
Italienischer Soziologe: "Die Ukraine hat alles verloren"

Von Elem Chintsky
Am vergangenen Wochenende veröffentlichte der italienische Soziologe Alessandro Orsini einen unmissverständlichen X-Post, den man unter der Aussage "Die Ukraine hat alles verloren" zusammenfassen könnte. Dieser war auch seine Antwort auf die wütende Reaktion, die auf seinen jüngsten Talkshow-Auftritt folgte. Aber um dem Gelehrten von der Luiss (Freie Internationale Universität für Soziale Studien in Rom) nichts in den Mund zu legen, sei er hier zitiert:
"Viele Leute verlieren in der Talkshow den Verstand, weil die Ukraine, wie ich es vorausgesagt habe, von Russland überrannt und zerstückelt werden wird. Die Ukraine wird ihre reichsten und strategisch wichtigsten Regionen verlieren. Die Ukraine wird der NATO nicht beitreten und mit ziemlicher Sicherheit auch nicht in die Europäische Union aufgenommen werden. Die Ukraine hat alle Ziele, für die sie gekämpft hat, verfehlt.
Die Ukraine hat alles verloren. Die Ukraine hat dafür gekämpft, umsonst zerstört zu werden. Hätte die Ukraine im März 2022 verhandelt, hätte sie nur die Autonomie für den Donbass und die Neutralität akzeptieren müssen. Heute wird sie vier Regionen aufgeben müssen, wenn alles gut geht, und sie wird auch halb entmilitarisiert sein und keine Sicherheitsgarantien haben."
Molte persone stanno perdendo la testa nel talk show perché l'Ucraina, come avevo previsto, è stata sopraffatta dalla Russia da cui sarà smembrata. L'Ucraina perderà le sue regioni più ricche e strategiche. L'Ucraina non entrerà nella Nato e, quasi certamente, non entrerà nemmeno…
— Alessandro Orsini (@orsiniufficiale) March 25, 2025

Orsini setzt seine Stellungnahme weiter fort, indem er die pure Irrationalität, Emotionalität und kognitive Dissonanz des italienischen Mainstreams aufzeigt, welche er zum Teil als "Hetzkampagne gegen seine Person" und allgemeine "Wahnvorstellungen" beschreibt, bevor er seinen Post mit folgenden Worten abschließt:
"Die Dinge haben sich so entwickelt, ohne dass ich etwas dafür kann. Hätte sich meine Politik als gemäßigter Italiener durchgesetzt, wäre die Ukraine heute sicher. Ich hatte gesagt, es würde schlecht ausgehen, aber man hat mir nicht geglaubt."
Damit gesellt sich der italienische Soziologe aus Rom zu anderen, unabhängig denkenden Experten, wie dem Chicagoer Politologen John Mearsheimer, dem US-Colonel und Militärstrategen Douglas Macgregor oder dem 2020 verstorbenen Stephen F. Cohen, der als auf Russland und die UdSSR spezialisierter Historiker und Russistikgelehrter schon 2014 vor einem vom Westen provozierten Krieg gegen Moskau warnte. Allesamt Intellektuelle, deren Äquivalente es im deutschen Diskurs nicht gibt.
Wo ist zum Beispiel derzeit Peter Sloterdijk? Noch im Sommer 2022 sprach der deutsche Philosoph gegenüber der Augsburger Allgemeinen bei Russlands Politik von "offenem Faschismus". Seine weitere Analyse besagte, dass "das postsowjetische Russland, das nie wirklich nicht-faschistisch war, seit einer Weile vor den Augen der Welt in einer unsäglichen Schande versinkt."
Außerdem kehrte er psychologisch den Entnazifizierungsanspruch Moskaus in der Ukraine als eine russische Projektion um – die Russen seien die eigentlichen Nazis, beziehungsweise Faschisten. Es gebe zwar "kräftiges Nationalbewusstsein" in der Ukraine, aber der behauptete "Rechtsextremismus" oder Banderismus dort sei eine Fiktion der russischen Propaganda, so Sloterdijk.
Dabei hatte der Denker noch im Jahr 2016 sich zusammen mit dem Schweizer Friedensforscher Daniele Ganser unter dem Sammeltitel "Europa im freien Fall: Orientierung in einem neuen Kalten Krieg" veröffentlichen lassen und schien in der Tragweite seiner damaligen Kritik am eigenen Kontinent bereits weit genug gekommen zu sein, um fortan gegen die NATO-Propaganda immun zu sein. Obwohl er andernorts zu ähnlicher Zeit durchaus beteuerte, dass es in der deutschen Berichterstattung zum Ukraine-Krieg "kaum noch Gegenstimmen" gebe und ihm dabei "sehr unwohl" zumute sei. Ganz ähnliche Aussagen traf Noam Chomsky, bevor er aus gesundheitlichen Gründen aufhören musste, sich zu weltpolitischen Themen öffentlich zu äußern.
Zwar ruft Sloterdijk nicht zur Aufrüstung gegen Russland mit Billionen an neuen Schulden auf, wie es der Professor für Politologie Herfried Münkler von der HU Berlin tut. Aber vollkommen unbeeindruckt davon zu sein, dass eine reale Gefahr für einen europäischen Krieg droht, da es ja "abschreckende Massenvernichtungswaffen" gebe, ist eher etwas, dass sich ein betagter, freier Denker noch im Jahr 2014 erlauben konnte – aber nicht mehr heute, oder zumindest Ende letzten Jahres.
So geht Sloterdijk auf vermeintlich zahlreiche "Grabredner" ein, die den Untergang des Abendlandes von Oswald Spengler heraufbeschwören. Demnach auch Intellektuelle wie Henryk M. Broder oder Michel Houellebecq, die laut dem deutschen Denker lediglich mit vermeintlich unbegründeten, abgeklärten "trüben Phantasien" über den Untergang Europas – wie ihn Spengler vor über einem Jahrhundert prominent umschrieb – hantieren.
Ist Sloterdijk also ein naiver Optimist, der immer bereit ist für etwas "Russophobie", während er gleichzeitig den Glauben in anderen erneuert, dass die historisch-kulturelle Unverwundbarkeit des neoliberalen Kontinents Europa unbeirrt weiter bestehen bleibt? Sofern er darum von den Medien gebeten wird? Dabei gibt Sloterdijk de facto zu, dass auch seine Analyse Europas auf einer selbst gewählten, subjektiv-selektiven Wirklichkeitskonstruktion basiert – einer eigenen Fantasie.
Bezüglich Herrn Orsini sei angemerkt, dass er für seine gemäßigte Analyse auch von der französischen Meinungsschmiede Le Monde der "russischen Kriegspropaganda" bezichtigt wurde. Die Mehrheit der akademischen Meinungsmacher der EU hat sich hingegen auf fiebriges Säbelrasseln und Kriegshetze eingestimmt. Es ist nachzuvollziehen, dass sich einige, unentschiedene öffentliche Intellektuelle (im Gegensatz zu Orsini) diese Art der internationalen Portfolio-Ergänzung ersparen wollen und somit auf dem europäischen Markt der Ideen im besten Fall in der feigen Grauzone verbleiben. Der russische Volksmund sagt dazu "ни рыба ни мясо" – zu Deutsch "weder Fisch noch Fleisch". Wahrheit und Fakten hin oder her.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit "RT DE" besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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