Europa

Hat die Neue Zürcher Zeitung im Ukraine-Krieg "Kreide gefressen"?

Vor dem Hintergrund des immer wahrscheinlicher werdenden Wahlsiegs von Donald Trump kann man beobachten, wie die westliche "Qualitätsjournaille" begonnen hat, ihre Kriegshysterie gegen Russland graduell zurückzuschrauben. Das scheint auch bei der Schweizer "Neuen Züricher Zeitung" der Fall zu sein.
Hat die Neue Zürcher Zeitung im Ukraine-Krieg "Kreide gefressen"?Quelle: www.globallookpress.com © Robert Schmiegelt/Geisler-Fotopr

Von Rainer Rupp

Der streitbare französische Historiker Emmanuel Todd, geboren 1951, betont in dem NZZ-Interview vom 30. Oktober 2024, dass kein Weg an einem russischen Sieg in der Ukraine vorbeigeht. "Die Russen werden diesen Krieg gewinnen. Und im Westen stellt man sich blind", sagt er wörtlich. Dabei sei der Westen nicht einmal mehr in der Lage, einen richtigen Krieg zu führen. Im Gespräch prognostiziert er, dass Putin einen Regimewechsel in Kiew anstrebe. Er gehe jedoch nicht davon aus, dass Russland weitere Länder angreifen werde.

Im Jahr 1976 hatte Todd mit seinem Buch "La Chute finale" den Zusammenbruch der Sowjetunion vorhergesagt und damit für großes Aufsehen gesorgt. Seit der Jahrtausendwende macht er sich einen Namen als unkonventioneller Denker und Historiker, der mit Vorliebe gegen das Herdendenken im Mainstream argumentiert. Im Jahr 2002 schrieb er einen Nachruf auf die USA. Und vor wenigen Wochen ist unter dem Titel "Der Westen im Niedergang" sein neustes Werk erschienen. Darin verteidigt er Russlands militärische Sonderoperation in der Ukraine, die der Westen durch sein Handeln selbst provoziert habe. Das Interview im Original, geführt von Roman Bucheli, ist über diesen Link abrufbar.

Den westlichen Politikern und Medien wirft Todd im Kontext des Ukraine-Kriegs Realitätsverweigerung vor. Im Interview beleuchtet er nicht nur die Dynamiken des Krieges, sondern auch die westliche Sichtweise auf das Geschehen und deren mangelnden Bezug zur Realität. Todd argumentiert, dass die westlichen Führungskräfte weder die historischen noch die geopolitischen Entwicklungen in vollem Umfang erfassen und in ihrem eigenen Narrativ gefangen sind, das die Realität des Konflikts verzerrt. Nachfolgend habe ich die im Interview vorgebrachten wesentlichen Argumente des Historikers zusammengefasst.

Die "Orwellsche Methode" und ein irreführendes Narrativ

Wie verzerrt das westliche Narrativ rund um den Ukraine-Krieg macht Todd an dem sogenannten "Siegesplan" des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij deutlich. Das sei ein Musterbeispiel, einerseits für die Verleugnung der Realität und andererseits für die Anwendung der "Orwellschen Methode, die Realität komplett umzudeuten". Um dies zu untermauern, fügt er in dem Interview hinzu: "Die russische Armee ist auf dem Vormarsch. Man fragt sich also, wie viele Monate das Regime in Kiew sich noch halten kann. Die Russen werden diesen Krieg gewinnen." Für Todd steht fest, dass der westliche Optimismus über einen ukrainischen Sieg auf einem gefährlich vereinfachten Narrativ basiert, das die Komplexität des Krieges missachtet.

Der "defensive Angriffskrieg" Russlands

Ein zentrales Argument Todds ist die Einstufung des russischen Krieges als "defensiven Angriffskrieg". Er lehnt den Krieg zwar ab, betont jedoch, dass Russland sich durch das Vorgehen der NATO und der USA in der Ukraine bedroht fühlt. Seiner Ansicht nach hat der Westen durch die enge Zusammenarbeit mit der Ukraine und die faktische Eingliederung ihrer Streitkräfte in die NATO-Strukturen eine Situation geschaffen, in der Russland sich zu einem solchen "defensiven" Handeln gedrängt sah. Todd erklärt: "Die Ukraine wurde de facto in die NATO integriert. Konkret bedeutete das, dass die ukrainische Armee von den Amerikanern und Briten reorganisiert wurde." Der Historiker sieht darin ein geopolitisches Spiel, bei dem die Ukraine in eine militärische Allianz integriert wurde, ohne jedoch den Schutz der NATO-"Beistandspflicht" zu genießen.

