Europa

Vermisstenzahlen des Roten Kreuzes lassen auf hohe ukrainische Verluste schließen

Die Delegation des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) in der Ukraine sprach jüngst von 400.000 Vermisstenanzeigen. Seitdem wird die Behauptung in den sozialen Medien verbreitet, 400.000 ukrainische Soldaten würden infolge ihres Einsatzes an der Front vermisst. Dem ist jedoch nicht so – dennoch geben die IKRK-Zahlen Aufschluss über die hohen ukrainischen Verluste.
Vermisstenzahlen des Roten Kreuzes lassen auf hohe ukrainische Verluste schließen© Screenshot Video IKRK

Von Achim Detjen

KIA, WIA, MIA. Hinter diesen Kürzeln verbirgt sich das Schicksal von zumeist Männern – und somit von deren Familien. Denn es handelt sich hierbei um Abkürzungen aus dem Militärjargon, die für "Killed in Action", Wounded in Action" und "Missing in Action" stehen – also für "Getötet im Einsatz", "Verwundet im Einsatz" und "Vermisst im Einsatz".  

Westliche Politiker, Experten und Medien behaupten stets, dass die russische Armee bei ihrem Vormarsch trotz deutlicher Waffenüberlegenheit "enorme Verluste" erleide, die sich laut einem jüngsten Bericht der Washington Post unter Berufung auf westliche Vertreter wie dem ehemaligen Leiter des britischen Joint Forces Command, Richard Barrons, auf 1.500 Soldaten täglich beliefen.

Vor einem halben Jahr behauptete etwa der deutsche Generalmajor Christian Freuding, dass die russische Armee "täglich deutlich über 1.500 Mann" verliere. Es ist offenkundig, dass es sich hierbei um Erzählungen aus dem Reich der Propaganda handelt. Solch hohe Verluste wären für die russische Armee nicht kompensierbar, und schon gar nicht könnte sie Reserven und neue Militärbezirke als Reaktion auf die NATO-Mitgliedschaft Finnlands aufbauen. 

Wie hoch die russischen – und ukrainischen Verluste – tatsächlich sind, bleibt weiterhin ein Geheimnis der beiden Kriegsparteien. Dass die ukrainischen Streitkräfte aber wohl deutlich höhere Verluste erleiden als ihr Gegner, darauf lässt ein Beitrag schließen, den die Delegation des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) in der Ukraine vor zwei Wochen auf ihrem Telegram-Kanal veröffentlichte, der erst jetzt die Runde in den sozialen Medien macht und daher größere Aufmerksamkeit erlangte.  

"Bis April 2025 haben wir 400.000 Anfragen von Familien erhalten, die nach ihren vermissten Angehörigen suchen. Viele von ihnen sind Mütter. Und heute, am Muttertag, sind unsere Gedanken bei ihnen", heißt es in dem Beitrag.

Der Post enthält ein Video einer ukrainischen Mutter, deren einziger Sohn nur eine handgeschriebene Nachricht zurückließ, als er 2022 in den Krieg zog und seitdem vermisst wird. "Mama, ich liebe dich!", mit diesen Worten schloss der junge Mann seine Nachricht ab – und seine Mutter hat sie sich auf ihren Arm tätowieren lassen. 

Der durch das Video gegebene Kontext und die Tatsache, dass dieser Beitrag von der IKRK-Abteilung in der Ukraine veröffentlicht wurde, ließen viele Nutzer in den sozialen Medien zu dem Schluss kommen, es würde sich bei der Meldung um 400.000 "MIA" handeln, also um vermisste ukrainische Soldaten. 

Deshalb sah sich das Rote Kreuz in der Ukraine am Freitag dazu veranlasst, in einem weiteren Post auf die "Fragen zu Statistiken im Zusammenhang mit unserer Arbeit" einzugehen, "die derzeit im Internet kursieren" – dieser Post wurde im Unterschied zum ursprünglichen Beitrag auch auf dem Telegram-Kanal der russischen Sektion des IKRK veröffentlicht. Darin wurde klargestellt, dass es sich bei den Suchanfragen nach Angehörigen um die Vermisstenmeldungen von "Familien auf beiden Seiten" handele, "die nach vermissten Angehörigen oder Angehörigen, zu denen der Kontakt abgebrochen ist, suchen". 

Die Zahl der "offenen Suchanfragen beider Seiten" beliefe sich im gleichen Zeitraum (bis April 2025) auf 116.000 – im Februar lag diese Zahl nach Angaben des IKRK "nur" bei 50.000 (und damit mehr als doppelt so hoch wie ein Jahr zuvor). Den sprunghaften Anstieg in den letzten Monaten erklärt die Organisation in einem Dokument, das auf dem Telegram-Kanal der russischen Sektion veröffentlicht wurde, mit "den verstärkten Bemühungen, auf unsere Arbeit aufmerksam zu machen, und der Änderung des Systems zur Zählung der Auskunftsersuchen".

