
Die Brigade Litauen – im Ernstfall unsichere Kantonisten?

Von Astrid Sigena
Die deutsche Botschaft in Vilnius griff am 22. Juli 2025 zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: In einem Facebook-Post ging sie auf in der litauischen Öffentlichkeit kursierende Zweifel ein, die im Land stationierten Deutschen würden im Fall eines russischen Angriffs rechtlich nicht in der Lage sein, militärisch einzugreifen. Die Botschaft versuchte, die verunsicherten Litauer nach Kräften zu beruhigen und verwies auf eine Antwort des Bundesministeriums der Verteidigung an die litauische öffentlich-rechtliche Medienanstalt LRT. Die Erklärung des deutschen Ministeriums lasse keinen Zweifel daran, "dass Deutschland für Litauen einstehen" werde.
Auslöser der Unruhe in dem baltischen Land war ein Artikel der deutschen Tageszeitung Die Welt vom 16.07.2025, der sich mit der "heiklen Frage, was Bundeswehr-Soldaten im Fall eines russischen Angriffs dürfen" befasste. Es herrsche Unklarheit bei der Frage, zu welchen Reaktionen die dort stationierten Bundeswehr-Soldaten befugt wären, falls Russland die NATO im Baltikum angreife.

Der Verteidigungsausschuss des Bundestages halte nämlich die Rechtslage rund um die Brigade Litauen für ungeklärt, speziell deren Befugnisse im Falle eines russischen Angriffs, so Die Welt. Deshalb hätten die Parlamentarier im Juni einen Bericht der Bundesregierung zu dieser Frage angefordert.
Die Antwort der Bundesregierung ist denkbar uneindeutig ausgefallen: Zwar könne die Bundesregierung in diesem Fall "zur Erfüllung der Bündnispflichten Deutschlands aus Artikel 5 NATO-Vertrag oder Artikel 47 EU-Vertrag der deutschen Brigade in Litauen einen militärischen Kampfauftrag zur Abwehr des Angriffs erteilen", dabei müsse man allerdings das "Verfassungsrecht sowie die Maßgaben des Parlamentsbeteiligungsgesetzes achten".
Konkret heißt das: Der Bundestag muss um Erlaubnis gefragt werden, bevor deutsche Soldaten in den Kampf ziehen können. Zwar kann die Bundesregierung, so die Auskunft des Verteidigungsministeriums, "ausnahmsweise – bei Gefahr im Verzug – vorläufig den Einsatz bewaffneter Streitkräfte beschließen, damit die Wehr- und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland durch den Parlamentsvorbehalt nicht infrage gestellt werden". Im Klartext: Zumindest im Nachhinein muss der Bundestag um Erlaubnis gefragt werden. Ob die Bundesregierung vor einem Kampfeinsatz der Brigade Litauen das Parlament abstimmen ließe, lässt sie offen.
Noch Ende Mai 2025, bei der Indienststellung der Brigade Litauen, hatten die Äußerungen deutscher Vertreter noch viel ermutigender in den Ohren der russophoben baltischen Eliten geklungen: Damals hatte Bundeskanzler Friedrich Merz bei seinem Besuch in Vilnius getönt:
"Sie können sich auf uns, Sie können sich auf Deutschland verlassen."
Deutschland werde die NATO-Ostflanke "gegen jede Aggression verteidigen". Die Sicherheit der baltischen Verbündeten sei auch Deutschlands Sicherheit. Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius versicherte:
"Deutschland nimmt seine Verantwortung ernst. Wir stehen zu unserem Wort und wir stehen zu unseren Freunden – immer."
Falko Droßmann, der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, verstieg sich sogar zu der Aussage:
"Ein Angriff auf Litauen wäre ein Angriff auf uns. Dann sind wir im Krieg."
Kraftvolle Worte. Aber was zählen sie angesichts des deutschen Parlamentsvorbehalts? Der Wissenschaftliche Dienst (Aktenzeichen WD 2 – 3000 – 026/25) ist sogar der Ansicht, der Bundestag müsse auf jeden Fall befragt werden – sei es mit kurzfristiger Einberufung oder (bei Gefahr im Verzug) auch nachträglich. Der Bundestag müsse gerade auch bei Auslandseinsätzen zur Bündnisverteidigung sein Mandat erteilen. Besonders schwierig sieht der Wissenschaftliche Dienst die verfassungsrechtliche Begründung eines deutschen Militäreinsatzes im Baltikum, sollte der NATO-Bündnisfall nicht ausgerufen werden.
Der Sender LRT befragte zu dieser Problematik alle Fraktionen im Deutschen Bundestag. Während die Stellungnahmen der Vertreter der etablierten Parteien im Rahmen der erwartbaren Denkverbote blieben (man dürfe nicht auf russische Propaganda hereinfallen, die Misstrauen unter den Verbündeten säen wolle; die Litauer sollten sich einfach auf die Deutschen verlassen), ist die Aussage von Rüdiger Lucassen, dem verteidigungspolitischen Sprecher der AfD, hochinteressant. Immerhin war Lucassen selbst früher Berufssoldat und in NATO-Arbeitskreisen tätig, er kennt sich also in dem Gebiet aus.