Fehlendes historisches Bewusstsein des Westens

Todd vertritt die Ansicht, dass das fehlende historische Bewusstsein der westlichen Politiker und Denker ein entscheidender Grund für die Missverständnisse im Ukraine-Konflikt sei. Er kritisiert, dass viele westlichen Akteure Putin mit Stalin gleichsetzen und ihn somit automatisch als aggressiven Diktator einstufen. Todd bemängelt: "Im Westen will man nicht nüchtern über Putin und Russland nachdenken. Sie denken alles unter der Formel Putin gleich Stalin."

Der Historiker betont, dass Putins Vorgehen im Krieg keineswegs stalinistisch sei, da er seine Soldaten und die russische Bevölkerung schonen wolle und daher keine umfassende Mobilisierung anstrebe. Todd sieht die Handlungen Putins eher als Reaktion auf westliche Strategien und betont, dass die menschlichen Verluste eine Rolle in der Strategie des Kremls spielen. Seiner Meinung nach blendet der Westen diese Unterschiede aus und verweigert sich einer differenzierten Auseinandersetzung.

Die "liberale Oligarchie" des Westens versus die "autoritäre Demokratie" Russlands

Todd wirft der westlichen Gesellschaft vor, sich in eine "liberale Oligarchie" verwandelt zu haben, in der die politische Macht zunehmend von wenigen wohlhabenden Individuen kontrolliert wird. Er vergleicht dies mit dem russischen System, das er als "autoritäre Demokratie" bezeichnet. Diese Begrifflichkeiten sind bewusst provokativ, da sie die gängigen Kategorien von Demokratie und Autoritarismus infrage stellen.

Für den Historiker ist die "autoritäre Demokratie" Russlands eine Form der Regierung, in der die Mehrheit der Bevölkerung ihre Meinung durch Wahlen ausdrückt, jedoch die Minderheiten nicht geschützt werden. Der Westen hingegen habe seine demokratische Substanz verloren und sich zu einer Oligarchie entwickelt, in der die Bevölkerung fragmentiert und die arbeitende Bevölkerung verachtet werde. Todd spricht von einem "Pluralismus der Oligarchen" und nennt Beispiele wie Trump, Musk und Bezos, die durch ihr Vermögen direkt politischen Einfluss ausüben können.

Durch diesen Vergleich möchte Todd zeigen, dass der Westen eine ähnliche Form der Kontrolle durch die Eliten entwickelt habe, wie sie in Russland durch die Oligarchen während des Jelzin-Regimes ausgeübt wurde. Die Unterschiede zwischen beiden Systemen seien weniger klar, als allgemein angenommen werde. Auch hier wird deutlich, dass Todd die westliche Politik als überheblich und selbstbezogen kritisiert, weil sie das russische System verurteilt, ohne die eigenen Schwächen zu hinterfragen.

Die Rolle der Medien als „kriegstreibende Kraft“

Ein weiterer Aspekt, den Todd hervorhebt, ist die Rolle der westlichen Medien im Ukraine-Konflikt. Er kritisiert, dass sich der Journalismus von einer pluralistischen Institution zu einer Art "kriegstreibender Kraft" entwickelt habe. Er beschreibt diese Entwicklung als eine Abkehr vom "pluralistischen System" hin zu einem monolithischen Journalismus, der sich zunehmend einseitig darstellt und Kriegsstimmung, also Kriegspropaganda verbreite. Der Historiker äußert sich enttäuscht darüber, dass die westlichen Medien die Eskalation des Konflikts unterstützen und Krieg als legitimes Mittel der Auseinandersetzung normalisieren. "Der Journalismus trägt sehr stark zu der Unfähigkeit im Westen bei, den Ukraine-Krieg nüchtern zu betrachten", so Todd. Er sieht die Medienlandschaft des Westens als "eine kriegstreibende Kraft, die für die Menschheit nichts Gutes bedeutet".

Zusammenfassend fordert Todd in seinem Interview ein Umdenken und plädiert für eine realistischere Sichtweise des Westens auf die geopolitischen Kräfteverhältnisse. Er sieht im Ukraine-Krieg nicht nur eine Bedrohung durch die russische Invasion, sondern auch die Gefahr eines weiteren Abgleitens in eine zunehmend polarisierte und kriegsbereite Haltung im Westen.

Der Historiker schließt seine Analyse mit der Mahnung: Der Westen müsse seine eigene Rolle im Konflikt kritisch hinterfragen und die Realität, die er lange ausgeblendet hat, endlich zur Kenntnis nehmen. Nur so könne eine Eskalation und langfristige Konfrontation vermieden werden.

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