vergleich zum Jahr 2021 um 82,7 Prozent (auf 649,2 Millionen Euro) zurückgegangen, der Import sank um 95,2 Prozent (auf 218,3 Millionen Euro). Dafür importierte Litauen im Jahr 2024 Waren im Wert von 188,8 Millionen Euro aus Weißrussland und exportierte in das Land Waren im Wert von 1,11 Milliarden Euro.

Litauen hat kürzlich, ab Mai 2025, das Zollkooperationsabkommen mit Weißrussland aufgekündigt und es außer Kraft gesetzt, während Minsk ein Einfuhrverbot für bestimmte Waren aus Litauen bis April 2026 verlängerte. Dennoch wird der gegenseitige Handel bis heute fortgesetzt – und Vilnius ist offensichtlich nicht bereit, ihn durch einen vollständigen einseitigen Abbruch der Beziehungen zu zerstören.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 18. September 2025 auf der Website der Zeitung "Wsgljad" erschienen.

Stanislaw Leschtschenko ist Analyst bei der Zeitung "Wsgljad".

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