Die Rechtslage der deutschen Soldaten im Baltikum sei unklar, so Lucassen. Insbesondere sei dies der Fall, wenn Russland zwar einen baltischen Staat angreife, die dort stationierten Bundeswehrtruppen jedoch unbehelligt lasse. Es sei ungewiss, wann der dortige Bundeswehrkommandeur den Befehl zum Eingreifen gegen die russischen Truppen geben dürfe. Vor allem beim Ausbleiben des NATO-Bündnisfalles sei die rechtliche Lage heikel.
Lucassen scheint dabei keineswegs generell gegen einen deutschen Kampfeinsatz zu sein; ihm geht es vielmehr um die rechtliche Sicherstellung dieses Einsatzes. Bereits gegenüber der Welt hatte der Oberst a. D. der Bundeswehr die Regierung "dringend" dazu aufgefordert, "die Stationierung durch den Bundestag mandatieren zu lassen". Aber ob solch ein vorsorgliches Voraus-Mandat die verfassungsrechtlichen Bedenken lösen würde? Die Zusammensetzung des Bundestages könnte sich über die Jahre verändern oder die Abgeordneten könnten ihre Meinung ändern. Und ist es überhaupt sinnvoll, der Regierung einen Blankoscheck (der immerhin in den Krieg mit Russland führen könnte) in die Hand zu drücken?
Spielen wir das entsprechende Szenario nun einmal durch: Die Litauer melden einen russischen Angriff auf ihr Territorium. Die Frage bleibt, ob und wie im Ernstfall der jeweilige Bundeskanzler (womöglich Friedrich Merz) den Bundestag in die Entscheidungsfindung einbeziehen würde. Selbstverständlich könnte Merz auf die Dringlichkeit des militärischen Geschehens pochen und versuchen, die Bundeswehr ohne Zustimmung des Bundestages zu aktivieren. Mit dem Risiko, dass der Bundestag dem militärischen Unterfangen im Nachhinein seine Zustimmung versagen könnte. Dann könnte Deutschland jedoch schon so weit in die Gewaltspirale hineingeraten sein, dass das längst keine Rolle mehr spielt.
Eine Entscheidung des Kanzlers am Bundestag vorbei könnte zu Schwierigkeiten führen, wenn es der Friedensbewegung gelänge, das Volk zu eiligen Massendemonstrationen zu bewegen. Zehntausende Menschen vor dem Kanzleramt könnten die Regierung durchaus unter Druck setzen. Auch zahlreiche Anrufe besorgter Bürger bei den an den Rand gedrängten Parlamentariern könnten zumindest einige davon veranlassen, doch einen Eilantrag auf Befassung des Bundestages beim Bundesverfassungsgericht anzustrengen. Je nachdem, wie das Bundesverfassungsgericht besetzt ist, könnte es für den Kanzler heikel werden. Eine Regierung, die einen Kampfeinsatz in Litauen durchsetzen möchte, müsste auf jeden Fall verhindern, dass es den Friedenskräften gelingt, die Massen zu mobilisieren.
Noch riskanter wäre freilich eine dem Kampfeinsatz vorausgehende Befragung des Bundestages, denn diese würde höchstwahrscheinlich in namentlicher Abstimmung erfolgen. Und welcher Abgeordnete, der jetzt noch groß die "russische Gefahr" heraufbeschwört, möchte sich im Zweifelsfall mit seinem Namen für die zwangsläufig eintretenden Gefallenen verantwortlich zeichnen? Viele könnten da dann doch vor einer Bestätigung des Einsatzbefehls zurückschrecken.
Mit einem Unwillen gegenüber der voraussehbaren Kriegsführung gegen Russland wäre nicht nur vonseiten der AfD-Abgeordneten zu rechnen (und der des BSW, sollte diese Partei dann wieder im Bundestag vertreten sein); wahrscheinlich bekämen auch etliche Abgeordnete der Linken und der SPD bei diesem Vorhaben Bauchschmerzen. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Regierung im Falle eines Konflikts im Baltikum auf eine Befragung des Bundestages vor Beginn eines Bundeswehreinsatzes liebend gern verzichten würde.
Mit einem entsprechenden Automatismus hat auch schon im Jahr 2024 Gregor Rehm, der Friedensbeauftragte der pfälzischen Landeskirche, gerechnet: "Wenn Litauen angegriffen werden sollte und es ist eine deutsche Panzerbrigade vor Ort, dann wird sie sich unabhängig von Parlamentsbeschlüssen in Deutschland erst einmal selbst verteidigen – und dann sind wir im Krieg."
Die Frage wird sein: Wird es der Bundesregierung gelingen, diesen Automatismus durchzuziehen? Wird sich das deutsche Parlament so einfach entmündigen lassen? Werden die Deutschen weiter schweigen, wenn die Kriegsgefahr ganz konkret geworden ist?
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