Anti-Russland-Projekt im Baltikum versinkt in Chaos und Finanzloch
Von Stanislaw Leschtschenko
Der Bau der Rail Baltica, einer Eisenbahnlinie, die die baltischen Staaten mit Westeuropa verbinden soll, als Verwirklichung des europäischen Traums der Balten, begann schon 2013. Die Bereitstellung von EU-Geldern für den Bau der Bahnlinie wurde von dem Esten Siim Kallas vorangetrieben, der einst EU-Verkehrskommissar war – er ist kein Geringerer als der Vater der ehemaligen estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas, die heute für die Außenpolitik der EU zuständig ist. Zunächst hoffte man auf eine Inbetriebnahme im Jahr 2020, dann im Jahr 2023, dann im Jahr 2026. Jetzt heißt es, das Projekt solle Ende 2030 fertig werden.
Von Anfang an äußerten Experten Zweifel an der wirtschaftlichen Sinnhaftigkeit einer solchen Schienenverbindung. Inzwischen wird aber immer offener zugegeben, dass der Zweck der Rail Baltica gar nicht der Personen- oder Gütertransport ist, sondern der schnelle Transport von NATO-Truppen ins Baltikum im Falle eines Konflikts mit Russland. Der Bau der Zugverbindung "könnte die Transportzeit von Militärfahrzeugen und -ausrüstung von einer Woche auf 24 Stunden verkürzen... Ohne sie wäre die Logistik viel komplizierter", räumt der Sprecher des Projekts, Priit Pruul, ein.
Die Kosten für die Strecke wurden ursprünglich auf 3,68 Milliarden Euro geschätzt. Im Jahr 2017 wurde der Betrag auf 5,79 Milliarden Euro erhöht. Im September 2023 wurde berichtet, dass die Kosten allein für den lettischen Teil des Projekts auf acht Milliarden Euro steigen könnten.
Was sind die Zwischenergebnisse der Milliardeninvestitionen? Die besten Ergebnisse wurden in Litauen erzielt, das dank Rail Baltica bereits 2015 mit Polen per Bahn verbunden wurde. Am schlimmsten ist die Situation in Lettland, wo infolge der schnellen, aber ungeordneten Aktivitäten eine Reihe unfertiger Objekte entstanden ist, die nicht zu einer funktionierenden Eisenbahnlinie ausgebaut werden können.
Im Juni 2024 berichtete das lettische Fernsehen, dass die Kosten für den lokalen Teil des Projekts auf 9,6 Milliarden Euro steigen könnten, wenn das gesamte Projekt umgesetzt würde. Wird es in Teile zerlegt und nur eine Strecke ohne die dazugehörige Infrastruktur gebaut, könnten sich die Kosten auf 6,4 Milliarden Euro belaufen. Die Prüfung ergab, dass das erforderliche Haushaltsdefizit für die Region 10 bis 19 Milliarden Euro erreichen könnte und dass das Projekt Jahre hinter dem Zeitplan liegt.
In der Zwischenzeit sieht der EU-Haushalt für das Rail-Baltica-Projekt bis 2028 "nur" neun Milliarden Euro für alle drei baltischen Staaten zusammen vor. Die Projektverantwortlichen schlugen daraufhin vor, einen Kredit aufzunehmen, um die Arbeiten abzuschließen und damit die Auslandsschulden des jeweiligen Landes zu erhöhen. Nach Schätzungen des lettischen Ministeriums für Kommunikation fehlen dem Land derzeit noch etwa vier Milliarden Euro für die Fertigstellung von Rail Baltica. Wie der Berater des Ministerpräsidenten, Ints Dālderis, warnte, könne das Land nicht mehr als eine Milliarde leihen.
Das lettische Parlament (Saeima) hat eine spezielle Untersuchungskommission einberufen, die im Sommer zu dem Schluss kam, dass die Einschaltung der Staatsanwaltschaft unabdingbar ist. Und natürlich stellte sich die Frage: Wie geht es mit der unvollendeten Strecke weiter? Wie der Leiter der Kommission, Andris Kulbergs, betont, wird selbst der Stopp des Projekts erhebliche Ausgaben erfordern. "Wenn nicht wenigstens für den Erhalt des bereits Gebauten Geld zur Verfügung gestellt wird, kann es in ein oder zwei Jahren zu Verlusten in Höhe von Hunderten von Millionen Euro kommen, die dann zwangsläufig aus dem Haushalt gedeckt werden müssen", warnte Kulbergs.
Die Arbeiten an dem im Bau befindlichen Bahnhof für die Rail Baltica in Riga können aus rein technischen Gründen nicht eingestellt werden. Die provisorische Mauer, die den Damm unter dem künftigen Bahnhof stützt, ist auf zweieinhalb Jahre ausgelegt – und diese Zeitspanne geht gerade zu Ende. Und auch die Stützen der künftigen Eisenbahnbrücke über die Daugava werden nicht umsonst stehen können. Am Flughafen Riga wiederum wird ein Eisenbahnterminal gebaut – millionenschwere Bauten sind dort bereits installiert worden. Sie können nicht einfach stehen bleiben, sondern werden ohne Erhaltungsmaßnahmen zusammenbrechen.
Kulbergs sprach eine in Lettland wohlbekannte Wahrheit aus – keiner der regierenden Politiker ist wirklich für irgendetwas verantwortlich. "Das ist das erste große Problem: Wir haben in Lettland keine einzige Person, die für das gesamte Rail-Baltica-Projekt verantwortlich ist", so der Politiker. "Wir sehen eine kollektive Verantwortungslosigkeit", betonte er.