Das Rote Kreuz verweist in diesem Zusammenhang auf seiner Webseite darauf, dass es um Familien gehe, "die keine Nachricht von ihren Angehörigen erhalten haben, weil diese entweder gefangen genommen oder verhaftet wurden, weil sie vermisst werden oder weil sie aus ihrer Heimat geflohen sind und den Kontakt verloren haben".

Das IKRK macht grundsätzlich keine Angaben darüber, ob es sich um Vermisste auf der ukrainischen oder russischen Seite handelt. Auch bei den rund 16.000 Kriegsgefangenen, über die das IKRK im Februar berichtete, wurde offengelassen, welcher Seite sie angehören. Diese Intransparenz ist äußerst fragwürdig und dient offenbar dem Versuch, das westliche Narrativ nicht zu untergraben, laut dem die Verluste der Russen deutlich höher ausfallen, als die der Ukrainer. 

Das Rote Kreuz befördert selbst dieses Narrativ, wenn es auf seiner Webseite die russischen Verluste (Tote und Verwundete) mit 700.000 und die der Ukrainer mit 400.000 beziffert  – unter Berufung auf das US-amerikanische Harvard Kennedy School’s Belfer Center for Science and International Affairs, das zu seinen Partnern Denkfabriken wie die RAND Corporation oder das Center for Strategic and International Studies zählt, die fest in den militärisch-industriellen Komplex der USA eingebettet sind. 

Dass sich die 116.000 offenen Suchanfragen in ihrer großen Mehrheit auf vermisste ukrainische Männer und somit Soldaten beziehen dürften, die an der Front gefallen sind, dafür sprechen mehrere Gründe. 

Da heutzutage so gut wie kein Mensch mehr ohne Handy herumläuft, dürften Angehörige, die zunächst den Kontakt untereinander verloren haben, "weil sie aus ihrer Heimat geflohen sind", diesen bald wieder aufgenommen haben. Gleiches gilt für Soldaten, die Fahnenflucht begangen haben. Auch sie dürften sich per Telefon oder Messenger-Diensten wie Telegram bald darauf bei Verwandten gemeldet haben. 

Dass es sich hierbei vor allem um ukrainische vermisste Soldaten und nicht um russische handelt, dafür spricht auch eine andere Statistik, und zwar die des Austauschs der Leichen der an der Front gefallenen Soldaten. 

Diese entwickelt sich immer mehr "zugunsten" – wenn man ein solches Wort in diesem traurigen Zusammenhang überhaupt bemühen will – der Russen. Bei den letzten drei Austauschen dieser Art übergaben die Russen jeweils 909 Leichname, die Ukrainer dagegen 34, 41 und 43. Bei den beiden vorherigen übergaben die Russen jeweils 757 Leichen, die Ukrainer 45 und 49. Ein Blick auf die Statistik zeigt, wie sehr sich das Verhältnis seit gut einem Jahr "zugunsten" der Russen entwickelt hat, mit steigender Tendenz. Insgesamt übergab Russland in den letzten zwei Jahren, also ab Mai 2023, 7.790 Leichen. Kiew übergab im selben Zeitraum 1.408 Leichen. 

Und auch der jüngst vollzogene größte Austausch von Kriegsgefangenen im Laufe des Konflikts, bei dem jeweils 1.000 Menschen freikamen, zeugt von dem Ungleichgewicht zuungunsten der Ukraine. Kiew hatte zuvor einen Austausch nach der Devise "Alle gegen Alle" gefordert. Moskau beharrte jedoch auf dem Prinzip "Eins gegen Eins".

Der Grund für Kiews Forderung liegt auf der Hand: Russland hält ein Vielfaches mehr an Soldaten gefangen als die Ukraine. Letztere hatte Schwierigkeiten, die eintausend Kriegsgefangenen überhaupt zusammenzubekommen – es waren lediglich 880 russische Soldaten, die zu ihren Familien zurückkehrten. Und deswegen befanden sich unter den Freigekommenen auch ukrainische Oppositionelle und russische Zivilisten, die aus der russischen Region Kursk verschleppt worden waren.  

Die Zahlen zeugen davon, dass im Gegensatz zur westlichen Darstellung die Verluste der Ukraine deutlich höher ausfallen als die der Russen – bei einem deutlich geringeren "Reservoir" an Männern, aus dem Kiew schöpfen kann. Nicht umsonst wird dort die Debatte um die Zwangsmobilisierung auch von Frauen bereits intensiv geführt. 

Kiew und seine Verbündeten drängen auf einen Waffenstillstand. Und dieser soll "bedingungslos" sein, es also währenddessen ermöglichen, weiter Soldaten zu rekrutieren und westliche Waffen zu erhalten. Auch das zeugt davon, dass die Ukraine unbedingt eine Verschnaufpause aufgrund der hohen Verluste braucht, die sie erleidet. Würden tatsächlich die Russen "täglich deutlich über 1.500 Mann" verlieren, wären sie selbst wahrscheinlich diejenigen, die nach einer Feuerpause verlangten.

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