Nun hat die Kulbergs-Kommission einen Bericht erstellt und veröffentlicht, in dem die Schuldigen für die derzeitige Situation bei Rail Baltica genannt werden. Die Liste umfasst eine ganze Reihe ehemaliger und aktueller hochrangiger lettischer Beamter, vom ehemaligen Premierminister des Landes bis hin zu Bahnmanagern.
In einer Dringlichkeitssitzung des Saeimas hielt Andris Kulbergs eine mehr als einstündige Rede. Wären die Details des Rail-Baltica-Projekts nicht von Anfang an geheim gehalten worden, wäre es nicht zu solchen Problemen gekommen. Er betonte: "Wir wären nicht einmal in die Nähe des finanziellen Lochs gekommen, in dem wir uns heute befinden."
Abgeordnete der Opposition schlugen vor, das Projekt ganz zu stoppen. "Diese Eisenbahnlinie in Estland betrifft fast 500.000 Einwohner. Auf der litauischen Seite betrifft sie eine Million Einwohner, die sie nutzen können werden.
In Lettland sind von dieser Strecke, die durch Sümpfe, Wälder und unbewohnte Gebiete führen soll, – man stelle sich das einmal vor! – 30.000 Einwohner betroffen", empörte sich der Abgeordnete Edmunds Zivtiņš. Der Abgeordnete Aleksandrs Kiršteins fügte hinzu, wenn Rail Baltica "von unseren Steuerzahlern aus deren eigener Tasche gebaut wird, dann sollte kein einziger Cent für dieses Projekt ausgegeben werden, denn ganz Europa ist mit Eisenbahnnetzen überlastet." Die Regierungskoalition ist jedoch nach wie vor der Meinung, dass wenn nicht sie, so doch wenigstens ihre Nachkommen mit der Rail Baltica nach Berlin fahren werden.
Eine weitere schmerzhafte Frage ist: Wenn man die Schuldigen gefunden hat, wie wird dann die Bestrafung aussehen? Die Staatsanwaltschaft hat auf der Grundlage der Ergebnisse der Kulbergs-Kommission ein Strafverfahren eingeleitet.
Kulbergs selbst steht dem jedoch sehr skeptisch gegenüber."Was ich von der Staatsanwaltschaft gehört habe, zeigt, dass wir eigentlich keinen Artikel haben, nach dem ein Politiker strafrechtlich verfolgt werden kann", erklärte der Leiter der Kommission. Und in der Tat ist es kaum vorstellbar, dass der ehemalige Premierminister und alle anderen genannten Staatsbeamten auf der Anklagebank landen.
Übrigens hat der berühmte lettische Theaterregisseur Alvis Hermanis neulich einen offenen Brief in den sozialen Netzwerken veröffentlicht. Hermanis schreibt, dass sich im Land ein System der negativen Auswahl von Politikern entwickelt habe, was den Staat in den Ruin treibe.
Zur Veranschaulichung gab Hermanis ein malerisches Beispiel. "Ein ehemaliges Mitglied des Saeimas verließ die Politik und suchte einen Job. Das war nicht einfach – obwohl er einmal Leiter zweier Ministerien gewesen war. Schließlich fand er eine Stelle in einem privaten Unternehmen. Doch die Besitzer fanden schnell heraus, dass dieser Mann nur gut reden konnte. In der Praxis konnte er nur als Türöffner eingesetzt werden – dank seines großen Bekanntenkreises. Aber wenn es darum ging, Geschäfte zu besprechen und Entscheidungen zu treffen, wurde er nie an den Tisch gebeten, das machte einfach keinen Sinn", schreibt Hermanis. Das sei eine typische Geschichte.
Außerdem, so der Regisseur, der sich auf seine Bekannten in diesem Umfeld beruft, hätten die lettischen Abgeordneten und Minister große Angst davor, aus der politischen Sphäre herauszufallen. Aus einem einfachen Grund – danach sei es sehr schwierig für sie, einen neuen Job zu finden.
"Es scheint, dass Lettlands Problem Nr. 1 darin besteht, dass wir versehentlich ein Auswahlsystem geschaffen haben, das dazu führt, dass speziell ausgewählte Personen, die am wenigsten dafür geeignet sind, in Führungspositionen landen. Menschen, die von Gott nicht mit den Fähigkeiten ausgestattet wurden, die richtigen Entscheidungen zu treffen", so der Regisseur abschließend.
Er sieht die Wurzel des Übels in der Tatsache, dass man nach lettischem Recht nur als Mitglied von Parteilisten gewählt werden kann. Hermanis fügt hinzu:
"Das Land geht langsam zu Grunde – demografisch, wirtschaftlich und ideologisch."
Er schlägt vor, ein System einzuführen, bei dem jeder Wahlkreis eine Person, nicht eine Partei, für das Parlament nominiert – und die Verantwortung auch auf bestimmte Personen übertragen wird.
Für dieses Schreiben gibt es eine Menge konkreter Beweise, die es untermauern. In der Tat ist Rail Baltica nur ein Beispiel für das Chaos und den Zerfall der lettischen Führung und Politik.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 23. Dezember 2024 auf der Webseite der Zeitung "Wsgljad" erschienen.
Stanislaw Leschtschenko ist ein Analyst bei der Zeitung Wsgljad.
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